# taz.de -- Armutsdiskussion bei steigender Inflation: Ärmer heißt nicht arm | |
> Die Inflation liegt auf einem Rekordhoch. „Wir werden ärmer“, sagen nun | |
> Politiker*innen. Aber wer sind eigentlich „wir“? | |
Bild: Zu wenig Geld für eine Wassermelone: Solche Momente beschreiben Armutsbe… | |
Anfang der Woche [1][twitterte Luffy Lumen]: „#IchBinArmutsbetroffen hieß | |
für mich heute im Supermarkt zu stehen, die Preise zu sehen und fast zu | |
weinen. Eigentlich wollte ich heute endlich meinen Kindern den Wunsch nach | |
einer Wassermelone erfüllen, die sie seit Wochen haben wollen. Ich musste | |
sie wieder enttäuschen.“ Hinter dem Twitter-Handle verbirgt sich eine | |
31-jährige Mutter, die sich aktuell zur Pflegefachkraft ausbilden lässt und | |
ihren Lohn aufstocken muss, um zu überleben. | |
Sie ist eine von vielen armen Menschen, die seit gut einer Woche unter | |
#IchBinArmutsbetroffen Ausschnitte ihrer Lebensrealitäten teilen. Es gibt | |
Berichte darüber, wie es sich anfühlt, wenn ab Mitte des Monats nur noch 80 | |
Euro auf dem Konto sind oder wenn das Geld nicht mehr fürs Heizen reicht. | |
Die Menschen erzählen von unangenehmen Amtsbesuchen, von Stigmatisierung, | |
Scham und Ausgrenzung, die sie tagtäglich erfahren. | |
Laut Statistischem Bundesamt ist man dann arm, wenn man als Singlehaushalt | |
weniger als 1.074 Euro monatlich zur Verfügung hat. 16 Prozent der | |
Deutschen fallen unter diese Armutsgefährdungsschwelle, das sind mehr als | |
13 Millionen Menschen. Und diese Zahlen sind von 2019, also noch vor der | |
Pandemie und der starken Inflation, sie bilden nicht die gegenwärtige | |
Realität ab. | |
## Flucht in Wir-Zuschreibungen | |
In der gesellschaftlichen Wahrnehmung bleiben diese Menschen in der Regel | |
unsichtbar. In der Mehrheitswahrnehmung wird Armut als Beleg für | |
persönliches Versagen gelesen. Arme Menschen sind demnach entweder faul | |
oder Leistungsverweiger*innen. Kein Wunder also, dass viele Menschen | |
versuchen, ihre finanziellen Nöte zu vertuschen. Der Hashtag will nun ein | |
Zeichen setzen gegen diese Unsichtbarkeit. Er gibt trockenen Zahlen | |
Gesichter und Geschichten, die sich abgrenzen von den sonst häufig | |
verbreiteten Aufsteigererzählungen, die einem immer irgendwie vermitteln | |
wollen, es gebe doch eine Form der Chancengleichheit. | |
Armut in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verfestigt, | |
die soziale Mobilität schwindet. Heißt: Wer arm ist, bleibt arm, | |
statistisch gesehen. Dass dieser Zustand gewollt ist, zeigt die Politik. | |
Oder warum wird sonst zwanghaft an einem System festgehalten, das so vielen | |
Menschen kein würdiges Leben ermöglicht? Krisenbedingt verschlechtert sich | |
die finanzielle Lage momentan für viele, doch statt mit wirkmächtigen | |
Maßnahmen die Situation aufzufangen, verharren wir in einem Zustand, in dem | |
Tipps gegeben werden, wie Individuen mit der Teuerung umgehen sollen – und | |
viele Politiker*innen flüchten sich in unkonkrete Wir-Zuschreibungen. | |
In den vergangenen Wochen sagte Robert Habeck: „Wir werden ärmer“, | |
Christian Lindner: „Der Krieg macht uns alle ärmer“, und Friedrich Merz: | |
„Wir haben wahrscheinlich den Höhepunkt unseres Wohlstandes hinter uns.“ | |
Die Politiker*innen haben wohl mitbekommen, dass die Inflation | |
momentan die größte Sorge der deutschen Bevölkerung ist, noch vor der | |
Klimakrise, dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine und der Pandemie. | |
Das geht auch aus einer [2][repräsentativen Umfrage der | |
Unternehmensberatung McKinsey] hervor, die am vergangenen Montag | |
veröffentlicht wurde. | |
## Gesellschaft, die auf Ungleichheit beruht | |
Doch welches „Wir“ ist hier gemeint? In einer Gesellschaft, die auf | |
Ungleichheit beruht, kann es kein „Wir“ geben. Die Lebensrealität eines | |
Immobilienanwalts, der Zehntausende Euro Erspartes hat und die | |
Preissteigerung im Supermarkt nicht einmal bemerkt, hat nichts gemeinsam | |
mit jener der alleinerziehenden Mutter, die nicht weiß, wie sie ihren | |
Kindern noch täglich drei Mahlzeiten bezahlen soll. Die aktuelle Teuerung | |
von Energiekosten und Lebensmittelpreisen trifft uns eben nicht alle | |
gleich, Menschen mit niedrigen Löhnen, Sozialhilfeempfänger*innen, | |
Studierende, Rentner*innen und kinderreiche Familien sind von der | |
Inflation am stärksten betroffen. | |
Trotz allem dominieren in der medialen Berichterstattung Themen, die | |
diejenigen Menschen betreffen, die unter der Inflation am wenigsten leiden. | |
So veröffentlichte [3][Zeit Online diese Woche ein Q & A unter der | |
Überschrift: „Bin ich machtlos gegen die Inflation?“] Darin werden Fragen | |
verhandelt wie: Sollte ich jetzt Gold kaufen oder doch lieber eine | |
Immobilie? Und auch die Tagesschau lässt in einem Text Expert*innen zu | |
Wort kommen, [4][die als Gegenmittel zur Inflation zu Aktien- und | |
Immobilienkäufen raten]. | |
Im besten Fall kann eine Person, die nicht weiß, ob sie sich diesen Monat | |
noch genügend Toastbrot leisten kann, über solche Texte nur trocken lachen. | |
Eine berechtigtere Reaktion wäre ein Wutanfall. Denn wie kann es sein, dass | |
wir als Gesellschaft in der aktuellen Krise wieder die armen Menschen aus | |
dem Blick verlieren? Wie kann es sein, dass wir erneut nach individuellen | |
Lösungen für strukturelle Probleme suchen? | |
## Politisches Handeln statt Spartipps | |
Statt individueller Spar- und Anlegetipps – wie sie auch unter den Posts | |
von #IchbinArmutsbetroffen zuhauf zu lesen sind – braucht es schnelles | |
politisches Handeln. Ein Entlastungspaket hat die Ampelregierung auf den | |
Weg gebracht: Kinderbonus, erhöhte Pendlerpauschale, das 9-Euro-Ticket, | |
Anhebung von Freibeträgen und eine Energie-Einmalzahlung. Doch diese | |
Maßnahmen kommen nur bedingt bei den Menschen an, die sie benötigen. | |
Alleinerziehende und Rentner*innen hat die Inflation im Schnitt jetzt | |
schon mehr gekostet, als sie durch die Entlastung bekommen werden. Das geht | |
aus einer Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung | |
hervor, [5][über die zuerst die Süddeutsche Zeitung berichtete]. | |
Kurzfristig muss also jetzt Geld her. Und anstatt mit dem Gießkannenprinzip | |
zu kommen, sollte das Geld direkt bei den Menschen landen, die es am | |
nötigsten haben. Die sofortige Anhebung des Mindestlohns und der | |
Sozialhilfen wäre ein erster wichtiger Schritt. Langfristig müssen | |
Politiker*innen dafür sorgen, dass wir nicht mehr in einer | |
Wirtschaftsform leben, die systematisch soziale Ungleichheit fortschreibt, | |
sondern in einer, die auf echte Umverteilung setzt. | |
Dutzende Menschen haben Luffy Lumen mittlerweile angeboten, ihrer Familie | |
eine Wassermelone zu kaufen. Eine nette Geste, doch hoffentlich bewirkt | |
#IchBinArmutsbetroffen mehr als das. Im Bundestag sind die Tweets auf jeden | |
Fall schon angekommen, die Linken-Vorsitzende Janine Wissler hatte einige | |
in ihrer Rede vorgelesen. Jetzt wird es Zeit, an den Strukturen zu rütteln | |
und die Regierung unter Druck zu setzen, damit das Geld bei denen ankommt, | |
die es dringend brauchen. | |
21 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/LuffyLumen/status/1525571785118425090?s=20&t=y-31pK… | |
[2] https://www.mckinsey.de/news/presse/2022-05-16-consumer-sentiment-mai-2022 | |
[3] https://www.zeit.de/zustimmung?url=https%3A%2F%2Fwww.zeit.de%2Fwirtschaft%2… | |
[4] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/verbraucher/geldanlage-erspartes-zinse… | |
[5] https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/wirtschaft/inflation-wen-sie-a… | |
## AUTOREN | |
Carolina Schwarz | |
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