| # taz.de -- Risikosportart Apnoetauchen: Mit einem Atemzug | |
| > Anas Chair ist einer der wenigen Apnoetaucher Afrikas. Unter Wasser setzt | |
| > er sich lebensgefährlichen Bedingungen aus. Was treibt ihn an? | |
| Bild: Tiefenberauschter Apnoe-Taucher Anas Chair | |
| Als Letztes legt Anas Chair die Wärmflaschen auf die Plane am Ufer des | |
| Werbellinsees. Zwei Mal violettes Gummi gefüllt mit je 1,8 Liter heißem | |
| Wasser. Daneben haben sie Flossen, Neoprenanzüge und Taucherbrillen | |
| ausgebreitet und auch die rote Boje samt Seil und Gewichten. | |
| Der 24-Jährige steht dazwischen und inspiziert die Ausrüstung. Auf ihn | |
| warten 7,8 Quadratkilometer eisige Wellen und bis zu 55 Meter Tiefe. Es ist | |
| Mitte März, die Wassertemperatur liegt knapp über dem Gefrierpunkt, die | |
| Bäume sind noch kahl, das Schilf schwingt im Wind. Anas Chair trägt | |
| Badelatschen und Wollmütze. Sein Körperbau ist zierlich, seine Haare sind | |
| braun. Auf der Rückseite seines Polo-Shirts stehen sein Nachname und sein | |
| Heimatland: Marokko. | |
| In dem nordafrikanischen Land lebt Chair schon lange nicht mehr. 2019 ist | |
| er nach Berlin gezogen, er hat vor zwei Wochen seine Aufenthaltserlaubnis | |
| erhalten. An den Werbellinsee ist er mit seiner Trainingspartnerin Anja | |
| Witt gefahren, etwa eine Autostunde von Berlin Richtung Norden. Wie fast | |
| jedes Wochenende quetscht er sich nun in seinen Neoprenanzug, stapft ins | |
| Wasser, schwimmt bis zur Mitte des Sees und wirft das Sicherheitsseil von | |
| der Boje in die Tiefe. Dann hält er die Luft an. | |
| Chair ist Apnoetaucher. Das heißt, er taucht ohne Sauerstoffflasche. Mit | |
| nur einem Atemzug kann er im Wasser Dutzende Meter nach unten gleiten. „Der | |
| Sport gibt mir das Gefühl: Das ist es. Und ich will alles dafür geben, | |
| besser zu werden“, sagt er. Dafür braucht er nicht nur Lungenvolumen und | |
| Körperbeherrschung, sondern auch enorme mentale Stärke. Unter Wasser könnte | |
| jede falsche Bewegung für ihn lebensgefährlich werden, jeder falsche | |
| Gedanke könnte Panik auslösen. | |
| Bei den Weltmeisterschaften auf Zypern im September erreichte Chair mit 50 | |
| Metern Tiefe in 1:29 Minuten seine bisherige Bestleistung. Das ist weniger | |
| als erfahrenere Taucher schaffen, sie erreichen in mehreren Minuten eine | |
| Tiefe von über 100 Metern. Aber es ist ein Vielfaches von dem, was Laien | |
| können, und ein neuer Rekord für sein Heimatland Marokko. [1][Als Sport ist | |
| Apnoetauchen kaum verbreitet], auch bei den Olympischen Spielen ist es | |
| keine Disziplin. Auf Zypern war Chair der einzige Teilnehmer aus Afrika. | |
| In Videoaufnahmen des Wettkampfs gleitet er wie selbstverständlich durchs | |
| Wasser. „Unter Wasser fühle ich mich schwerelos“, sagt Chair. Er taucht mit | |
| dem Kopf voraus und bewegt die Flossen, als würde er auf der Stelle laufen. | |
| Wenn er 30 Meter erreicht hat, hört er auf zu treten, positioniert sich | |
| parallel zum Sicherheitsseil, mit dem Kopf nach unten, streckt die Arme | |
| entlang des Körpers. Nun sinkt er von alleine. | |
| Der Tauchcomputer an seinem Handgelenk signalisiert durch hohe Töne die | |
| Tiefe. Alles Übrige blendet Chair aus, schließt die Augen. Ansonsten würde | |
| er realisieren, wie tief er ist. Er würde das Wasser sehen, das Seil, die | |
| Sicherheitstaucher, das Boot weit oben, den Himmel, die Sonne. „Da ist zu | |
| viel Ablenkung“, sagt er. „Also fokussiere ich mich aufs Innere.“ Meistens | |
| spreche er in seinem Kopf mit sich selbst, erzählt er. „Wie fühlst du dich? | |
| Das Wasser wird kühler, was heißt, dass wir tiefer kommen. Und wenn es uns | |
| noch gutgeht, ist das ein gutes Zeichen.“ | |
| Um Sauerstoffmangel und Wasserdruck standhalten zu können, muss Chair die | |
| Belastung permanent ausgleichen. In 50 Metern Tiefe betragen Luft- und | |
| Wasserdruck 6 Bar, also sechsmal so viel wie an der Oberfläche. Damit | |
| sensible Körperteile wie das Trommelfell nicht reißen, pumpt Anas Chair | |
| Luft aus seinen Lungen dorthin. Auf seiner Nase sitzt eine Klammer, den | |
| Mund hält er geschlossen. Wenn er dann vorsichtig ausatmet, fließt die Luft | |
| in die Körperhöhlen. | |
| Gleichzeitig schiebt er Zweifel aus seinem Kopf. Unter Wasser warten die | |
| „Geister der Tiefe“. So nennen Taucher die selbstkritischen Gedanken, die | |
| aufkommen, wenn sie sinken. „Die Stimmen in meinem Kopf rufen: Du kannst | |
| das nicht, du verletzt dich, du fällst in Ohnmacht“, sagt Chair. „Ich | |
| entgegne ihnen: Was wollt ihr? Ich setze mich nicht unter Druck, ich bin | |
| schon unter hohem Druck.“ | |
| Wenn er seine Zieltiefe erreicht, öffnet Chair die Augen, greift den weißen | |
| Anhänger an der Leine, dreht sich um, tritt mit den Flossen, taucht nach | |
| oben. „Das ist der schwierigste Teil“, sagt er. „Man hält schon länger … | |
| Luft an, muss aber noch hochkommen und hat den Drang zu atmen.“ | |
| Mitten im Werbellinsee ist Chair ebenfalls hochkonzentriert. Die Wellen | |
| klatschen gegen die rote Tauchboje, das Sicherheitsseil reicht 20 Meter in | |
| die Tiefe. Im Wasser spiegelt sich die Wintersonne. Wenn Anja Witt taucht, | |
| legt Chair das Gesicht auf die Oberfläche und beobachtet sie. Zehn bis 12 | |
| Meter kann er sie unter Wasser sehen, danach wird es dunkel. Braucht Witt | |
| Hilfe, schwimmt Chair ihr entgegen. Dann verschwindet zuerst sein Kopf, als | |
| nächstes Oberkörper und Beine, zum Schluss die Flossen. Kaum ein Tropfen | |
| fliegt beim Eintauchen durch die Luft. Bei seiner Trainingspartnerin | |
| spritzt es dagegen mitunter gewaltig. | |
| Apnoetauchen war für Anas Chair eine Ausbruchsmöglichkeit aus seinem Leben | |
| in Marokko. Er wuchs in der Nähe von Casablanca auf, dort konnte er nicht | |
| tauchen. „Ich wollte immer unter Wasser sein, hatte aber nie die | |
| Möglichkeit dazu“, erzählt er. Im rauen Atlantischen Ozean war Tauchen | |
| undenkbar. Das nächste Schwimmbad lag eine Autostunde entfernt. Für Reisen | |
| musste er stets ein Visum beantragen. Also guckte er Dokumentationen über | |
| Ozeane und Seen im Fernsehen. Der Meeresgrund schien ihm so faszinierend | |
| und fern wie das Weltall. „Ich wollte Dinge sehen und entdecken, die die | |
| Menschheit noch nicht kennt“, sagt er. | |
| Nach einem gescheiterten Studium nahm er sich eine Auszeit und fuhr zum | |
| Wildcampen in den Norden von Marokko. Im klaren und ruhigen Mittelmeer | |
| konnte er endlich unter Wasser, sah zum ersten Mal Fische – und merkte, wie | |
| gering sein Lungenvolumen war. Also recherchierte er im Internet Techniken | |
| fürs Luftanhalten, guckte sich Videos an und stieß auf Apnoetauchen. | |
| Zunächst habe er sich alles selbst beibringen wollen, sagt er. Ein Fehler. | |
| „Vieles von dem, was ich gemacht habe, war lebensgefährlich. Aber das | |
| wusste ich nicht.“ | |
| Chair buchte ein Flugticket nach Ägypten, one way. Das nordafrikanische | |
| Land bot ihm damals zwei Vorteile: klares Wasser und unkomplizierte | |
| Visaverfahren. In Dahab am Roten Meer belegte er seinen ersten Tauchkurs. | |
| „Ich habe mich gefühlt wie ein kleines Kind an Weihnachten“, sagt Anas | |
| Chair. „Aber da war auch Angst. Ich dachte: Jetzt bin ich im offenen | |
| Gewässer, das ist real und nicht mehr nur ein Video.“ | |
| Trotzdem wollte er dranbleiben. Chair ließ sich zum Trainer ausbilden, zog | |
| 2019 weiter nach Berlin. Zweimal pro Woche gibt er Unterricht, vier- bis | |
| fünfmal trainiert er selbst, im See und in Schwimmbädern. Durch seine | |
| Arbeit als Trainer verdient er etwas Geld, Equipment erhält er oft durch | |
| Sponsoring. Vom Tauchen leben kann er noch nicht. Mit seinem Bruder und | |
| Vater betreibt er auch eine Firma in Marokko. | |
| Nimmt er an einem Wettkampf teil, steht Chair bei Sonnenaufgang auf, geht | |
| spazieren und im Kopf den Tauchgang durch, den gesamten Atemzug lang. | |
| Einmal sind er und Witt zum Trainieren nach Mszczonów in Polen gefahren, | |
| rund 550 Kilometer mit dem Auto von Berlin. Dort befindet sich mit 45 | |
| Metern das zweittiefste Tauchbecken der Welt. Wenn er Urlaub macht, fliegt | |
| er nur an Orte, an denen er gut tauchen kann. Zu den Weltmeisterschaften | |
| vergangenes Jahr habe er auch gewollt, weil da Kameras waren, sagt er. Er | |
| taucht ab, um gesehen zu werden. | |
| Nicht immer hält er dem Druck stand. Bei Wettkämpfen müssen Apnoetaucher | |
| vor dem Start angeben, wie tief sie kommen wollen. Einmal hatte Chair sich | |
| 51 Meter vorgenommen. Bei 40 Metern guckte er hoch, sah Rettungsboot und | |
| Sicherheitstaucher als kleine Punkte auf der Wasseroberfläche liegen. Er | |
| realisierte, wie tief er war. Und dass er nicht atmen darf. Er schwamm nach | |
| oben, gehetzt, aber kontrolliert. | |
| Am Werbellinsee kommen die Taucher nach etwa einer Stunde am Ufer aus dem | |
| Wasser. Die Sonne steht tief, der Wind bläst. Anja Witt hat einen Krampf im | |
| Bein, Chair spürt seine Hände nicht mehr vor Kälte. Er beugt sich nach | |
| vorne, krümmt die Finger zur Faust, schreit in ein Handtuch. Auf der Plane | |
| liegen noch immer die Wärmflaschen. Chair greift danach, presst seine Hände | |
| gegen das Gummi. Sie helfen nicht. „Alles gut, alles gut“, sagt er, | |
| versucht zu lachen. Ihm stehen Tränen in den Augen. Nächste Woche will er | |
| wiederkommen. | |
| 28 May 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Trisha Balster | |
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