# taz.de -- Politologe Münkler über Ukrainekrieg: „Die Europäer haben Einf… | |
> Der Politologe Herfried Münkler erklärt, wie die Diskussion über | |
> Kriegsziele in der Ukraine helfen kann, Kompromisse zu finden. | |
Bild: Außenministerin Annalena Baerbock bei ihrem Besuch in Kiew am Dienstag | |
taz am wochenende: Herr Münkler, kann man den russischen Angriffskrieg auf | |
die Ukraine sinnvoll mit einem anderen Krieg vergleichen? | |
Herfried Münkler: Wir haben es nicht mit 1914 zu tun. Der Ukraine Waffen zu | |
liefern hat nichts davon, schlafwandelnd in einen Weltkrieg zu gleiten. Es | |
gibt mehr Ähnlichkeiten mit 1938, als Hitler nach dem Anschluss Österreichs | |
widerstandslos das Sudetenland besetzte und im Frühjahr 1939 die Tschechei | |
zerschlug. Die Tschechen leisteten keinen Widerstand. | |
1939 begann der Zweite Weltkrieg, weil Polen sich, anders als die | |
Tschechen, gegen Hitler verteidigte und Polens Garantiemächte Frankreich | |
und England gegen Deutschland in den Krieg eintraten. Da gibt es | |
strukturelle Ähnlichkeiten. [1][Alice Schwarzer und die Mitunterzeichner | |
des offenen Briefs] hätten den Polen also geraten, sich lieber nicht zu | |
verteidigen, um Tote und eine Eskalation zu vermeiden. | |
Die Warnung vor München 1938 gab es schon während der Jugoslawienkriege, | |
auch Milošević und Saddam wurden mit Hitler verglichen. | |
Diese Vergleiche waren schräg. Im jetzigen Fall sind sie besser begründet: | |
Putin folgt wie Hitler einer revisionistischen Erzählung. Bei beiden | |
gibt es den Versuch, Nachkriegsordnungen grundlegend zu verändern. Ähnlich | |
ist auch der Rückgriff auf historische Legitimationen. | |
Für den Einmarsch ins Rheinland, den Anschluss Österreichs und die | |
Auflösung der Tschechoslowakei bediente sich Hitler historischer Argumente. | |
Das erinnert an Putins geschichtspolitisches Narrativ, dass die Ukraine | |
historisch als Staat nicht existiere und es daher gleichgültig sei, was die | |
heute dort lebenden Leute wollen. Geschichtspolitische Narrationen als | |
Instrument zur revisionistischen Aushebelung des Status quo, das findet man | |
bei beiden. | |
Wie weit reicht die Hitler-Analogie? Spezifisch für den | |
Nationalsozialismus waren Rassenideologie, Antisemitismus und eine | |
apokalyptische Todesfaszination, die den Untergang Deutschlands | |
einkalkulierte. Gibt es da Ähnlichkeiten mit Russland? | |
Vergleichen heißt immer Beobachten von Ähnlichkeiten und Differenzen. Auch | |
zu 1939 gibt es Unterschiede. Die Wehrmacht hat Polen überrannt. Der | |
russischen Armee gelingt das, entgegen allen Vorhersagen der militärischen | |
Experten, in der Ukraine nicht. Ansonsten können wir das strukturelle | |
Äquivalent über 1939 hinaus nicht verlängern. Damit würden wir eine | |
historische Analogie in eine Form von Prophetie und eine apokalyptischen | |
Spekulation verwandeln. Das wird schnell zu politischer Propaganda. | |
[2][Der russische Außenminister Sergei Lawrow warnt ja vor einem dritten | |
Weltkrieg und nuklearer Eskalation], nicht sorgenvoll, sondern als Drohung | |
an die Europäer. Der Kreml versteht sich auf hybride Kriegsführung und | |
beobachtet die Diskussionen in den Ländern der EU genau. Er bespielt | |
Ängste. Die sind in Deutschland weiter verbreitet als in Großbritannien. | |
Dort werden atomare Drohungen mit einer gewissen mürrischen Indifferenz | |
hingenommen. | |
Ist diese Drohung nur eine propagandistische Waffe? Ein mögliches Szenario | |
ist: Russland annektiert die Donbass-Republiken und betrachtet danach | |
ukrainisches Militär auf dann nach Moskauer Sicht russischem Boden als | |
existenzielle Bedrohung. Letzteres ermöglicht aus russischer Sicht den | |
Einsatz von Atomwaffen. Ist so etwas denkbar? | |
Man kann nicht ausschließen, dass nukleare Gefechtsfeldwaffen eingesetzt | |
werden, etwa wenn große russische Einheiten eingeschlossen würden und deren | |
Kapitulation für Putin als eine nicht hinnehmbare Niederlage erscheinen | |
würde. Das ist denkbar. Dagegen ist ein nuklearer Angriff auf ein | |
Nato-Mitglied, der wohl mit entsprechenden Gegenschlägen beantwortet würde, | |
etwas ganz anderes. Hier wirkt die gegenseitige Vernichtungsdrohung | |
deeskalierend. | |
Der Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine wäre ein Tabubruch. Das Risiko | |
für Putin wäre, China und Indien gegen sich aufzubringen, Russland zu | |
isolieren und politisch in eine Art Nordkorea zu verwandeln. | |
Moskau darf sich wirtschaftlich nicht isolieren und ist auf Indien und | |
China als alternative Abnehmer von Öl, Gas, Steinkohle und Rohstoffen | |
angewiesen. Ein Atomwaffeneinsatz könnte tatsächlich globale | |
wirtschaftliche Sanktionen nach sich ziehen. China und Indien sind ungemein | |
wichtige Mitspieler in allen möglichen Szenarien. Das wird im Westen nicht | |
immer ausreichend bedacht und strategisch genutzt. | |
Der Westen ist nicht de jure, aber de facto an dem Krieg beteiligt, weil er | |
ihn mitfinanziert. Scholz betont immer wieder, dass nur Kiew allein über | |
Verhandlungen entscheidet. Aber qua normativer Kraft des Faktischen | |
bestimmt auch der Westen das Kriegsziel – oder? | |
Das ist ein interessanter Punkt: Würden wir keine Waffen liefern, hätten | |
wir auch keinen Einfluss auf die Ukraine. Die ukrainische Regierung | |
entscheidet – aber die Europäer und die USA haben Einfluss auf den | |
Korridor, innerhalb dessen Kiew Entscheidungen trifft. | |
Falls die Ukraine einen Sicherheitskordon auf russischem Gebiet verlangen | |
würde, in dem alles vernichtet werden muss, was für militärische Logistik | |
nützlich sein kann, sie also den Krieg nach Russland trägt, könnte der | |
Westen die Hilfe einstellen oder unter Verweis auf seine Hilfe eine solche | |
Eskalation blockieren. Viele in Deutschland haben noch nicht begriffen, | |
dass Militärhilfe und Finanzhilfe Einfluss bedeuten – und man eine | |
Kriegspartei auf diese Weise von sich abhängig machen kann. | |
Was ist das Kriegsziel des Westens? Die Ukraine in den Grenzen des 23. | |
Februar, also vor Kriegsbeginn? Oder, so die britische Außenministerin, die | |
vollständige territoriale Integrität, also mit Donbass und Krim? Oder | |
drittens, wie dies der US-Verteidigungsminister sagte, die strategische | |
Schwächung Russlands, das danach keinen solchen Angriffskrieg mehr führen | |
können darf? | |
Der Westen ist in dieser Frage kein geschlossener Akteur. Die | |
Bundesregierung neigt am ehesten dem Ziel zu, die Vorkriegsgrenzen von | |
Anfang Februar wiederherzustellen. Die Briten, mit einer anderen | |
militärischen Tradition, neigen eher dazu, dass Putin für diesen | |
Angriffskrieg einen Preis zahlen muss: Rückzug von der Krim und aus dem | |
Donbass. | |
In den USA gibt es ein anderes Kalkül: Putins Krieg stört die Konzentration | |
auf China. Nach wie vor ist China für die USA die zentrale Herausforderung. | |
Was die Ukraine angeht, so haben die USA offenbar Interesse an einem lang | |
währenden Abnutzungskrieg. Ein Abnutzungskrieg wird die russischen | |
Schwächen, etwa die überschaubare Kampfmoral der russischen Soldaten, | |
bloßlegen. Die US-Strategie könnte darauf hinauslaufen, dass die Ukraine | |
eine offene Wunde für Russland wird, die langfristig die wirtschaftlichen | |
und militärischen Ressourcen Russlands und die Leistungsfähigkeit seiner | |
Truppen überfordern wird. | |
Die USA kalkulieren mit einem langfristigen Krieg? | |
[3][Vielleicht hat sich US-Verteidigungsminister Lloyd Austin da auch nur | |
verplappert.] Wir sind hier im Bereich der Spekulation: Möglich ist, dass | |
die USA, indem sie eine langen, Russland überfordernden Krieg | |
einkalkulieren, Druck machen, um bei Putin eine größere | |
Verhandlungsbereitschaft zu erzeugen. Insofern kann man sagen: Die | |
amerikanische Zielsetzung muss im Spiel bleiben, damit die europäische | |
Zielsetzung verwirklicht wird. Wir haben es mit komplexen Spielen zu tun, | |
mit permanenter Interaktion zwischen Kriegszielen und dem realem Verlauf. | |
Sind verschiedene Kriegsziele nicht gefährlich? Wenn das Ziel unklar ist, | |
wird es schwierig, Sieg und Niederlage zu definieren und Kompromisse zu | |
finden. Ein Beispiel dafür war das Kaiserreich im Ersten Weltkrieg, in dem | |
die Ziele teils illusionär waren, teils diffus. Das Deutsche Reich konnte | |
so weder siegen noch verhandeln. | |
Pointiert formuliert: Das Kaiserreich war ein Opfer seiner eigenen | |
militärischen Erfolge. Der Krieg fand fast ausschließlich im Feindesland | |
statt. Deutsche Intellektuelle haben Kriegsziele definiert, über die die | |
Klügeren im Generalstab gelacht haben. In der Ukraine ist die Lage anders. | |
Die Russen sind nicht durch ihren ungeheuren Erfolg verführt, denn den gibt | |
es nicht; die Ukraine wiederum befindet sich in einem existenziellen | |
Verteidigungskrieg. | |
Die Kriegsziele, die jetzt im Gespräch sind, sind ja, sieht man von den | |
Zielen der USA ab, über die wir spekuliert haben, politisch defensiv. Es | |
gibt in der Ukraine keine Intellektuellen, die ihre politischen | |
Phantasmagorien bewirtschaften. Die Diskussion über Kriegsziele dient dazu, | |
mögliche Kompromisslinien auszuloten, die in den politischen Diskurs | |
eingespeist werden können. | |
Ein entscheidender Punkt ist: Diese Debatte ist sehr weit von dem entfernt, | |
was Alice Schwarzer und die Unterstützer des offenen Briefs wollen. Die | |
versuchen, Kompromisslinien über den Opferdiskurs zu fixieren. Wir reden | |
hier aber darüber, wie man potenzielle Kompromisse nicht über den | |
Opferdiskurs erreichen kann, sondern über die Fähigkeit, den Krieg | |
durchzuhalten. | |
Schaut man in Deutschland zu viel auf die Opfer des Kriegs und zu wenig auf | |
dessen Dynamik? | |
Der moralische Diskurs ist hierzulande vorherrschend. Das hat auch mit der | |
Berichterstattung der hiesigen Presse zu tun. Wir haben relativ wenig | |
Informationen über das Kampfgeschehen. Wenn, dann stammen die aus | |
britischen und amerikanischen Quellen. Das Fernsehen fokussiert sich auf | |
Opfer. Diese Fokussierung kann den Schluss nahelegen, vielleicht doch | |
besser gleich zu kapitulieren, weil dann vermutlich die Zahl der Opfer | |
geringer sein wird. Die Moralisierung des Geschehens birgt die Gefahr, | |
einen kühlen, analytischen Blick auf die Konstellation zu verlieren. | |
Zum Beispiel? | |
Putins Sprecher Dmitri Peskow hat [4][kürzlich von erheblichen Verlusten | |
des russischen Militärs gesprochen]. Die mit solchen Fragen unerfahrene | |
deutsche Presse hat getitelt: Die Russen geben Verluste zu. Dabei hat der | |
Kreml tatsächlich das Narrativ verändert. In die Richtung: „Wir müssen | |
unsere Ziele jetzt erst recht erreichen. Das ist das Vermächtnis unserer | |
heroischen Gefallenen.“ In Deutschland wurde das nicht verstanden, weil man | |
sich hierzulande Opfer nur als Verlust von individuellem Leben vorstellen | |
kann und nicht als geheiligtes oder, profaner gesagt, bewundertes Opfer, | |
das der Nation oder Gemeinschaft gebracht wird. | |
15 May 2022 | |
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Stefan Reinecke | |
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