# taz.de -- Kämpfe in der Ostukraine: Die Einschläge kommen näher | |
> Die Stadt Slowjansk im Donbass liegt nur 15 Kilometer von der Front | |
> entfernt. Dennoch harren viele Bewohner weiter aus. | |
Bild: Unter Beschuss: ein beschädigtes Wohnhaus in Slowjansk am 31. Mai | |
SLOWJANSK taz | Der Krieg im [1][Donbass, einer Region im Osten der | |
Ukraine], wütet schon seit acht Jahren, doch solch intensive | |
Kampfhandlungen wie jetzt hat hier noch niemand gesehen. „Das, was sich | |
2014 zugetragen hat, ist ein Kinderspiel im Vergleich zu dem, was wir in | |
den vergangenen drei Monaten erlebt haben“, sagt Natalja, die ein großes | |
Fragment einer Rakete in den Händen hält. Die 60-Jährige steht im Hof ihres | |
Hauses. Es hat keine Fenster mehr, eine Druckwelle hat sie heraus gerissen, | |
als um fünf Uhr morgens eine Rakete direkt in das Haus ihrer Nachbarin auf | |
der gegenüberliegenden Straßenseite einschlug. | |
„Alle hatten Angst, alles erzitterte. Über unsere Köpfe sind schon oft | |
Granaten hinweg geflogen, aber so einen Einschlag gab es noch nie. Gott sei | |
dank ist heute niemand verletzt worden“, sagt Natalja mit Tränen in den | |
Augen. Sie lebt am Stadtrand von Slowjansk im Gebiet Donezk. Die Frontlinie | |
verläuft 15 Kilometer von hier. | |
Zum Zeitpunkt des Raketenangriffes hielten sich in allen Häusern rundherum | |
Menschen auf, nur das getroffene Haus stand leer. Der Besitzer und seine | |
Familie waren vor einigen Wochen evakuiert worden. Als sie Slowjansk | |
verließen, deponierten sie den Schlüssel in einem Blumenbeet in der Nähe | |
des Eingangs und sagten den Nachbarn, sie könnten in dem Haus Zuflucht | |
suchen, falls das nötig sein würde. | |
Jetzt ist von dem Haus nur noch eine Ruine geblieben, doch der Schlüssel | |
liegt immer noch in der Rabatte. | |
## Explosionen im Morgengrauen | |
„Das war das schönste Haus in der ganzen Straße, mit einem Zaun aus Stein, | |
einem großen Pavillon im Hof und vielen Blumen. Alle Nachbarn waren darin | |
verliebt“, erzählt die 70-jährige Nina Iwanowa, die im Nachbarhaus wohnt, | |
dessen Dach von der Explosion weggefegt wurde. Gerade sammelt sie die Reste | |
von zerbrochenen Fenstern auf, die in allen Räumen des Hauses verstreut | |
sind. | |
Auch ein Haus auf der anderen Seite der Einschlagsstelle hatten dessen | |
Bewohner vor einigen Wochen verlassen. Doch dann kam der Besitzer zurück, | |
um nach dem Rechten zu sehen und noch einige Sachen zu holen. Er blieb über | |
Nacht, um dann am nächsten Morgen zu seiner Familie zurückzukehren. Die | |
Explosion im Morgengrauen hat einen Teil des Hauses zerstört, der Mann | |
selbst wurde auf die Straße geschleudert. | |
Ein Stück vom Zaun des Nachbarn hängt noch in einem Baum ganz in der Nähe | |
dieses Hauses. Der Mann habe einen Schock erlitten, sei einfach irgendwohin | |
gelaufen, doch bis jetzt noch nicht wieder zurück gekommen, sagen die | |
Nachbarn. | |
„Wann wird das alles enden?“, fragt die 54-jährige Maria. Sie wohnt | |
ebenfalls in dieser Straße und hilft den Nachbarn, die gröbsten Schäden zu | |
beseitigen. Sie hatte Glück – nur das Tor ihrer Garage wurde bei dem | |
Angriff beschädigt. „Die Besatzer kommen immer näher, aber bald werden wir | |
sie vertreiben“, sagt die lebhafte Frau. Vor 30 Jahren ist sie aus Belarus | |
in die Ukraine gekommen. Und sie fügt hinzu: „Früher habe ich gedacht, dass | |
Alexander Lukaschenko ein normaler Präsident sei. Doch jetzt weiß ich, dass | |
ich mich geirrt habe. Er ist nicht besser als Putin.“ | |
Als ihr einfällt, dass wir an einem Ort sind, wo vor einigen Stunden | |
mehrere Häuser durch einen Raketenangriff beschädigt wurden, sagt sie | |
plötzlich: „Raten Sie mal, was ich in meinem Keller habe? Eine Flasche | |
Sekt. Ich habe sie dort abgestellt und mir immer gesagt, dass ich sie | |
öffnen werde, wenn der Tag des Sieges kommt. So sitze ich jetzt während der | |
Angriffe im Keller, sehe mir die Flasche an und denke an unseren Sieg.“ | |
## Schule getroffen | |
Bereits einen Tag zuvor hatte es früh morgens eine Explosion gegeben, | |
mehrere Menschen wurden getötet, ein Dutzend verletzt. | |
Beobachtungen von Einheimischen zufolge soll es sich um eine | |
Iskander-Rakete gehandelt haben. Deren Ziel war offensichtlich kein | |
militärisches Objekt, das gibt es hier gar nicht. Die Rakete zerstörte zwei | |
Gebäude einer Schule und mehrere nahe gelegene Wohnhäuser. Anwohner, | |
Schulbedienstete und Mitarbeiter der Stadtverwaltung sind immer noch damit | |
beschäftigt, den Schutt wegzuräumen. | |
Vor einem Hauseingang lädt ein junger Mann eine Waschmaschine, Stühle, eine | |
Garderobe und sogar einen Kristalllüster auf einen Anhänger, der die | |
Explosion heil überstanden hat. „Das ist alles, was noch übrig ist. Das | |
stelle ich jetzt bei einem Freund unter und warte auf bessere Zeiten“, sagt | |
er. | |
Auf die Frage, warum sie noch nicht evakuiert worden seien, lautet die | |
Antwort der Anwohner unisono: Sie wollten nicht [2][ins Ungewisse | |
aufbrechen]. Zu Hause sei es leichter, den Krieg zu überstehen, als in | |
einer Flüchtlingsunterkunft. „Ich verstehe, dass es hier bald genauso sein | |
wird wie in [3][Sewerodonezk] oder Mariupol, aber ich werde bis zuletzt | |
ausharren“, sagt der 73jährige Pjotr Iwanowitsch. Jetzt wird er seinem | |
Freund helfen, die zerbrochenen Fenster notdürftig mit Sperrholz zu | |
verkleiden. | |
Aus dem Russischen Barbara Oertel | |
2 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Anastasia Magasowa | |
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