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# taz.de -- Leben mit Aphantasie: Keine Bilder im Kopf
> Wenn Mona ihren Gedanken nachgeht, sieht sie nichts vor dem „inneren
> Auge“. Wie sie das prägt und was Forschende über Aphantasie
> herausgefunden haben.
Bild: Schätzungsweise drei Prozent der Menschen haben Aphantasie
Was Mona so am Lesen liebt, sind die Emotionen, die eine gute Romanhandlung
in ihr auslöst, und neues Wissen, das sie durch ein Sachbuch in sich
aufsaugt. „Manche Wörter und Sätze haben eine tolle Ästhetik an sich“, s…
sie. „Ich mag es sehr, wenn alles so schön ineinanderfließt.“ Wenn Mona
liest, dann sieht sie gedruckte Buchstaben auf Papier. In ihrem Kopf
allerdings ist alles dunkel. Vor dem „inneren Auge“ läuft keine Handlung
ab, denn sie hat kein bildliches Vorstellungsvermögen.
„Aphantasie“ nennt sich das Phänomen, das etwa drei Prozent aller Menschen
betrifft und als Forschungsgegenstand gerade erst entdeckt wird. Dass Mona
Aphantasistin ist, weiß sie erst seit ein paar Jahren. Den Aha-Moment ihres
Lebens hatte sie, als sie ganz zufällig davon las, dass es Menschen gibt,
die nichts sehen in ihrem Kopf. „Natürlich gab es immer schon irritierende
Situationen, und auch den Verdacht, dass ich ein bisschen anders bin als
andere“, sagt Mona. Zum Beispiel nach dem Kino, wenn eine ihrer Freundinnen
sich mal wieder darüber aufregte, dass der Hauptdarsteller so gar nicht zu
ihrer Vorstellung passte. Oder wenn in der Schule eine dieser elendigen
Entspannungsübungen anstand, dieses „stellt euch mal vor, ihr liegt am
Strand, lauft über eine Wiese, paddelt über einen See“. „Ich fand das jed…
Mal so stressig“, sagt Mona und muss lachen.
Als sie von ihrer Aphantasie erfuhr, war sie nicht entsetzt oder traurig,
eher positiv schockiert. Sie begann die Menschen in ihrem Umkreis
auszufragen, wie sie Dinge in ihren Gedanken visualisieren, und kam zu
interessanten Erkenntnissen. Manche sagten, sie sehen fast fotografische
Bilder, denken sie beispielsweise an ein Gebirge. Manche sehen die Berge
nur schemenhaft, manche haben eher ein Gefühl dazu. Mona merkt: Bildliches
Vorstellungsvermögen ist ein Spektrum und sehr individuell. Sie fragt sich,
wie die Aphantasie ihren Charakter, ihren Lebenslauf geprägt hat:
Die 30-Jährige arbeitet in einem Uniklinikum als wissenschaftliche
Mitarbeiterin für Statistik. Mit Zahlen und Wahrscheinlichkeiten arbeiten
liegt ihr sehr. Mona glaubt, dass das mit der Aphantasie zusammenhängt. Und
dann ist da noch ihr Hobby: Sie ist Teil einer Theatergruppe und führt auch
manchmal Regie. „Da könnte man jetzt meinen: Wie geht das zusammen, Regie
führen, aber sich nichts vorstellen können?“ Mona geht mit dem Moment,
lässt sich auf die Schauspieler:innen ein, entwickelt mit ihnen
gemeinsam im laufenden Prozess die Szene. „Das funktioniert ziemlich gut.“
## Ereignisse aus der Kindheit
Cornelia McCormick von der Uniklinik Bonn und dem [1][Deutschen Zentrum für
Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)] hat sich als Hirnforscherin auf
Gedächtnis und Vorstellungskraft spezialisiert. Seit ein paar Monaten führt
sie in Zusammenarbeit mit der psychologischen Fakultät der Uni Bonn eine
Studie zu Aphantasie durch. Dabei geht es ihr insbesondere darum, wie
Menschen ohne „inneres Auge“ ihre Vergangenheit erinnern und welche
Methoden sie anwenden, um Zukunftsentscheidungen zu treffen. „Denn wenn ich
mir mögliche Szenarien, die fünf, sechs Jahre entfernt sind, in meinem Kopf
nicht ausmalen kann, wie finde ich heraus, was der richtige Weg für mich
ist?“
Für [2][die noch laufende Studie] werden Proband:innen zunächst etwa
anderthalb Stunden zu Kindheit und Jugend interviewt. Sie sollen im
Gespräch unter anderem fünf „Gedächtnisereignisse“ aus fünf verschieden…
Altersspannen beschreiben. Dabei merke man recht schnell, ob sich jemand
auf dem Aphantasiespektrum befindet oder nicht. „Aphantasisten beschreiben
Dinge aus der Vergangenheit generell viel schematischer und kürzer, oft
wissen sie nicht mehr, war ich damals 11, 16, 18 Jahre alt?“, sagt
McCormick. Man merke ganz eindeutig, dass nicht anhand visueller Erinnerung
nacherzählt wird, sondern mittels abgespeicherter Fakten. Mona kennt das,
sie tut sich zum Beispiel schwer mit ganz allgemeinen Fragen wie: Wie war
es, im Heimatort aufzuwachsen?
Wo bei anderen vielleicht eine Assoziationskette anspringt, weiß sie nicht
genau, worauf eine solche Frage abzielt. Ein Tagtraum oder in der
Vergangenheit schwelgen ist ihr fremd. „Natürlich bin ich mal
unkonzentriert“, sagt sie. „Aber dieses komplette Abdriften kenne ich
nicht.“ Sie erinnere Zurückliegendes. Aber ihr kämen nun mal eher die
Emotionen dazu in den Sinn.
## Hyperaktiver Kortex?
Ein weiterer Teil der Bonner Studie spielt sich in der Röhre ab. Die
Proband:innen werden im MRT darum gebeten, sich an ganz Konkretes zu
erinnern, eine Party, eine Schifffahrt, ein Städtetrip. Dann werden Scans
des Hirns angefertigt. „Wir haben da bisher interessante vorläufige Effekte
erzielt“, sagt Cornelia McCormick.
Bei der Untersuchung im Fokus stehen Hippocampus und visueller Kortex. Der
Hippocampus generiert Erinnerung, er ist eine Art Schnittstelle zwischen
Kurz- und Langzeitgedächtnis. Der visuelle Kortex verarbeitet bildliche
Eindrücke. Für McCormicks Team ist es nicht weiter überraschend, dass die
bisherigen Proband:innen eine geringere Hippocampus-Aktivierung als die
Kontrollgruppe zeigten. Die Interviews hatten bereits offenbart, dass
Erinnerungen bei ihnen schwieriger abrufbar sind.
Der visuelle Kortex hingegen war bei vielen der Aphantasist:innen
nahezu hyperaktiv. „Und das ist wirklich spannend“, sagt McCormick. Denn
wenn man sich ganz normal mit den Augen umschaut, ist das für den visuellen
Kortex ein ziemlich starkes Signal. Macht man die Augen zu und ruft sich
das, was man gerade eben noch gesehen hat, ins Gedächtnis, ist dieses
Signal für gewöhnlich sehr viel geringer. „Nun gibt es die Theorie, dass
der visuelle Kortex bei Aphantasisten auch im Ruhezustand so aktiv ist,
dass die schwachen Signale einer reinen Vorstellung nicht mehr wahrgenommen
werden können.“
Merlin Monzel, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Biologische
Psychologie an der Uni Bonn, hat das Projekt ins Leben gerufen und arbeitet
eng mit McCormick zusammen. Aphantasie interessiert ihn seit Beginn seines
Studiums – weil er auf einer Erstsemesterparty bemerkte, dass er selbst
betroffen ist. Bei einem Kennenlernspiel mit Kommiliton:innen sollte
jede:r von einer Eigenschaft erzählen, die ganz bestimmt sonst niemand in
der Runde hat. Als eine Studentin erzählt, sich nichts bildlich vorstellen
zu können, ist Monzel perplex. „Ich dachte natürlich, das sei bei jedem
so!“
## Eine Studie über Mitgefühl
Seitdem forscht er zu verschiedenen Aspekten der Aphantasie, etwa welche
Auswirkungen sie auf Empathie hat. Ein Versuch zeigte, dass
Aphantasist:innen und Nicht-Aphantasist:innen gleich empathisch
reagieren, wenn sie Zeug:in einer mitleiderregenden Situation werden.
Erzählte man den Teilnehmer:innen lediglich von dieser Situation, fiel
das Mitgefühl der Aphantasist:innen eher schwächer aus.
Aphantasie ist unter anderem so wenig erforscht, weil es sehr schwierig
ist, Vorstellungsvermögen sichtbar zu machen. Mittlerweile gibt es laut
Monzel aber neue Verfahren, mit denen sich messen lässt, wie gut das
„innere Auge“ sieht. Relativ simpel ist der „Pupillentest“. Schaut man …
Licht, zieht sich die Pupille zusammen. Stellt man sich einfach nur vor,
ins Licht zu schauen, passiert das auch. Ein Schutzreflex des Körpers. „Um
Vorstellungsvermögen zu klassifizieren, kann man das richtig gut nutzen“,
sagt Monzel. Erst zeigt man eine bestimmte Lichtquelle, dann fordert man
die Proband:innen auf, sich genau diese Lichtquelle noch mal
vorzustellen. Wenn der Eyetracker zeigt, dass die Pupillen sich gleich weit
zusammenziehen, lässt das auf ein gutes bildliches Vorstellungsvermögen
schließen.
Ein anderer Grund für vergleichsweise wenige Erkenntnisse über Aphantasie
ist der mangelnde Leidensdruck Betroffener. Ähnlich wie Mona haben die
meisten der Bonner Proband:innen ganz zufällig auf Social Media oder in
der Apotheken-Umschau darüber gelesen. Dabei hätten zum Beispiel
Lehrer:innen insbesondere in Monas Fall etwas bemerken können. Sie
liebte Algebra und Stochastik, scheiterte aber an einfacher Geometrie. Der
Kunstunterricht: Horror. Wenn sie den Verdacht äußerte, anders zu sein,
wurde das abgetan. Kinder hätten eben verschiedene Stärken und Schwächen.
Mona macht ihr Abi schließlich auf dem zweiten Bildungsweg, größtenteils
autodidaktisch. In ihrem Tempo und ihrer Art zu lernen.
Manchmal hat Mona das Gefühl, „etwas zu verpassen“, trotzdem sind da auch
ein paar Aspekte, die sie ihrer Aphantasie zuschreibt und sehr von Vorteil
findet: Egal, wie es ihr geht, wie turbulent oder entspannt das Leben
gerade ist, Mona schläft ein. Schnell und verlässlich. Da ist kein Film in
ihrem Kopf, der die unangenehmen Momente des Tages zusammenfasst. Und
vielleicht ist Mona weniger ängstlich und sorgenvoll als andere Menschen.
Sich vor Bühnenauftritten schlimme Szenarien ausmalen, was alles
schiefgehen kann, kennt Mona nur in Maßen. Sie weiß theoretisch, dass sie
den Text vergessen oder stolpern könnte, aber sie sieht sich vorab eben
nicht dabei zu. Mona geht es gut mit ihrer Aphantasie. Solange sie bloß
niemand bittet, auf eine Traumreise zu gehen.
3 May 2022
## LINKS
[1] https://www.dzne.de
[2] https://www.dzne.de/forschung/studien/klinische-studien/aphantasie/
## AUTOREN
Leonie Gubela
## TAGS
Neurologie
Bilder
psychische Gesundheit
Lesestück Recherche und Reportage
Alzheimer
Musik
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