# taz.de -- Der fragile Alltag in Odessa: Am Rande des Krieges | |
> Die ukrainische Hafenstadt Odessa ist Zufluchtsort für zahlreiche | |
> Ukrainer:innen – und zugleich Ziel russischer Luftangriffe. | |
Bild: Das Schwarze Meer sieht aus wie zu Friedenszeiten, doch das Ufer ist verm… | |
Odessa taz | Die Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen bin, lebt wie | |
vor dem Krieg. Ich laufe über die Hauptstraßen, ringsherum blühen Blumen, | |
die Vögel singen, die Menschen trinken Kaffee und lächeln. In so einer | |
Atmosphäre scheint es, als gäbe es keinen Krieg. Aber jedes Mal, wenn man | |
in Odessa die Sirenen heulen hört, kündigen sie [1][den nächsten | |
Raketenbeschuss an]. | |
Im Mai begann früher immer die Badesaison. Doch jetzt ist es gefährlich, an | |
den Strand zu gehen, denn das gesamte Ufer ist vermint. Natürlich gehen | |
einige Draufgänger trotzdem hin, ihr Wunsch zu schwimmen ist größer als die | |
Angst. Meine Bekannte Anna zum Beispiel. Sie ist 65 und wirft sich sommers | |
wie winters ins Meer. Sie schwamm während der Coronapandemie. Und jetzt | |
schwimmt sie eben auch im Krieg. „Das Meer lebt. Und macht mich lebendig“, | |
pflegt sie zu sagen. „Ich bin nicht unruhig, wenn das Meer um mich herum | |
unruhig ist.“ | |
Trotz des unerschöpflichen Optimismus der Odessiten – ärztliche Statistiken | |
sprechen eine andere Sprache: Die Zahl der Herzinfarkte und Schlaganfälle | |
ist in unserer Region um 70 Prozent gestiegen. Durch den Dauerstress nehmen | |
psychische Erkrankungen zu, auch die Zahl der Diabetespatienten steigt. | |
Die Zahl der Arbeitslosen in der Stadt wächst ebenfalls. Weil viele | |
Arbeitgeber keine Löhne und Gehälter mehr zahlen können, müssen Betriebe | |
ihre Belegschaft verkleinern. Auch gibt es große Schwierigkeiten mit | |
Benzin. Es ist fast nirgends in Odessa mehr zu bekommen. Aktuell werden nur | |
noch 10 Liter pro Auto verkauft. Um zu tanken, steht man manchmal bis zu | |
drei Stunden Schlange. | |
## Es sind Künstler, die Hoffnung geben | |
Auf den Balkonen von Odessa treten Künstler und Musiker auf. Im | |
Hauptpostamt fand direkt nach massivem Beschuss ein Konzert des | |
ukrainischen Künstlers Boris Barsky statt. Der Saal war übervoll. | |
Einerseits ist das fahrlässig und eine Nichtbeachtung von | |
Sicherheitsmaßnahmen. Andererseits ist genau so etwas eben auch ein typisch | |
odessitischer Charakterzug. | |
„Odessa – das ist die Ukraine. In Odessa war den Menschen noch nie alles | |
gleichgültig“, so Boris Barsky. „Die Leute haben die Nase voll von den | |
schlechten Nachrichten. Sie möchten gern etwas Gutes und Helles. Künstler | |
sind wie Obstbäume, sie müssen ihre Freude teilen. Je optimistischer eine | |
Nation ist, umso gesünder ist sie. Und umso schneller endet dieses Grauen.“ | |
In ständiger Erwartung des nächsten Angriffs zu leben, ständig den Hauch | |
des Todes im Nacken zu spüren – das sind keine leichten Erfahrungen. Das | |
ist der Psychoterror, [2][dem wir seit zweieinhalb Monaten ausgesetzt | |
sind]. Mal hört man von massiven Angriffen, mal, dass russische Truppen | |
chemische Kampfstoffe einsetzen. Mittlerweile kennt man persönlich | |
Menschen, die infolge der Angriffe gestorben sind. Freunde posten Bilder | |
ihrer ausgebombten Wohnungen. | |
Manchmal halte ich das alles nicht mehr aus, und es scheint mir, als gäbe | |
es kein Licht mehr am Ende des Tunnels. In solchen Momenten ist es wichtig, | |
mit jemandem zu sprechen, der ruhig und stabil ist. Solche Menschen sind | |
eine große Unterstützung, und anschließend kann man dann auch anderen | |
helfen. | |
## Ausgangssperren und Raketenbeschuss | |
Bereits zweimal wurde in Odessa in den ersten zehn Tagen im Mai eine lange | |
Ausgangssperre verhängt, das heißt, aus Sicherheitsgründen war man | |
gezwungen, Tag und Nacht zu Hause zu bleiben. An einem dieser Tage starb | |
nach einem russischen Raketenangriff ein Jugendlicher, seine Schwester | |
liegt schwer verletzt im Krankenhaus. In den russischen Nachrichten hieß | |
es, es sei bei dem Beschuss um die Liquidation eines Militärobjektes | |
gegangen. | |
Die Rakete traf aber ein Wohnhaus, die Splitter flogen bis in ein | |
nahegelegenes Kloster. Als ein weiteres „Militärobjekt“ bezeichneten die | |
Russen ein Einkaufscenter. Nach dem Raketenbeschuss brannte es ab. Die | |
Detonationswellen beschädigten rund 300 Wohnungen, Häuser und Hotels wurden | |
zerstört. | |
Die Feinde vernichten touristische Einrichtungen und zerstören mit ihren | |
Raketen unsere Infrastruktur. Zum wiederholten Mal wurde bereits der | |
Flughafen angegriffen. Der ukrainischen Armee gelang es, einen Teil dieser | |
Angriffe abzuwehren, ansonsten wären die Folgen wohl noch bedeutend | |
schlimmer. Auch uns gewöhnliche Einwohner und unsere Häuser nennt das | |
russische Militär nach Raketenangriffen Militärobjekte und verliert nicht | |
ein Wort über die reale Lage. | |
## Odessa Mama, du wirst beschossen | |
Für Odessiten ist das ein besonderes Maß an Zynismus und Verrat. Noch vor | |
wenigen Monaten kamen die Russen als Touristen an die Schwarzmeerküste, | |
aßen unsere Grundeln und haben sich in den Nachtclubs amüsiert, von „Odessa | |
Mama“ gesprochen. Und in diesem Jahr haben russische Streitkräfte am | |
Muttertag, der auf der ganzen Welt am 8. Mai begangen wurde, mehrere | |
Raketen auf die Stadt abgefeuert. Benimmt man sich so gegenüber der Mutter? | |
Betroffen war auch das Gebiet um die Stadt herum. Einige Dörfer hatten nach | |
diesen Angriffen weder Strom noch Wasser. Fliegeralarm gibt es aktuell bis | |
zu zwanzig Mal, am Tag und in der Nacht. | |
Jedes Jahr haben wir mit Kollegen und Freiwilligen unseren | |
Weltkriegsveteranen gratuliert. Im „Park des Sieges“ haben wir uns immer | |
getroffen, um dort spazieren zu gehen, zu reden, Blumen niederzulegen. Am | |
8. und 9. Mai haben wir Journalisten immer Artikel über Heldentaten und | |
Lebensgeschichten veröffentlicht. | |
Dieses Jahr ist alles anders. Am 9. Mai saßen wir alle zu Hause. Aus der | |
Stadt Ismajil an der Donau, gut 200 Kilometer südwestlich von Odessa, haben | |
Freiwillige Fotos von den letzten beiden dort lebenden Weltkriegsveteranen | |
geschickt: die 99-jährige Vera Fedorowna Jankowska, die im Krieg | |
Telegrafistin war, und der 97-jährige Michail Polikarpowitsch Sidoruschkin, | |
der damals als Schütze gedient hat. | |
Die beiden waren während des ganzen Weltkriegs an der baltischen | |
beziehungsweise belarussischen Front und wurden mit unzähligen Orden | |
ausgezeichnet. Den Freiwilligen ist es trotz allem gelungen, zu diesen | |
beiden Kriegshelden durchzukommen und wir haben es geschafft, über sie zu | |
schreiben. Menschen, die den Weltkrieg noch miterlebt haben, können einfach | |
nicht glauben, dass wir jetzt ausgerechnet von denjenigen überfallen | |
werden, mit denen sie damals Seite an Seite gekämpft haben. | |
„Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass Russland jetzt quasi die | |
gesamte Ukraine überfällt. Ich hoffe, dass es der Ukraine in naher Zukunft | |
gelingt, die Invasoren zu besiegen, wie wir das 1945 geschafft haben“, sagt | |
Michail Sidoruschkin. | |
## Heuchelei auf dem Roten Platz | |
Am Morgen des 9. Mai zeigten die russischen Medien, [3][wie Wladimir Putin | |
Blumen an Denkmälern niederlegte], die an die „Heldenstädte“ Kiew und | |
Odessa erinnern. „Heldenstadt“ ist ein sowjetischer Ehrentitel, der | |
verschiedenen Städten im und nach dem Zweiten Weltkrieg verliehen wurde. | |
Ungefähr zur gleichen Zeit kam es wieder zu Raketeneinschläge in der Stadt. | |
Ohne auch nur einen Hauch von Scham trat der Mann, der die Befehle für das | |
Schießen und Vernichten gibt, vor die Kamera und legte Blumen an Monumenten | |
nieder. | |
Diese Parade der Heuchelei auf dem Roten Platz hat sich auch der | |
EU-Ratspräsident Charles Michel angesehen. Er war während dieser Tage in | |
Odessa, zur Unterstützung der Ukrainer, und sagt: „Heute bin ich zur Feier | |
des Europatages in einen Schmelztiegel europäischer Kultur und Geschichte | |
gekommen, nach Odessa. Hier, wo die Menschen ihre Denkmäler vor Kugeln und | |
Raketen schützen, so wie die Ukrainerinnen und Ukrainer ihre Freiheit vor | |
der russischen Aggression schützen. Am Europatag bin ich mit einer | |
einfachen Botschaft nach Odessa gekommen: Sie sind nicht allein. Wir stehen | |
an Ihrer Seite.“ | |
Odessa ist zu einem Zufluchtsort für viele Menschen aus anderen Regionen | |
der Ukraine geworden. Die einen versorgen sie mit Kleidung, andere mit | |
Lebensmitteln. Einige helfen mit Wohnungen, andere mit Informationen. Nur, | |
dass auch hier jetzt immer öfter geschossen wird. Die Wahrscheinlichkeit, | |
dass die Angriffe bald aus der [4][abtrünnigen moldawischen Provinz | |
Transnistrien] kommen, wo auch russische Truppen stationiert sind, ist | |
hoch. | |
Meine Heimatstadt Odessa lebt jeden Tag, als sei er der letzte, aber glaubt | |
an eine bessere Zukunft. | |
Aus dem Russischen von Gaby Coldewey | |
13 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Tatjana Milimko | |
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