# taz.de -- Neues Disco-Album: Hinein in die schwule Ideendisco | |
> Es gibt schwules Discoglück jenseits des "I Will Survive"-Gekreische: Das | |
> Debüt-Album des New Yorker Künstlers Hercules & Love Affair ist eine | |
> große Platte. | |
Bild: Ein Faible für die Antike?! | |
Für dieses Video hätte man gerne das Musikfernsehen zurück - das | |
Youtube-Fenster ist viel zu klein für so viel Opulenz. Eine junge Frau, auf | |
die sich wahrscheinlich Menschen aller Geschlechter und sexueller | |
Orientierung als kleinsten gemeinsamen Nenner in Sachen Hotness einigen | |
können, erhebt sich von der vulkanischen Erde, auf der sie geschlafen hat, | |
und läuft auf einen griechischen Tempel zu, wo halbnackte Menschen ihre | |
muskulösen Körper ausruhen, im Nebel tanzen und sich einer ausufernden | |
Orgie hingeben. | |
"Blind" heißt das Stück, Hercules & Love Affair der Künstler, und die | |
Stimme, die man da hört, wie sie von Blindheit und einer | |
Coming-out-Geschichte singt, erkennt man sofort als die von Antony Hegarty, | |
dem Sänger von Antony & the Johnsons. Es ist ein Videoclip, den man sich so | |
vorstellen kann, als würde Leni Riefenstahl in der Hölle, in der sie | |
zweifelsohne schmort, vom Himmel träumen. Der Olymp, gefilmt in | |
Matschbraun. Und die Musik ist Disco. Etwa auf dem Stand von 1979, kurz | |
bevor die Technik-Revolution der Achtziger begann, die Musiker aus der | |
Tanzmusik zu entfernen, und den Maschinen die Kontrolle über den Rhythmus | |
übergab. Warum ausgerechnet Disco, würde man Andrew Butler wohl fragen, wie | |
Hercules & Love Affair mit bürgerlichem Namen heißt. Warum diese am meisten | |
gesampelte Musik der Welt? Würde dieses Video die Frage nicht schon | |
beantworten. Butler lädt zur schwulen Ideendisco. | |
Über Butler selbst gibt es im Grunde nicht viel Interessantes zu erzählen. | |
Er ist 29 Jahre alt, lebt in New York, verdient sein Geld als House-DJ - | |
auch das äußerst geschichtsbewusst. Als er vor einigen Wochen in der | |
Berliner Panoramabar auflegte, spielte er ausschließlich Platten aus den | |
Jahren 1987 bis 1991. Und seine eigene natürlich. Seit Jahren bosselt er an | |
Hercules & Love Affair herum, einem Projekt, das für Konzerte zwar noch | |
mehr Mitglieder hat. Trotzdem ist Butler der Kopf des Ganzen. Und das | |
Debütalbum ist eine der aufregendsten Platten dieses Jahres. | |
Natürlich könnte man die Faszination, die Andrew Butler offenbar für die | |
Antike pflegt, als Privatspinnerei abtun, hätte die Idee der schwulen Disco | |
als Olymp nicht eine so lange Geschichte. Mel Cheren, der vor einigen | |
Monaten an den Folgen von Aids verstorbene Disco-Plattenmacher und | |
Betreiber der legendären New Yorker Diskothek Paradise Garage, erinnert | |
sich in seinen Memoiren einmal an ein ganz bestimmtes Gefühl, das ihn | |
beschlich, als er Mitte der Siebziger mit seinen Freunden auf Fire Island, | |
dem New York vorgelagerten Schwulenparadies, dem Morgengrauen | |
entgegentanzte. Seit den Tagen des antiken Griechenlands, schreibt Cheren, | |
habe es keine Zeit und keinen Ort mehr gegeben, die so viel schwules Glück | |
auf sich vereint hätten. Nie wieder seien seitdem Schönheit, Bildung und | |
reuefreier Exzess eine solch einzigartige Verbindung eingegangen. | |
Und Disco ist der Soundtrack zu diesem Glück. Es ist von Deutschland aus ja | |
manchmal schwer vorstellbar, aber es gibt ein schwules Discoglück jenseits | |
des "I Will Survive"-Gekreisches. Disco ist die Musik dieses Aufbruchs - | |
nicht nur, weil diese Community diese Musik hörte, sie machte sie auch. Die | |
New Yorker Gay Community war auf allen Ebenen in Disco involviert, vom | |
Management bis zur Produktion und den DJs, die die Platten dann in die | |
Klubs brachten. Es gibt noch andere Spuren - ein berühmter | |
Chicago-House-Produzent nannte sich etwa Adonis, ein anderer Hercules. Nie | |
hat es aber jemand zu einer solchen konzeptuellen Größe aufgepustet wie | |
Andrew Butler. "Athene" hat er eines seiner Sücke genannt (nach seiner | |
"Lieblingsgöttin", wie er in einem Interview sagte), und dann eben "Blind". | |
Nicht alle Stücke auf dem Album sind ähnlich direkt discofiziert, an die | |
Vergangenheit erinnern sie aber samt und sonders. Ideendisco kann man das | |
deshalb nennen, weil dies keine Musik ist, die aus der Erfahrung eines | |
großen und befreienden Exzesses heraus entstanden ist, und auch keine | |
Musik, die von der Trauer über das Ende dieses Exzesses handeln würde, von | |
den Toten, die zu begraben waren. Es ist eine Musik, die gar keine direkte | |
Verbindung zu den Siebzigern und frühen Achtzigern mehr hat. Der | |
Disco-Olymp von Hercules & Love Affair ist ein Traumort, ein Nostalgieraum. | |
Dazu passt die Stimme von Antony Hegarty, der mit seiner Gruppe Antony & | |
the Johnsons die Popwelt vor drei Jahren in helle Aufregung versetzt hatte, | |
als er sich der Melancholie schwuler Sehnsucht von einer ganz anderen Seite | |
genähert hatte. Akustisch und dahingehaucht waren diese Balladen, und sie | |
lebten von dem androgynen Klang einer Stimme, der man nicht nur kein | |
Geschlecht, sondern auch kein Alter zurechnen zu können glaubte. | |
Tatsächlich war "Blind", der große Hit von Hercules & Love Affair, damals | |
schon im Kasten. Vier Jahre ist das Stück alt, Butler und Hegarty sind seit | |
langer Zeit befreundet. Auf gut der Hälfte der Stücke des Albums singt | |
Hegarty, und erstaunlicherweise klingt seine Stimme über Andrew Butlers | |
Uptempo-Beats noch einmal einiges besser als über den langsamen Songs | |
seiner eigenen Platte. | |
Natürlich ist diese Musik tanzbar, sie triggert all die Schlüsselreize an, | |
die es braucht, um Körper zu bewegen. Ob in dem wunderbaren "You Belong", | |
das davon erzählt, seinen Liebhaber eine Nacht einem anderen zu überlassen, | |
und von seiner mächtigen Kevin-Saunderson-Bassline lebt, ob im "Hercules | |
Theme", einem brillanten Opener für jedes DJ-Set, oder in "You Will", das | |
das Kunststück fertigbringt, gleichzeitig alt und nach modernstem R&B zu | |
klingen. Aber sie ist mehr als das. Dies ist eine Musik, die ihren Ort | |
genauso im Schlafzimmer hat, im Kopf eines Träumers, der sich in eine | |
andere Zeit zu versetzen versucht. | |
"Hercules & Love Affair" erscheint bei der New Yorker Plattenfirma DFA | |
Records, die damit nun schon den dritten sensationellen Act herausbringt, | |
nach LCD Soundsystem, der Band von James Murphy, der DFA Records | |
mitbetreibt, und Hot Chip aus London, die in den USA ebenfalls bei DFA | |
erscheinen. Es ist zum einen ganz erstaunlich, wie diese Firma es geschafft | |
hat, einen ganz bestimmten an der New Yorker Popgeschichte orientierten | |
Sound zu entwickeln. Immer wieder anders und doch jederzeit erkennbar. Von | |
eher an Punkfunk orientierten Entwürfen bis hin zu House. | |
Zum anderen aber, und das ist im Grunde wichtiger als das popkulturelle | |
Referenzsystem, schafft es DFA immer wieder aufs Neue, | |
Außenseitersubjektivitäten zu entwickeln. Da gibt es James Murphy, der | |
seiner Figur des alternden Hipsters immer neue Facetten abgewinnen kann. Es | |
gibt Hot Chip, die Nerds, die freudig ihre eigene Weirdness umarmen. Und | |
nun gibt es Andrew Butler, alias Hercules & Love Affair, den schwulen | |
Träumer, wenn man so will. Der junge Mann, der sich in der Gegenwart nicht | |
wirklich wohlzufühlen scheint und stattdessen eine | |
Spätsiebzigervergangenheit zurückhaben möchte, die es natürlich so nie | |
gegeben hat. | |
17 Mar 2008 | |
## AUTOREN | |
Tobias Rapp | |
## TAGS | |
Dancefloor | |
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