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# taz.de -- Taliban in Afghanistan: Totalitäre Amateure
> Die Taliban haben in Afghanistan einen neuen Burka-Erlass verhängt. Doch
> haben sie so mancherorts Probleme, die Unterdrückungsmaßnahmen
> umzusetzen.
Bild: Eine Gruppe Frauen wartet in Kabul auf Brot
Neun Monate, nachdem die Taliban die US/NATO-geführte Koalition zum zuletzt
chaotischen Abzug aus Afghanistan zwangen, versuchen sie mehr und mehr, die
afghanische Gesellschaft zu kontrollieren. Sie drehen die [1][zuvor teils
gut verankerte Teilhabe von Frauen am öffentlichen Leben].
Einem neuen Erlass zufolge müssen sich ab sofort alle Afghaninnen in der
Öffentlichkeit verschleiern, „am besten mit der Burka“. Auch andere Formen
des Hidschab, der „Verhüllung“, seien akzeptabel, solange sie
„intransparent und weit“ genug seien, um die „Konturen des Körpers“ zu
verbergen.
Der Erlass folgt auf die umstrittene Nichtwiedereröffnung der höheren
Mädchenschulen und andere Dekrete, die die Bewegungsfreiheit der weiblichen
Bevölkerung einschränken sollen. Das zeigt auch der eigentliche Kernsatz
des neuen Erlasses: „Nicht ohne Grund das Haus zu verlassen, ist die erste
und beste Methode, die schariagemäße Verhüllung zu beachten.“
Diese Gründe möchten selbstredend die Taliban bestimmen. Und wo sie liegen,
macht die schon geltende Alltagspraxis klar: Frauen dürfen noch in
ausgewählten Bereichen arbeiten, in denen man ohne sie einfach nicht
auskommt.
## Beginn der zweiten Taliban-Herrschaft
Das sind Kliniken, Schulen und Universitätsklassen für Studentinnen, aber
auch Zoll und Sicherheit am Flughafen sowie die Polizei (Frauen müssen ja
kontrolliert werden), zum Teil wohl Banken und
Nichtregierungsorganisationen (NRO) sowie Teile der Privatwirtschaft. Nun
aber eben vorschriftsmäßig verschleiert, nicht etwa nur mit Kopftuch, und
in Begleitung eines Mahram, eines männlichen Verwandten, auf dem
Arbeitsweg.
Die UNO sieht in dem Erlass eine neue Qualität. Erstmals handelte es sich
um „eine formale Direktive, nicht nur eine Empfehlung“, wie bei vorherigen
Anordnungen. Die UNO geht davon aus, dass sie „umgesetzt und durchgesetzt“
werden wird. Mit dem Erlass beginnt die zweite Taliban-Herrschaft, langsam
aber stetig zur bürokratisch-regulierten Diktatur zu gerinnen. So
jedenfalls die Intention der Taliban.
Einen solchen totalitären Anspruch umzusetzen, haben die Taliban während
ihrer ersten Herrschaft (1996-2001) schon einmal versucht. Sie scheiterten
aber an der Vielzahl von Ge- und Verboten. Man kam mit dem Kontrollieren
einfach nicht mehr hinterher. „Implementierungsermüdung“ nannten wir das
damals bei der UNO.
Solch eine Ermüdung zeigt sich auch jetzt schon wieder in der
Mädchenbildung: Mindestens drei norwegische und deutsche NGOs berichteten
in den letzten Tagen, dass sie in mehreren Provinzen auch Mädchenschulen
über Klasse 6 weiterbetreiben, und zwar mit Genehmigung des
Taliban-Bildungsministeriums. Das ist besser als gar nichts, aber eben auch
nicht mehr als ein paar Nischen.
## Niemand kann sicher sein
Ob auch das neue Dekret wirklich überall und immer um- und durchgesetzt
wird, kann man noch nicht sagen. Klar ist: Um die Positionen der Taliban zu
Kleidungsfragen wissend, besorgten sich viele afghanische Frauen, die sich
bisher lockerer gekleidet hatten, bereits unmittelbar nach der
Machtübernahme der Taliban Burkas. Anfang der Woche war aus Kabul zu hören,
dass sich zumindest in den von schiitischen Hasara bewohnten Stadtteilen
die jungen Frauen noch nicht an den neuen Erlass hielten.
Das ist gleichzeitig auch das Problem: Niemand in Afghanistan kann sich
sicher sein, wann und wo die jeweiligen örtlichen Taliban welches Dekret
umsetzen. Da die Ordnungshüter bewaffnet sind, sorgt das für ein Klima der
Unsicherheit und Angst.
Verschärft wird es durch andauernde Übergriffe und Festnahmen früherer
Polizei-, Armee- und Regierungsangehöriger, „verschwundene“
Aktivist:innen und unerklärte Leichenfunde, die den Taliban
zugeschrieben werden. Medienvertreter wurden festgenommen (und wieder
freigelassen), nachdem sie über das Taliban-Sendeverbot für türkische
Seifenopern berichtet hatten. Irgendwie scheinen die Taliban doch zu
verstehen, wie unpopulär viele ihrer Maßnahmen sind.
Mensch fragt sich, warum sie seit Wochen anscheinend alles tun, um die
öffentliche Meinung in der Welt und vor allem in den sogenannten
Geberländern zu verprellen, obwohl ihnen – und vor allem den von ihnen
weniger regierten als beherrschten Afghan:innen – ökonomisch das Wasser
bis zu Hals steht.
## Burka-Erlass gefährdet Hilfe für Hungersnot
Gerade berichtete das UN-Welternährungsprogramm, der Hunger in Afghanistan
habe „beispielloses“ Ausmaß erreicht. Dass die für den vergangenen Winter
befürchtete große Hungerkatastrophe ausblieb, ist eben jenen ausländischen
Gebern und Hilfsorganisationen zu verdanken, die wenigstens einige der von
US-Präsident Biden eingefrorenen afghanischen Auslandsguthaben loseisten.
Der für „Moral“ zuständige Vizeminister Chaled Hanafi steuerte kurz nach
dem Verhüllungserlass folgende Antwort bei: „Islamische Prinzipien und
islamische Ideologie sind für uns wichtiger als alles andere.“ Mit anderen
Worten: Ihr (der Westen) habt hier verloren, und wir lassen uns von euch
nichts sagen.
Der „Burka-Erlass“ wird es für alle, die sich dafür einsetzen, nicht alle
Kontakte zu den Taliban abzubrechen, um die prekäre humanitäre Situation in
Afghanistan zu lindern, weiter erschweren, dafür zu argumentieren. Das
schließt ein, mit den Taliban zu verhandeln, die afghanische Zentralbank so
unabhängig von ihrer Regierung zu machen, dass über sie diese Hilfsgelder
ins Land geleitet werden können.
Das letzte Wort hier soll die schon länger in Deutschland lebende und
lehrende, aus Afghanistan stammende Hochschullehrerin [2][Jasamin Ulfat]
haben. [3][Sie wies auf Twitter] Medienkommentare zurück, der
Verhüllungserlass sei „die harscheste Taliban-Maßnahme gegen Frauen
bisher“. Sie schrieb: „Die Schulbildung wegzunehmen und die
Bewegungsfreiheit der Frauen einzuschränken ist weitaus schlimmer als ein
Schleier. Ein Schleier ist nur sichtbarer als die anderen Einschränkungen.“
17 May 2022
## LINKS
[1] https://www.ifo.de/publikationen/2021/aufsatz-zeitschrift/frauen-afghanista…
[2] https://www.uni-due.de/anglistik/postcolonial_studies/jasamin_ulfat.php
[3] https://twitter.com/JasoUlfat/status/1523279521935355904
## AUTOREN
Thomas Ruttig
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