# taz.de -- Erinnerung an den Fotografen Paul Glaser: Aus der Mauerstadt | |
> In Berlin interessierte ihn Kreuzberg, später war auch die untergehende | |
> DDR ein Thema seiner Alltagsbeobachtungen. Eine Erinnerung an Paul | |
> Glaser. | |
Bild: 1988, Mariannenplatzfest: Kreuzberger Mischung bei einer Folkloreveransta… | |
Paul Glaser war für uns junge Bildredakteurinnen in der taz immer der | |
ältere Mann mit Schnauzbart, der uns ein paar Jahrzehnte voraus hatte und | |
jede Menge über Berlin und seine Lokalpolitiker wusste. Er beobachtete die | |
Politszene schon lange und fotografierte die Leute in der zweiten Reihe, | |
bevor sie bekannt wurden. Er kramte in seinem enormen Personengedächtnis, | |
ohne mit seinem Erfahrungsvorsprung zu prahlen. | |
2010 schätze er in einem Gespräch die Anzahl seiner Negative auf über | |
eineinhalb Millionen Bilder. Der dokumentarische Wert seiner | |
Alltagsbeobachtungen aus der Mauerstadt Berlin und der untergehenden DDR | |
drumherum werden mit dem zeitlichen Abstand immer bedeutsamer. Was damals | |
„normal“ erschien, weil wir es teils mit eigenen Augen sahen, kommt uns | |
heute fremd und besonders vor. | |
Paul Glaser fotografiert die heruntergekommenen Häuser, Ruinen, Hinterhöfe. | |
Die Altenpflegerinnen der Arbeiterwohlfahrt interessieren ihn. Von den | |
Arbeiterinnen, die er 1982 bei einer AEG-Belegschaftsversammlung aufnimmt, | |
weiß er, dass die meisten der ihn anlachenden Frauen aus Jugoslawien sind. | |
Im Bild von einer Selbsterfahrungsgruppe lassen Menschen in lässiger | |
Kleidung die Köpfe hängen. | |
Glaser hatte keine Berührungsängste mit der Alternativszene. Er zeigt eine | |
Mädchenbande in Kreuzberg. Er fotografiert Willy Brandt 1980 bei einem | |
Hinterhoffest. Dann eine rein türkische Klasse in Kreuzberg. Immer wieder | |
zeigt er, dass Berlin auch eine Stadt der Einwanderer ist. Auf wohl 30.000 | |
Fotos schätzt er seine Motive von türkischem Leben in Berlin: Moscheen, | |
Familien, bei der Arbeit, beim Grillen, Demos, Hochzeiten. | |
Immer wieder zieht es ihn nach Kreuzberg, [1][in einem Interview erklärt er | |
warum]: „Kreuzberg ist ein bisschen Symbol für mein Leben. Ich bin 1941 in | |
Wolhynien, heute Ukraine, geboren worden. Meine Eltern waren deutsche | |
Bauern. Meine Vorfahren haben dort mit anderen Kolonialisten seit über 100 | |
Jahren gelebt. Bei den Türken in Kreuzberg habe ich mich gefühlt wie bei | |
unserer deutschen Verwandtschaft in der Ukraine. In unserer Familie wurden | |
auch große Feste gefeiert, für die alle Zimmer ausgeräumt worden sind, und | |
alles endete mit einer Riesenschlägerei.“ | |
Der Sohn eines deutschen Bauern flieht als Vierjähriger mit seiner Mutter | |
vor der Roten Armee, schafft es bis zum Philosophiestudium in München, | |
flieht vor der Einziehung zur Bundeswehr 1961 nach Berlin, bricht das | |
Studium aus Geldmangel ab und legt einen Berufsweg vom Tellerwäscher zum | |
Fotografen hin – mit Zwischenstationen Eisenflechter auf dem Bau und | |
Kneipenbesitzer nicht zu vergessen. | |
„Fotografie war für mich immer ein politisches Mittel in einem politischen | |
Kampf“, so umschreibt er sein Berufsethos. Seit 1976 war er Parteimitglied | |
der SPD und er verstand sich als Teil der Linken. Er durfte | |
SPD-Delegationen in die DDR begleiten und konnte dabei relativ ungehindert | |
fotografieren. Nach der Wende machte er dort weiter im eigenen Auftrag | |
ungemein emsig Abertausende Fotos: Streiks, Fabriken, Straßen, | |
Bushaltestellen, Schaufenster. | |
Der Menschenfreund sprach mit den Leuten, die er aufnahm, und packte seine | |
Unterhaltungen in die Bildunterschriften: Erklärungen wie „Ein kubanischer | |
Arbeiter in der Werkshalle, der mit einer Deutschen verheiratet ist. Die | |
Ausländer wurden von ihrer Regierung an die DDR vermietet, ein Teil des | |
Lohns ging direkt an die heimische Regierung“ oder die Information zu einer | |
Arbeiterin im Braunkohletagebau: „Die Schmiererin Gudi muss den ganzen Tag | |
mit einer Ölkanne alle quietschenden Teile des Riesenbaggers schmieren, | |
weil der Lärm sonst unerträglich wäre.“ | |
Wittenberge, Quedlingburg, Bitterfeld, marode Städte mit untergehender | |
Industrie. Viele Bilder liefert er in rauem Schwarz-Weiß. Die Farbaufnahmen | |
der frühen 90er Jahre besitzen noch jene Patina der analogen | |
Farbfotografie, aus dem Staubgrau der Tagebauumgebung treten die Farben | |
hervor. | |
Noch während seiner schweren Krankheit hat Paul Glaser unermüdlich an der | |
Dokumentation und Katalogisierung seines Lebenswerks gearbeitet, ein | |
pralles Vermächtnis der politischen Strömungen und des Alltags. | |
Im März ist Paul Glaser gestorben. | |
31 Mar 2022 | |
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[1] /Montagsinterview-Fotograf-Paul-Glaser/!5131882 | |
## AUTOREN | |
Petra Schrott | |
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