# taz.de -- Umgang mit Depressionen: Die endlose Liste des Schämens | |
> Menschen mit Angststörungen oder Depressionen neigen dazu, sich wegen | |
> ihrer Erkrankung zu schämen. Das kostet wahnsinnig viel Energie. | |
Bild: Sich „einfach zusammenzureißen“, klappt bei Depressionen nicht. Manc… | |
Depressionen gibt es nicht, die Leute müssen sich einfach mehr | |
zusammenreißen. Der Satz klingt wie das reinste Klischee und doch habe ich | |
ihn bereits gehört. Ziemlich genau neun Jahre ist das her: Ich war fast 22 | |
und kam gerade aus einer psychiatrischen Klinik. Der Satz kam von einer | |
damaligen Freundin (unschwer zu erraten, dass wir heute nicht mehr | |
befreundet sind) und fühlte sich an wie eine oder mehrere verbale | |
Ohrfeigen. | |
Depressionen gibt es nicht! Was du fühlst, ist falsch! Du reißt dich nicht | |
genug zusammen! Der Schmerz, den die verbale Schelle hinterließ, saß tief. | |
Am schlimmsten daran war aber, dass ich trotz Diagnose ähnlich dachte. Denn | |
im Endeffekt fühlte es sich an, als sei ich an etwas ganz Grundlegendem | |
gescheitert. Während alle um mich herum studierten, feierten und ja, | |
einfach lebten, schaffte ich es nicht aus dem Bett. [1][Ich passte | |
plötzlich nicht mehr in das, was als akzeptiert galt], hielt mich nicht | |
mehr an die gesellschaftskonformen Regeln des alltäglichen Lebens. Ich | |
begann, mich für meine Unzulänglichkeit zu schämen. | |
Schamgefühle sind stark moralisch geprägt, helfen uns dabei, unser eigenes | |
Verhalten zu steuern und uns an Normen und Werte anzupassen. Sie sichern | |
also unser Zusammenleben in gesellschaftlichen Gruppen. Wer sich schämt, | |
zeigt, dass er*sie sich dem normabweichenden Verhalten bewusst ist und es | |
bereut, was wiederum Sympathien steigert. | |
Bei Menschen mit Angststörungen, Suchterkrankungen oder Depressionen | |
tritt Scham aber oft verstärkt auf und kann krankhafte Züge annehmen. Scham | |
vorm Kontrollverlust, vorm Andersein, [2][vorm Nicht-mehr-dazu-Passen]: Wer | |
Scham besonders stark empfindet, beginnt unangenehme Situationen zu | |
vermeiden, um sich, so schreibt es der Psychoanalytiker Léon Wurmser, „vor | |
den Blicken der anderen zu verbergen“. Schließlich möchte man nicht in | |
seiner Fehlerhaftigkeit gesehen werden. | |
## Endlose Liste des Schämens | |
Ich kann gar nicht aufzählen, für was ich mich alles geschämt habe und | |
teilweise noch schäme – die Liste wäre endlos. Das Perfide ist, dass es | |
wahnsinnig viel Energie kostet, sich zu schämen. Energie, die man für | |
anderes aufwenden könnte. Für den Kampf gegen den Klimawandel oder gegen | |
das Patriarchat zum Beispiel. | |
Ganz ablegen werde ich die Scham wohl nie; für das Zusammenleben mit | |
anderen wäre das auch nicht nützlich. Was mir hilft, ist, auf | |
Konfrontationskurs zu gehen und möglichst offen mit ihr umzugehen. Das mag | |
auf mein Gegenüber erst mal irritierend wirken, schließlich lernen wir, | |
schambesetzte Dinge für uns zu behalten. | |
„Das Schlimmste an der Scham ist, dass man glaubt, man wäre die Einzige, | |
die so empfindet“, schreibt die Autorin Annie Ernaux in „Die Scham“. Das | |
dem nicht so ist, lernen wir erst, wenn wir uns einander anvertrauen, statt | |
uns zusammenzureißen. | |
20 Apr 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Umgang-mit-depressiven-Menschen/!5839088 | |
[2] /Psychische-Gesundheit-und-Klasse/!5759223 | |
## AUTOREN | |
Sophia Zessnik | |
## TAGS | |
Kolumne Great Depression | |
Depression | |
Scham | |
IG | |
Kolumne Great Depression | |
Kolumne Great Depression | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Kolumne Great Depression | |
Kolumne Great Depression | |
Kolumne Great Depression | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Auswirkungen von Depressionen auf Lust: Ehrlich und ohne Scham | |
Als Anhedonie bezeichnet man den Verlust der Fähigkeit, Freude für Dinge zu | |
empfinden. Depressionen können sich auch auf die sexuelle Lust auswirken. | |
Psychische Störungen in Sozialen Medien: Stigma und Vorurteil | |
Beim Prozess zwischen Johnny Depp und Amber Heard werden psychische | |
Diagnosen einseitig öffentlich geteilt. Für Betroffene ist das schädlich. | |
Depression bei Geflüchteten: Seelische Wunden | |
Viele Menschen, die fliehen müssen, erkranken psychisch. Manchmal erst nach | |
Wochen, Monaten, Jahren. Wir müssen aufmerksam sein und sie unterstützen. | |
Psyche bei Armut: Vor der Krankheit gleich | |
Menschen in prekären Verhältnissen sind stärker von psychischen | |
Erkrankungen betroffen. Das Leiden erhöht wiederum das Armutsrisiko. Ein | |
Teufelskreis. | |
Umgang mit depressiven Menschen: Es braucht viel Geduld | |
Wer mit einem depressiven Menschen zu tun hat, stößt unweigerlich an seine | |
Grenzen, denn der Umgang mit Ihnen ist anstrengend. | |
Psychische Erkrankungen: Entwicklungsland der Gefühle | |
Obwohl Depressionen in Filmen oder Serien Thema sind, wird noch viel zu | |
wenig ohne Scham über sie gesprochen. Zeit, das zu ändern. |