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# taz.de -- Weißer Ring Hamburg fordert Reformen: Mehr Gehör für Verbrechens…
> Die Hilfsorganisation Weißer Ring Hamburg will, dass eine
> Opferberichterstattung verpflichtend wird. Die grüne Justizsenatorin
> ist dagegen.
Bild: Ein Ort, an dem es um Taten geht, die Leben beendet oder zerstört haben:…
Hamburg taz | Vor über zehn Jahren wurde Mel D. an der Hamburger
S-Bahn-Haltestelle Jungfernstieg ermordet. [1][Einfach erstochen], „weil er
zur falschen Zeit am falschen Ort war“, sagt Kristina Erichsen-Kruse. Sie
ist stellvertretende Vorsitzende der Hilfsorganisation Weißer Ring Hamburg
und hat im Prozess 2010 die Familie von D. begleitet. Der damals 16-jährige
Täter wurde wegen Totschlags zu sechs Jahren Jugendstrafe verurteilt.
Einen besonderen Einfluss auf das Urteil hatte nach Erichsen-Kruses
Ansicht ein Bericht der Eltern, der nach Einwilligung der
Staatsanwaltschaft verlesen wurde. Darin habe die Familie erklärt, was
diese „unüberwindbare Zäsur“ mit ihrem Leben und dem der verbliebenen
Geschwister gemacht habe. „Das war den Eltern wichtig. Und ein Gericht kann
nicht ignorieren, wenn eine Familie schreibt, ihnen sei das Herz aus dem
Leib gerissen worden.“
Verfasst haben die Eltern den Bericht eigenständig. Doch das muss nicht so
sein: Die Staatsanwaltschaft kann bei der Gerichtshilfe eine sogenannte
Opferberichterstattung in Auftrag geben. So steht es in Paragraf 26 des
Hamburgischen Resozialisierungs- und Opferhilfegesetzes. Die Gerichtshilfe
schreibt dann von Gewalt Betroffene oder ihre Angehörigen an. Sofern diese
das wollen, kann ein Opferbericht verfasst werden, der im Prozess von der
Staatsanwaltschaft verlesen wird.
„Es geht dabei um das Schicksal Betroffener“, erklärt Erichsen-Kruse.
„Darum, was zwischen der Tat und dem Prozess passiert ist, wie die Tat das
Leben beeinflusst hat.“ Der Bericht sei ein [2][Bild über den Zustand
Betroffener]. So könne Gericht, Verteidiger*innen und auch
Täter*innen noch einmal vor Augen geführt werden, „was sie da
angerichtet haben“.
## Es geht um Straftaten, die schwere Traumata auslösen
Eben weil so ein Bericht einen Einfluss auf ein Urteil habe, verstehe sie
auch, wenn Verteidiger*innen das nicht wollten. „Aber das ändert
nichts daran, dass die Berichte nötig sind. Ein Opfer kann sich vor Gericht
nicht so mitteilen, wie das in einem Opferbericht möglich ist.“
Es gehe primär darum, dieses Vorgehen bei schweren Straftaten zu
etablieren. Tötung, versuchte Tötung, Sexualstraftaten, gefährliche
Körperverletzung – „immer verbunden mit schweren Traumata“, so
Erichsen-Kruse. Diese Ereignisse seien „der absolute Supergau“ im Leben
Betroffener. Deswegen will der Weiße Ring aus der Option der
Staatsanwaltschaft eine Pflicht machen. In Hamburg werde das Instrument
sonst nicht genutzt. Ein Gespräch mit der Hamburger Justizsenatorin stehe
noch aus.
Die Behörde der Grünen Anna Gallina zeigt sich offen: „Wir stehen dem
Weißen Ring jederzeit für Gespräche zur Verfügung“, schreibt ihr Sprecher
Dennis Sulzmann. Ihnen liege viel an „Verbesserungen für
Kriminalitätsopfer“. Eine Verpflichtung der Staatsanwaltschaft, die
Gerichtshilfe mit Opferberichterstattungen zu beauftragen, hält er aber
nicht für sinnvoll.
Zum einen könne solch ein Bericht die normale Vernehmung als Zeug*in nicht
ersetzen. Zum anderen könne eine „obligatorische Anordnung durch eine
weitere staatliche Stelle“ für Betroffene „eine zusätzliche Belastung“
darstellen. Sulzmann ergänzt, dass auch die Möglichkeit der Opfer, als
Nebenkläger*innen aufzutreten, gewährleiste, dass ihre Sicht im
Prozess beachtet werde.
Die zusätzliche Belastung für Opfer fürchtet auch Lena Zagst,
justizpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion. Laut der Hamburger
Oberstaatsanwältin, Liddy Oechtering, könnten „wiederholte Befragungen“
sogar „den Beweiswert der Aussage negativ beeinflussen“.
Um ein Ersetzen der Zeug*innenaussage gehe es gar nicht, sagt
Erichsen-Kruse. Sondern vielmehr darum, dass die Aussage selbst nicht
ausreiche, um die Umstände im oft zerstörten Leben der Betroffenen
angemessen zu schildern. Und Opfer müssten bei dem Bericht natürlich auch
nicht mitmachen.
Der Weiße Ring hat noch eine weitere Forderung: einen Opferfonds, aus dem
Schmerzensgeld ausgezahlt werden kann. Für Jugendstrafverfahren gibt es das
bereits. Erwachsene Straftäter*innen müssen für Schmerzensgeld aber
selbst aufkommen – und können dies oft nicht, sagt Erichsen-Kruse. Die
Zahlung bleibe entsprechend aus. Zwar könnten Opfer einen 30 Jahre
haltenden Schuldtitel erwirken, müssten sich aber stetig selbst darum
kümmern. „Sie werden von den Behörden alleine gelassen.“
Die Staatsanwaltschaft, so die Idee des Weißen Rings, müsste dafür sorgen,
dass der Fonds gefüllt werde. „Eine mühsame Arbeit“, weiß die Vorsitzend…
Ein Weg könne sein, vom Lohn, den Verurteilte im Gefängnis für ihre Arbeit
erhalten, monatlich ein wenig abzuzweigen.
Die Justizbehörde weist in dem Zusammenhang auf eine Stiftung hin, die
erwachsenen Straffälligen ohne ausreichend Geld zinslose Darlehen gebe „zur
Wiedergutmachung der den Opfern/Geschädigten entstandenen materiellen und
immateriellen Schäden im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs“.
## CDU will Opferschutz in Bürgerschaft thematisieren
Laut Bundesjustizministerium ist [3][der Täter-Opfer-Ausgleich] ein
Instrument zur außergerichtlichen Konfliktbewältigung. Es gehe um
freiwillige Wiedergutmachung; bestenfalls profitierten Opfer und Täter von
der Konfrontation miteinander. Besonders für mittelschwere Taten, aber
durchaus auch für schwere Verbrechen sei er geeignet, so die Ansicht im
Ministerium. Dem schließt sich auch Staatsanwältin Oechtering an.
Erichsen-Kruse sieht das anders: der Täter-Opfer-Ausgleich sei für schwere
Straftaten nicht geeignet. „Die Opfer wollen oft nicht mit dem Täter
zusammenkommen.“
Die grüne justizpolitische Sprecherin Zagst hält die Debatte über einen
Opferfonds für Erwachsene für „grundsätzlich sinnvoll“. Die CDU hat bere…
2016 und 2018 solch einen Fonds gefordert, so Richard Seelmaecker,
justizpolitischer Fraktionssprecher. „SPD und Grüne haben damals beide
Initiativen abgelehnt. Auch eine von der Union unterstützte Initiative der
FDP zur Opferberichterstattung.“
## Linke sieht Nachholbedarf
In der nächsten Bürgerschaftssitzung werde die CDU-Fraktion einen Antrag
einbringen, der erneut auf die Stärkung der Opfer vor Gericht abzielt:
Unter anderem solle sich der Senat im Bundesrat dafür einsetzen, dass
Nebenklagen bei Verfahren gegen Jugendliche genauso möglich sind wie bei
solchen gegen Erwachsene. „An der Schutzbedürftigkeit des Opfers ändert
sich nichts, wenn der Täter Jugendlicher ist“, heißt es in dem Antrag.
Die Linksfraktion sieht im gesamten Bereich „erheblichen Nachholbedarf“, so
die verfassungsrechtliche Sprecherin Carola Ensslen. Neben den Forderungen
des Weißen Rings müsse die psychosoziale Prozessbegleitung ausgebaut
werden, bereits während der Ermittlungen. Bedarf für einen Fonds sieht die
Fraktion „für Opfer von sexualisierter Gewalt, sowie Opfer von
rassistischen, antisemitischen und anderen menschenfeindlichen Straftaten“.
1 Jun 2022
## LINKS
[1] /Jungfernstieg-Prozess/!5130741
[2] /Prozessauftakt-im-Fall-Maryam-H/!5835491
[3] https://www.bmj.de/DE/Themen/OpferschutzUndGewaltpraevention/TaeterOpferAus…
## AUTOREN
Alina Götz
## TAGS
Opferschutz
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Schwerpunkt Femizide
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