# taz.de -- Schulprojekte zum jüdischen Leben: In der Begegnung lernen | |
> Zwei Jahre lang vermittelte der Verein Vincento junge jüdische | |
> Lebenswelten an Schulen in Neukölln, Kreuzberg und Pankow. | |
Bild: Begriffe werden gesammelt für einen Workshop im Vincentino e.V | |
Ich erinnere mich noch, wie bei uns in der Schule das Thema | |
Nationalsozialismus und Antisemitismus angegangen wurde: Ein Lehrer, meist | |
männlich und um die 50, hat all die wichtigen Daten und Fakten rund um den | |
Zweiten Weltkrieg aufgezählt, die wir dann auswendig lernen und bei der | |
nächsten Klausur aufs Blatt kotzen sollten. Ausflüge haben wir zum | |
Jüdischen Museum oder zum KZ Sachsenhausen unternommen. | |
Natürlich sind Informationen über den größten Massenmord in der Geschichte | |
oder Besuche zu Gedenkstätten grundlegend. Dennoch hätten ein paar „echte“ | |
Menschen, die von ihren Erlebnissen oder denen ihrer Familie berichten, | |
gute Ergänzungen dargestellt. Und es wäre vielleicht bei dem einen oder der | |
anderen mehr hängen geblieben. | |
Diese Herangehensweise mag aber auch daran gelegen haben, dass ich auf | |
einem sogenannten „Elitegymnasium“ in Charlottenburg war. Elite ist eben | |
nicht immer gleich besser. Oder anders formuliert: Auch Schüler*innen | |
von Eliteschulen haben keinesfalls nur das Bedürfnis nach | |
Frontalunterricht. | |
Alles andere als Frontalunterricht haben die Mediendozent*innen von | |
Vincentino e.V. zusammen mit jüdischen Akteur*innen wie der Cellistin | |
Illay Chester und der in Ost-Berlin geborenen jüdischen [1][Journalistin | |
und Autorin Mirna Funk] in den vergangenen zwei Jahren an fünf Berliner | |
Schulen in Neukölln, Kreuzberg und Pankow gehalten. | |
## Medien- und Begegnungsprojekte | |
Seit 2020 finden dort Medien- und Begegnungsprojekte zum jungen jüdischen | |
Leben in Berlin statt, bei denen Schüler*innen der fünften bis achten | |
Klasse unter anderem musikalische Performances einstudierten, gemeinsam | |
israelische Gerichte kochten und Spaziergänge zu jüdischen Orten | |
unternahmen. | |
Eine besonders erwähnenswerte Kooperation ist diejenige mit der | |
[2][Amadeu-Antonio-Stiftung]. Hierbei kam die Projektleiterin der | |
renommierten Stiftung, Miki Hermer, in die siebten und achten Klassen des | |
Albrecht-Dürer-Gymnasiums in Neukölln und diskutierte mit den | |
Schüler*innen, warum die Anrede „Du Jude“ eine Beleidigung ist und nicht | |
verwendet werden sollte. | |
Rafael, Schüler [3][des Albrecht-Dürer-Gymnasiums, schrieb im Schulblog] | |
über die Arbeit der Amadeu-Antonio-Stiftung: „Viel mehr Menschen sollten | |
sich gegen Beleidigungen und Ausgrenzung aufgrund einer anderen Hautfarbe, | |
Religion, Herkunft usw. einsetzen – da sind die Amadeu Antonio Stiftung, | |
Miki Hermer und die anderen Mitarbeiter der Stiftung gute Vorbilder“. | |
In einem anderen Projekt haben sich drei Schüler*innen in Form eines | |
kurzen Videos der Relation von Querdenker-Demos zum Antisemitismus | |
gewidmet. Während die Informationen alle sehr gut recherchiert wirken und | |
viel mit verlässlichen Quellen gearbeitet wurde, lässt die Qualität des | |
Videos doch etwas zu wünschen übrig: Bei den Voiceovers der | |
Schüler*innen sind des Öfteren störende Hintergrundgeräusche zu hören, | |
was durch eine bessere Einweisung der Mediendozierenden vermeidbar gewesen | |
wäre, und die wiederholte Verwendung von immer denselben Bildern ist leider | |
auch nicht so gelungen. | |
## Es hadert an der Umsetzung | |
Es wurde mit Standbildern von Demonstrant*innen gearbeitet, die | |
Judensterne mit der Aufschrift „Ungeimpft“ trugen oder T-Shirts mit den | |
Worten „Juden lügen“. Die Intention, die Schwere des Vergleiches von | |
Corona-Maßnahmen mit der Ausgrenzung der Juden zu verdeutlichen, ist | |
verständlich. Doch ist es etwas problematisch, diese Symbole in einem | |
vierminütigen Film so oft zu reproduzieren, ganz ohne Triggerwarnung. | |
Begleitet wurde die Projektreihe von dem Begründer der Medienwerkstatt bei | |
Vincentino e.V., Matthias Schellenberger. Der studierte | |
Kommunikationsdesigner und selbsternannte Medienpädagoge habe durch seine | |
beiden Kinder die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zu schätzen gelernt, | |
wie er im Interview sagte. | |
Bei dieser Projektreihe habe er sich allerdings eher zurückgehalten und den | |
jüdischen Protagonist*innen aus Berlin und Israel das Wort überlassen. | |
Das ist auch gut so, denn sonst würde ja wieder ein „alter weißer Mann“ | |
Kindern mit Migrationshintergrund die Welt erklären. | |
Auf die Frage, warum es so wichtig sei, sich bereits im Grundschulalter | |
intensiv mit dem Judentum auseinanderzusetzen, hat Schellenberger trotzdem | |
eine Antwort: „Wenn man zusammen in einer Stadt oder in einem Land leben | |
will, ist die Grundvoraussetzung, Respekt dem Anderen gegenüber zu haben | |
und zuzuhören.“ Und das geht eben am besten, wenn man die*den Andere*n | |
überhaupt erstmal kennenlernt, um die bekannte, anfängliche Kontaktscheu | |
loszuwerden. | |
Dem Fazit von Medienpädagoge Schellenberger zu den Projektwochen | |
(„Unbedingt viel mehr! Viel mehr Zusammenarbeit. Die Schule darf kein | |
abgeschlossener Raum sein“) kann ich mit Blick auf meine eigenen | |
Schulerfahrungen nur zustimmen. Allerdings sollte sich das nicht nur auf | |
die Stadtteile Neukölln, Kreuzberg und Pankow begrenzen, die einen gewissen | |
Ruf haben – ob dieser nun berechtigt ist oder nicht – sondern | |
flächendeckend gelten. | |
20 Mar 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Autorin-ueber-modernen-Antisemitismus/!5784415 | |
[2] https://www.amadeu-antonio-stiftung.de | |
[3] https://www.ado-journal.de | |
## AUTOREN | |
Nora Rauschenbach | |
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