# taz.de -- Demonstration in den USA: Marsch der Armen | |
> Tausende demonstrieren in Washington gegen Armut. In einem der reichsten | |
> Länder der Welt fehlt ihnen eine Lobby. | |
Bild: So divers sie sind, in einem sind die Demonstrierenden vereint: ihrem Kam… | |
[1][In den USA] sind 140 Millionen der 330 Millionen Menschen arm oder | |
Geringverdienende. Das sind 43 Prozent. In einem der reichsten Länder der | |
Welt. Und viele dieser Menschen sind einer Meinung: „Wir werden nicht | |
länger schweigen.“ So sagte es [2][Reverend William Barber] immer wieder in | |
seiner Rede, die er bei der Kundgebung beim March on Washington hielt, | |
einer Demonstration am Samstag in Washington, D. C. | |
Der afroamerikanische Bischof Barber ist Co-Vorsitzender der Poor People’s | |
Campaign (Arme-Menschen-Kampagne), der Veranstalterin der Demo. „Wir sind | |
nicht hier, um zu betteln, sondern um zu fordern. Was wir fordern, ist | |
nicht radikal, es ist schlicht richtig. Wir wollen diesen Zahlen, die die | |
Armut beziffern, ein Gesicht und eine Stimme geben.“ | |
Die Demo fand statt unter dem wenig griffigen Titel „Versammlung und | |
moralischer Marsch der Armen und Geringverdienenden auf Washington und zu | |
den Wahlurnen“. Aus dem ganzen Land reisten die Teilnehmer:innen dafür | |
an, viele von ihnen als Ortsverbände von religiösen und solchen | |
Vereinigungen, die sich für Demokratie und Soziales einsetzen. Zu Tausenden | |
versammelten sie sich im Herzen der US-Hauptstadt auf der Pennsylvania | |
Avenue, die auf das Kapitol zuführt. Etwa die Hälfte der Teilnehmenden | |
besteht aus Schwarzen Menschen und People of Color, die andere Hälfte aus | |
Weißen. Was sie verbindet, ist ihre Armut und ihr Wille, etwas dagegen zu | |
unternehmen. | |
## Die Scham | |
„Wir fordern, die Armut zu bekämpfen und nicht die Armen“, ruft Reverend | |
Liz Theoharis von der Bühne aus in die Menge, als sie ihre Rede hält. Die | |
Pastorin ist die zweite Co-Vorsitzende der Poor People’s Campaign. | |
Theoharis und Barber haben neben anderen prominenten Redner:innen | |
insbesondere viele von Armut Betroffene eingeladen, die auf der Bühne oft | |
sehr emotional ihre Geschichten von Verzicht, Verzweiflung und | |
verschiedenen Formen der Diskriminierung erzählen. Doch die Menschen, die | |
auf der Bühne sprechen, gehen sehr viel offener mit ihrer Armut um als die | |
Demonstrierenden auf der Straße. | |
Fragen zur eigenen Armut weichen diese überwiegend aus – verständlich, denn | |
es ist ein schambehaftetes Thema, über das man nicht gern mit Fremden | |
spricht. Und doch: Trotz des ernsten und bedrückenden Anlasses für die Demo | |
ist die Stimmung gelockert und beschwingt. Wenn bei der mehrstündigen | |
Kundgebung zwischendurch der Gospelchor singt, klatschen und tanzen viele | |
der Demonstrierenden zur Musik. Die, die nicht auf der abgesperrten Straße | |
vor der Bühne stehen, haben es sich auf den Grünflächen oder auf den Stufen | |
eines Denkmals am Straßenrand bequem gemacht. | |
## Löhne, Wahlrecht und LGBTIQ-Rechte | |
Eine von ihnen ist Mandy Carter, 73 Jahre alt, aus Durham im US-Bundesstaat | |
North Carolina. Ihr geht es insbesondere um höhere Löhne, das Wahlrecht, | |
das in republikanisch regierten Bundesstaaten ausgehöhlt wird, und außerdem | |
um Frauen- und LGBTQ-Rechte, denn sie ist Teil dieser Community. | |
Systemischer Rassismus sei laut der Afroamerikanerin zwar noch immer ein | |
Problem, doch seit Barack Obama Präsident der USA wurde, sei sie | |
zuversichtlich: „Auf einer Optimismusskala von null bis zehn bin ich eine | |
Zehn.“ | |
Carter nahm bereits 1968 an der Demonstration der Poor People’s Campaign | |
von [3][Martin Luther King] teil. Das war fünf Jahre nach dem weltbekannten | |
Marsch auf Washington, und kurz vor dem tödlichen Attentat auf den | |
Prediger. Wie damals geht es auch 2022 unter anderem um die schlechte | |
Einkommens- und Wohnungssituation. | |
Eine der prominenteren Rednerinnen ist Bernice King, die Tochter von Martin | |
Luther King. Wie ihr Vater ist sie Predigerin und Bürgerrechtsaktivistin. | |
„Auch 54 Jahre später hält die Armut die Seele dieser Nation gefangen“, | |
drückt Bernice King die Parallele zu damals aus. Sie sagt, Armut sei eine | |
Form der Gewalt, eine Verletzung der Würde und des Wertes der Menschen und | |
müsse beseitigt werden. | |
Während der Pandemie wuchs das Vermögen der US-Milliardäre um 62 Prozent | |
auf nunmehr 1,8 Billionen Dollar an (rund 1,7 Billionen Euro). Dagegen | |
beträgt der auf Bundesebene geltende Mindestlohn seit 2009 unverändert noch | |
immer nur 7,25 Dollar. Das sind 6,89 Euro. Bei einer Vollzeitstelle ergibt | |
dies ein Jahreseinkommen von umgerechnet 14.248 Euro – zu wenig, um die | |
hohen Lebenshaltungskosten in den USA zu bestreiten. Deshalb haben viele | |
Amerikaner:innen noch einen Zweit- oder Drittjob. | |
## Eine neue Arbeiterbewegung begehrt auf | |
Die Ursache für den hohen Anteil armer Menschen ist das neoliberale | |
Wirtschaftssystem der USA, zu dem maßgeblich Präsident Ronald Reagan in den | |
80er Jahren beigetragen hat. Sozialausgaben wurden stark gekürzt, Steuern | |
gesenkt, Gewerkschaften entmachtet und die Mär von der | |
Trickle-down-Ökonomie wurde verbreitet. Von der nimmt inzwischen sogar | |
US-Präsident Joe Biden Abstand. Trickle-down, das funktioniere nicht. | |
Seit Herbst 2021 begehrt in den USA eine neue Arbeiterbewegung gegen | |
niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen auf. „Doch der Arbeitskampf | |
erfährt auch neue Angriffe, denn die Arbeitgeber tun alles, was sie können, | |
um die gewerkschaftliche Organisierung ihrer Leute zu verhindern.“ Andrew | |
Mayton, 31, aus Baltimore, Maryland, ist Gewerkschafter. Der Kampf für die | |
Arbeitnehmerrechte ist nicht sein einziges Anliegen. Auf der Demo hält er | |
ein Schild, auf dem steht: „Ernährt die Menschen, nicht das Pentagon.“ | |
Statt das Verteidigungsbudget zu füllen, soll Armut bekämpft werden. | |
## Kampf der Korruption | |
Auch Lucian Stone sieht eines der größten Probleme in der Politik. Deswegen | |
hat der Restaurator aus Pittsfield, Massachusetts, am Schultergurt seines | |
Rucksacks eine US-Flagge befestigt – verkehrt herum. „Weil sich das Land in | |
einer Krise befindet.“ Konzerne würden Politiker:innen „kaufen“, sagt | |
er. „Es war einst illegal und nannte sich Bestechung“, doch durch das | |
Grundsatzurteil Citizens United von 2010 des Supreme Courts, des Obersten | |
Gerichtshofs der USA, wurden Geldspenden an Politiker:innen und | |
Parteien dereguliert. Für Stone ist eine der Konsequenzen klar: Die | |
Fossilbrennstoffindustrie spende an die Politiker:innen, die | |
dementsprechend nichts gegen den Klimawandel unternähmen, „es ist ein | |
Teufelskreis“. | |
„Die Menschen müssen das zum Hauptthema machen – nicht Rassismus, nicht | |
LGBTIQ-Rechte, nicht Einwanderung. Die rechten Medien erzählen uns, dies | |
seien die Probleme, aber damit lenken sie ab.“ Wählen allein würde nichts | |
bringen. Es bräuchte einen Generalstreik und es müssten endlich alle etwas | |
gegen den Klimawandel unternehmen. „Wir bekämpfen einander, anstatt uns um | |
die eigentlichen Probleme zu kümmern.“ | |
Im Gegensatz zu vielen anderen hat Stone kein Problem damit, seine eigene | |
Armutserfahrung offen anzusprechen, möglicherweise, weil sie inzwischen | |
hinter ihm liegt: „Ich habe in einem Truck gelebt, ich war bettelarm, ich | |
habe aus Mülleimern gegessen und ich schäme mich nicht dafür.“ | |
Die drohende Aufhebung des Abtreibungsrechts, der Untersuchungsausschuss | |
zum Sturm aufs Kapitol: Manch Relevantes, das aktuell in US- und | |
Auslandsmedien behandelt wird, ist bei dieser Demo von geringem Interesse. | |
Stattdessen geht es der Poor People’s Campaign vor allem darum, die armen | |
Menschen zum Wählen zu mobilisieren. Und dadurch dann die Politik der USA | |
zu verändern. Denn etwa ein Drittel der wahlberechtigten Menschen ist arm | |
oder einkommensschwach. In den wahlentscheidenden Battleground States sind | |
es sogar 45 Prozent. Würden sie alle wählen, könnten sie den Ausgang von | |
Wahlen entscheidend beeinflussen. | |
Die Recherche für diesen Artikel wurde ermöglicht durch die Unterstützung | |
des Transatlantic Media Fellowship der Heinrich-Böll-Stiftung, Washington, | |
D. C. | |
20 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Johanna Soll | |
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Elke Breitenbach | |
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