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# taz.de -- Anwältin über sexualisierte Gewalt: „Es geht um Aufzwingen von …
> In der Ukraine werden Frauen und Kinder von russischen Truppen
> vergewaltigt. Kateryna Busol spricht über sexualisierte Kriegsgewalt.
Bild: Nach Butscha: Demonstration gegen den russischen Angriffskrieg auf die Uk…
Triggerwarnung: Das Interview enthält drastische Schilderungen
sexualisierter Gewalt.
taz am wochenende: Frau Busol, Fälle von sexualisierter Kriegsgewalt durch
russische Soldaten in der Ukraine erregen derzeit internationales Aufsehen.
Worüber sprechen wir genau?
Kateryna Busol: Ich möchte zuerst sagen, dass es schon vor Februar 2022
sexualisierte Kriegsgewalt in der Ukraine gab. Seit 2014 zum Beispiel an
den Checkpoints zwischen den Gebieten, die durch die Regierung kontrolliert
wurden, und den abtrünnigen Gebieten – vor allem aber in illegalen Lagern
wie dem Isolazja in Donezk. Das ist ein früheres Kunstcenter, das zu einem
Arbeits- und Gefängnislager wurde. Dort wurden Menschen systematisch
gequält. Eine ukrainische NGO hat Aussagen von fast 200 Betroffenen
sexualisierter Kriegsgewalt seit 2014 protokolliert.
Diese Protokolle sind schwer auszuhalten. Männer und Frauen berichten von
Praktiken, bei denen Stacheldraht in Körperöffnungen eingeführt wurde oder
Beton eingefüllt, außerdem von Gruppenvergewaltigungen.
Die meisten Fälle vor 2022 betrafen Soldat:innen in Gefangenschaft oder
politisch aktive Zivilist:innen, darunter viele Männer, denen mit
Kastration gedroht wurde. Weibliche Soldatinnen mussten sich für
Leibesvisitationen ausziehen, nackt vor den Verhörern hocken, ohne zu
wissen, was kommt. Allein, dass es andersgeschlechtliche Verhörer waren,
ist ein Bruch der Genfer Konvention. Bei diesen Fällen war zwar häufig von
Folter die Rede, was ein etwas weiterer Begriff ist. An dieser Stelle aber
verschleiert er, worum es konkret geht: um sexualisierte Kriegsgewalt eben.
Sind die heutigen Fälle vergleichbar?
Die Muster und das Ausmaß der Fälle, wie wir sie jetzt aus den befreiten
Gebieten hören, sind neu. Wir hören von grauenhafter Gewalt gegen
Zivilist:innen, darunter sehr viele Mädchen und Frauen. Mit solchen
Fällen hatte ich in der Ukraine noch nie zu tun. Manche Kinder, die mit
Gegenständen vergewaltigt wurden, waren Berichten zufolge erst ein Jahr
alt. Drei Schwestern, neun Jahre alt, wurden vor den Augen ihrer Mutter
vergewaltigt, auch Frauen, die älter als siebzig Jahre sind, wurden vor
nahen Verwandten vergewaltigt. Wie viele Fälle es gibt, ist derzeit noch
völlig unklar – und selbst, wenn die Fälle einmal registriert sind, wird es
voraussichtlich eine hohe Dunkelziffer geben. Das Stigma ist nach wie vor
immens.
Ist es gut, dass derzeit so viel Aufmerksamkeit auf den Fällen liegt – um
das Stigma zu brechen?
Es ist gut, die Geschichten bekannt zu machen. Aber ich mache mir Sorgen,
ob das sensibel genug geschieht. Kommunikation kann Heilung sein, aber nur,
wenn die Überlebenden die Zeit bekommen, die sie brauchen. Deren
Kernbedürfnisse sind jetzt vor allem medizinische und psychologische Hilfe.
Es muss um Notfallverhütung gehen, oder darum, welche Hotlines helfen. Eine
Überlebende aus Charkiw, die nach mehreren Vergewaltigungen schwanger war,
sagte einer NGO: Ich brauche euer Blabla nicht, ich will meinen Bauch
zurück. Sie kommt aus einem kleinen Dorf, die nächste Möglichkeit für einen
Abbruch ist vielleicht 200 Kilometer weit weg. Sie muss aber innerhalb von
einem Tag hin- und zurückkommen, damit die Nachbarn nichts mitkriegen und
sie sich um ihre Kinder kümmern kann.
Ist Abtreibung in der Ukraine legal?
Ja, anders als etwa in Polen, wohin viele fliehen. Aber vor allem auf dem
Land ist das Thema noch immer heikel. Zudem haben viele Ärzt:innen die
Ukraine verlassen oder sind an der Front. Es braucht möglichst schnell
Gynäkolog:innen, die mobile Hilfe vor Ort leisten. Eine Betroffene
sagte zudem, dass Paarberatung gut wäre, weil viele es schwer finden, die
Intimität von Familie und Partnerschaft wieder zu leben. Und schließlich
braucht es Geld. Wenn die Häuser kaputt sind, wollen viele Überlebende
umsiedeln, eine neue Wohnung und Arbeit finden. Um wieder ins Leben
zurückzufinden, muss ihnen der Staat Sicherheit garantieren. All das wird
dauern.
Um eine Verurteilung der Täter geht es den Überlebenden gar nicht?
Juristische Gerechtigkeit ist wichtig für Überlebende. Ich befürworte eine
Wahrheitskommission für die Ukraine, die den Opfern Gehör verschafft. Sie
würde außerdem ermöglichen, ein breiteres Bild der russischen Aggression,
ihrer Voraussetzungen und Folgen zu zeichnen.
Sexualisierte Gewalt ist schon ohne Krieg schwer zu beweisen. Ist das im
Krieg noch schwerer?
Strafverfolger:innen sind daran gewöhnt, mit bestimmten Beweisen zu
arbeiten – im Fall von sexualisierter Gewalt zum Beispiel mit
medizinischen, die aber innerhalb von 72 Stunden erbracht sein müssen. Wie
soll das gehen, wenn eine Person in besetzten Gebieten lebt oder ein halbes
Jahr lang festgehalten wird? Danach braucht sie noch mal ein halbes Jahr,
um sich so weit zu stabilisieren, dass sie über die Geschehnisse sprechen
kann. Es braucht also eine Veränderung im Vorgehen von Akteur:innen und
Ermittler:innen: Sie müssen sich stärker auf Betroffene, Zeug:innen und
Open-Source-Material verlassen.
Aber wie identifiziert man die Täter inmitten der Kriegswirren?
Die Einheit, die in Butscha war, wurde zum Beispiel schon identifiziert –
nicht zuletzt, weil Putin sie ausgezeichnet hat. Allerdings ist sie schon
wieder unterwegs, soweit ich weiß, im Donbass. Wahrscheinlich wurden viele
Täter dort selbst getötet. Ansonsten gibt es im Idealfall Aussagen von
Zeug:innen, Fotos, Satellitenbilder. Es gibt Portale von NGOs und
Regierung, an die Zeug:innen oder Betroffene all das schicken können.
Wichtig ist, dass nicht nur die physischen Täter verurteilt werden. Sondern
auch diejenigen, die die Taten nicht verhindert oder sogar Befehle dazu
gegeben haben.
Worum geht es denjenigen, die sexualisierte Gewalt befehlen oder ausüben?
Um Macht und Unterdrückung. Sie pushen den Kreislauf von Gewalt und Schuld.
Nicht nur in der Ukraine wird sexualisierte Kriegsgewalt vor allem von
Gruppen von Männern begangen, die sich damit gegenseitig ihrer Männlichkeit
versichern. Es verbindet sie. Verändert hat sich seit Februar die Sprache
dabei.
Inwiefern?
Die russischen Soldaten drohen den Frauen zum Beispiel damit, dass sie sie
so lange vergewaltigen, bis sie nie wieder Lust auf Sex mit ukrainischen
Männern hätten und keine ukrainischen Kinder mehr zur Welt bringen würden.
Es geht um ein imperiales Aufzwingen von Macht, das den tiefsten
menschlichen Kern trifft, weil es ganze Familien ebenso wie die Ukraine als
solche zu Opfern macht. Und es entspricht Putins Rhetorik, die Ukraine sei
Fiktion. Es bedeutet: Ihr seid unser. Und wir machen mit euch, was wir
wollen.
Sie sagen, es gebe Hinweise auf eine mögliche Dimension von Völkermord.
Welche?
Völkermord ist das juristisch wahrscheinlich am schwersten zu beweisende
internationale Kriegsverbrechen. Eine besondere Absicht, etwa eine Nation
ganz oder teilweise auszulöschen, muss nachgewiesen werden. Diese Absicht
kann sich zum Beispiel durch Vergewaltigen, Töten oder Deportation zeigen –
also dadurch, dass es Menschen unmöglich gemacht wird, sich fortzupflanzen.
Das liegt in der Ukraine vor?
Politisch haben schon das ukrainische Parlament, das Parlament der
baltischen Staaten, das kanadische Parlament und andere gesagt, dass sie
die aktuellen Vorgänge für Völkermord halten.
Und juristisch?
Verschiedene Verbrechen könnten darauf hindeuten: die horrende
sexualisierte Gewalt in Butscha, Charkiw und anderen befreiten Gebieten.
Die Berichte aus Mariupol und anderen Gebieten über die Deportation von
Ukrainer:innen nach Russland. Die Tatsache, dass Russland die Adoption
für ukrainische Kinder erleichtert hat. Der US-amerikanische
Politikwissenschaftler Timothy Snyder hat über einen Artikel namens „What
Russia Must Do to Ukraine“ der russischen Staatsmedien [1][geschrieben],
dieser sei ein „Lehrbuch für einen Genozid“: Es geht um Arbeitslager und
territoriale Umstrukturierung. Eine genozidale Absicht ist juristisch also
zumindest möglich.
Wie kann das aufgearbeitet werden?
Von 1945 bis 2014 gab es auf ukrainischem Boden keinen Krieg. Nun geht es
letztlich um neue Formen von Gewalt, mit der Ermittler:innen,
Strafverfolger:innen und Richter:innen umgehen müssen. Das ist eine
Herausforderung. Laut der ukrainischen Generalstaatsanwältin soll es
demnächst sogenannte mobile Gerechtigkeitseinheiten geben, in denen
internationale und innerstaatliche, juristische und forensische
Expert:innen zusammenarbeiten. Diese Teams sollen die Schauplätze der
Kriegsverbrechen untersuchen und sensibel dokumentieren, was dort passiert
ist.
Die Analysen können dann vor Gericht verwendet werden?
Ja, wahrscheinlich zunächst für innerstaatliche Verfahren. Allerdings sind
schon jetzt viele internationale Akteur:innen involviert, zum Beispiel
Forensiker:innen aus Frankreich oder den Niederlanden, ebenso der
Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Auch andere ausländische
Gerichte können später beteiligt sein. In der Bundesrepublik wurde zum
Beispiel [2][das erste Urteil zum Genozid an den Jesid:innen]
gesprochen. Wichtig ist vor allem die Gerechtigkeit gegenüber den
Überlebenden. Dabei geht es nicht nur um das einzelne Urteil, sondern um
die historische Lehre, die wir – Ukrainer:innen, Russ:innen und andere –
aus diesen entsetzlichen Ereignissen ziehen. Daran werden uns künftige
Generationen messen.
19 Jun 2022
## LINKS
[1] https://www.nzz.ch/meinung/snyder-ein-russisches-handbuch-zum-voelkermord-i…
[2] /Urteil-zu-verdursteter-Jesidin/!5819379
## AUTOREN
Patricia Hecht
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