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# taz.de -- Neues Album von Hercules & Love Affair: Große Gesten mit Rückbesi…
> Das Dancefloorprojekt Hercules & Love Affair nähert sich im Album „In
> Amber“ der düsteren Seite von Disco via Gothic und Industrialsound.
Bild: Andy Butler widmet sich nun der düsteren Seite von Disco
Als Herkules, die Lichtgestalt der griechischen Mythologie, in einer seiner
Prüfungen seinen Geliebten Hylas an die Nymphen verlor, machte er sich auf
die Suche nach ihm, wurde aber nicht fündig. Diese Story steht auch am
Anfang von Hercules & Love Affair, dem Elektronikprojekt des US-Produzenten
Andy Butler.
Als Jugendlicher im Denver der 1980er flüchtete sich Butler vor einem
gewalttätigen Zuhause in die Sagenwelt des Altertums. In Herkules’ Suche
nach seinem Freund und Liebhaber fand er eine Figur, die er im richtigen
Leben vermisste: einen Mann, der bei aller Stärke auch Verletzlichkeit
zulassen kann.
Heute veröffentlicht der US-Künstler „In Amber“, ein mit Spannung
erwartetes neues Album seines Projekts Hercules & Love Affair – es ist sein
erstes Lebenszeichen seit 2017 und zugleich das Eingeständnis seiner
eigenen Verletzlichkeit. „Du hast den Krieg gewonnen, indem du die Waffen
niedergelegt hast“, singt er auf „You’ve Won this War“. Im Hintergrund
erklingen in Hall getränkte Pauken und ein Klavier, später setzt auch ein
Spinett ein. So viel Pathos muss sein.
## Um Vergebung und Verzeihung bitten
Denn „In Amber“ ist ein Album der großen Gesten: Gesten, mit denen Butler
um Vergebung und Verzeihung bittet, und Gesten, mit denen er sich gegen die
Zumutungen der Gegenwart wehrt. So viel Direktheit ist ungewohnt für
Hercules & Love Affair.
In den späten nuller Jahren erträumte Butlers Projekt eine delikate
Dancefloor-Musik, die der Opulenz und dem Glam von Disco huldigte: der
Traum eines Musikers, der mit 15 Jahren das erste Mal in queeren Clubs als
DJ auflegte, und hinter den Plattentellern zu sich selbst gefunden hat. Als
Hercules & Love Affair erzählte Butler Gegengeschichte voller
Glücksmomente. In seinen Songs schien eine Welt auf, in der schwuler
Hedonismus niemals von AIDS niedergerungen wurde und in der queere
Indie-Künstler:innen Platz an der Seite von Disco-Queens nehmen konnten.
Die Kehrseite dieses Fiebertraums waren Butlers körperliches
Zusammenbrüche, ausgelöst durch Alkohol und Drogen. Hinzu kam der
jahrelange Gebrauch des Neuroleptikums „Xanax“, mit dem der Künstler die
Ängste bekämpfte, die sein Aufwachsen als queeres Kid im Westen der USA mit
sich gebracht hat.
## Probleme durch Sucht
Seit mehr als fünf Jahren ist Butler clean, aber durch seine Sucht hatte er
zuvor viele der Menschen von sich entfremdet, die Teil des Projekts
Hercules & Love Affair waren: Menschen wie die Sängerin [1][Anohni].
Sie ist die Stimme von „Blind“, dem ersten Hit von Hercules & Love Affair.
Über einem Disco-Beat singt sie vom Wunsch eines schwulen Jungen, es aus
der Provinz in die Großstadt zu schaffen – eine queere
Coming-of-Age-Geschichte, es ist Butlers eigene. Auf „In Amber“ ist Anohnis
Stimme nun wieder zu hören. Eine E-Mail war der Grund der Wiederannäherung,
Anohni hat diese selbst an Butler geschickt.
In der Zwischenzeit hatte sie ihre eigene Geschichte der Selbstfindung
erzählt. Früher war sie die Leadsängerin von Antony & The Johnsons. In
deren Klavierballaden spielte sie mit den Codes von queer-burleskem
Songwriting und des campen Kunst-New-Yorks der 1960er Jahre. Ihre Songs
waren die Performance einer Identität, deren Positionierung an sie
herangetragen wurde: das Zeugnis einer Innerlichkeit, die nur im Modus der
Ironie zu sich finden konnte.
## Wütende Anklagen
2016 machte Ahohni dann öffentlich, dass sie transident ist. Und damit
änderte sich auch ihre Sprache. Das Klavier machte Platz für pompöse
Synthesizer-Collagen, die verklausuliert-ironischen Texte wichen wütenden
Anklagen, etwa gegen die Klimakatastrophe.
Ahnonis Stimme klagt auch auf „In Amber“ an. In campem Falsetto schmettert
sie auf „Poisonous Storytelling“, wie die US-Ideologie des „Manifest
destiny“ (also der Glaube an den US-amerikanischen Exzeptionalismus) zu
Ungleichheit und Umweltzerstörung geführt hat und macht daraus eine Absage
an alle großen Erzählungen – ein paradoxes Narrativ, das dafür umso
eindringlicher vorgetragen wird.
Über verzerrte Gitarren singt Ahnoni an anderer Stelle: „No more Christian
prayer“. In ihrem Abwehrkampf gegen die Liberalisierung der US-Gesellschaft
haben religiöse Fundamentalisten und ihr parlamentarischer Arm, die
Republikaner, die Grundrechte von Frauen und LGBTIQ-Personen ins Visier
genommen. Er brauche keine Erlaubnis von irgendeiner Erscheinung, um er
selbst zu sein, singt auch Andy Butler auf „Grace“.
## Roe vs. Wade
In Interviews zum neuen Album spricht er über die Rücknahme der
juristischen Grundsatzentscheidung „Roe vs. Wade“ (welche Frauen das Recht
zugestand, über den Abbruch einer Schwangerschaft selbst zu entscheiden)
und erzählt, wie eine Jugendfreundin erschossen wurde: Es war ein gezielter
Femizid, der Täter hatte sie sogar in seinem Bekennerbrief erwähnt.
Religiöser Fanatismus, grassierende Gewalt, Homophobie – immer wieder wird
Butler in den Songthemen des neuen Albums von den schwelenden Konflikten
eingeholt, die schon seine Jugend bestimmt haben. Und seine musikalische
Reaktion darauf ist ebenfalls eine Rückkehr, eine Rückkehr zum Soundtrack
der 1980er, zu Gothic und Industrial.
Als Teenager ist er mit Make-up, schwarzem Mantel und Shakespeare-T-Shirt
in Goth-Clubs gegangen, weil er dort als schwuler Mann schlicht nicht
weiter auffiel. Und mit „In Amber“ nimmt Butler diese Phase seiner Jugend
als ein Kapitel in die große Gegengeschichte des Klangs auf, die er mit
Hercules & Love Affair seit seinen ersten Veröffentlichungen komponiert.
## Hypermaskuline Industrial-Beats
In der glamourösesten Disco-Phase des Projekts hat Mark Pistel die
Synthesizer programmiert, der in den frühen 1990er Jahren als Teil des
Industrial-HipHop-Projekts Consolidated puritanischen Straight Edge
gepredigt hat. Im [2][taz-Interview] hat Andy Butler vor einem Jahrzehnt
schon darauf hingewiesen, wie viel Gemeinsamkeiten der queere
Universalismus von Chicago-House mit den schroffen, hypermaskulinen
Industrial-Beats des Chicagoer Labels Wax Trax hat.
In der Welt von Hercules & Love Affair lösen sich vermeintliche
popkanonische Widersprüche einfach auf. Mit „In Amber“ holen Hercules &
Love Affair Goth und Industrial aus der Schmuddelecke für
weltschmerzgeplagte Teenager und schürfen so lange, bis sie ihre Kerne aus
Glam und Selbststilisierung freigelegt haben. „I want to take control of my
life“, singt Anohni, während im Hintergrund Bässe grollen und
Metallgeräusche einen tribalistischen Rhythmus formen.
Verantwortlich dafür ist der Drummer Budgie, der in den 80er Jahren etwa
mit den Slits und bei Siouxsie and the Banshees gespielt hat. Nun hat ihn
Butler für Hercules & Love Affair rekrutiert, wo der Brite seine Stilistik
zwischen hypnotischen Disco-Grooves und pathetischen Paukenschlägen
ausleben kann.
## Singen über Grenzerfahrungen
An prominenter Stelle huldigt Andy Butler auch einem Projekt, das er nicht
mehr selbst zum Musikmachen einladen konnte, weil seine Mitglieder bereits
gestorben sind: das britische Duo Coil. Mit Synthesizern, manipulierten
Field-Recordings und Orchestersamples haben die beiden Musiker über 25
Jahre die Grenzen von Esoterik, Psychedelia und schwulem Sex ausgelotet. Es
war eine Liebesgeschichte: Sänger John Balance sang von Grenzerfahrungen,
während sein Partner Peter Christopherson stundenlang im Studio
Soundcollagen arrangiert hat.
Auf „In Amber“ imitieren Hercules & Love Affair die intime Verstiegenheit
des Coil-Sounds und lassen sich zu einer ähnlichen Paardynamik hinreißen.
Andy Butler singt mit gedämpfter Stimme von der Anmut, zu seiner
Verletzlichkeit zu stehen, während Anohni jeweils den Gegenpart übernimmt.
„I break you with my nature, mouth and volcano one“, singt sie über Butlers
dreckige Synthesizerbässe und groovende Industrial-Beats, die nie so
glamourös geklungen haben wie in dieser Konstellation. Denn egal ob Disco
oder Goth: In den besten Clubs dürfen wir sein, wer wir sein wollen.
16 Jun 2022
## LINKS
[1] /Anohni-in-der-Elbphilharmonie/!5399744
[2] /Hercules--Love-Affair/!5080204
## AUTOREN
Christian Werthschulte
## TAGS
Dancefloor
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