# taz.de -- Zerstörte ukrainische Stadt Mariupol: Die Stadt lebt im Keller | |
> Tausende versuchen aus der ukrainischen Stadt Mariupol zu fliehen. Auf | |
> ihrem Weg landen viele gegen ihren Willen in von Russland besetzten | |
> Gebieten. | |
Bild: Anwohner stehen vor einem zerstörten Wohnhaus in Mariupol am 28. März | |
DNIPRO taz | Schon mehr als drei Wochen dauert die Blockade von Mariupol. | |
Tausende Menschen leben ohne Strom, Wasser, Heizung, medizinische | |
Versorgung sowie ohne Telefon und Internet. Sie leben in einem absoluten | |
Informationsvakuum, ohne zu wissen, was gerade in ihrem Land passiert. | |
Und auch nach mehr als drei Wochen gehen die russischen Luftangriffe auf | |
Mariupol weiter. Die Stadt wird vom Asowschen Meer aus, vom Land und aus | |
der Luft alle dreißig Minuten beschossen. Und es scheint, als ob es in | |
dieser Hölle kein Leben mehr gäbe. Aber das stimmt nicht. | |
„Wagt es nicht, meine Stadt eine tote Stadt zu nennen. Wagt es nicht zu | |
sagen, dass es kein Mariupol mehr gebe“, sagt etwa Alexei Simonow, | |
Eventmanager aus Mariupol. Die Stadt sehe mit den zerstörten und zerbombten | |
Häusern zwar aus der Luft aus wie eine Wüste, doch es leben noch immer | |
unzählige Menschen [1][in den Kellern der Stadt]. | |
Nach Schätzungen des Stadtrats von Mariupol sind das aktuell noch etwa | |
160.000 Menschen. Der Bürgermeister Vadim Boitschenko möchte sie alle aus | |
der Stadt evakuieren. Das Problem dabei ist, dass die russischen Besatzer | |
kategorisch dagegen sind, für die Menschen humanitäre Korridore | |
einzurichten. Sie betreiben eine Politik der systematischen Vernichtung der | |
Zivilbevölkerung. | |
Zerschossene Autos | |
„Wir sind unter Beschuss entkommen“, erzählt die Bewohnerin Anna Drobot. Es | |
gab keinerlei [2][„grüne Korridore“]. Vor ihrer Flucht musste sie noch | |
Freunde abholen. Aber neben einem Laden war eine Panzerschlacht. Sie ist | |
dann in den Hof gerannt und ihre Freunde schrien: „Wo willst du hin? Lauf | |
zurück! Sie bringen dich um.“ Dann ist sie gefallen und wurde auf den | |
Asphalt gedrückt. | |
„Noch nie im Leben hatte ich solch schreckliche Angst. Ich habe mich vom | |
Leben verabschiedet und dachte wirklich, das sei jetzt das Ende. Dann habe | |
ich meinen ganzen Mut zusammengenommen und bin geduckt zum Auto | |
zurückgelaufen. Wir beeilten uns, aus der Stadt hinauszukommen. Diesen Tag | |
werde ich nie vergessen. Wir fuhren, und entlang der Straßen standen die | |
zerschossenen Autos“, sagt sie. | |
So sieht also aktuell die Evakuierung der Bevölkerung aus Mariupol aus. Die | |
russischen Besatzer blockieren die Evakuierungsbusse, die von den | |
ukrainischen Behörden bereitgestellt wurden. Und weil es kaum intakte, | |
nicht zerbombte Autos in der Stadt gibt, läuft das jetzt so ab: Tausende | |
Menschen laufen in einer Reihe zu Fuß aus der Stadt hinaus. Einige müssen | |
80 Kilometer bis Berdjansk zu Fuß zurücklegen, wo sie die Möglichkeit | |
haben, in ukrainische Evakuierungsbusse zu steigen. Die Menschen gehen zwei | |
Tage zu Fuß. Und dann fahren sie noch mal einen Tag bis in das von der | |
Ukraine kontrollierte Saporischschja. Drei Tage für eine Strecke, für die | |
man früher sonst 2,5 Stunden gebraucht hat. | |
Russland blockiert absichtlich die Kolonnen auf dem Weg nach | |
Saporischschja. In den letzten drei Tagen haben die Besatzer abgelehnt, | |
die Menschen tagsüber nach Tokmak, einer Kleinstadt im Gebiet | |
Saporischschja, zu lassen. Die erschöpften, hungrigen Menschen stehen acht | |
bis zehn Stunden auf der Straße, und erst am Abend dürfen sie weiter. | |
„Als wir in Berdjansk in die ukrainischen Busse stiegen, haben die | |
russischen Posten uns zu überreden versucht, nicht nach Saporischschja zu | |
fahren. Sie wollten uns überzeugen, lieber nach Melitopol zu fahren oder in | |
Tokmak zu bleiben. Sie sagten, dass man nicht in die Westukraine fahren | |
solle, das sei zu gefährlich. Wir haben natürlich nicht auf sie gehört“, | |
sagt Alexander G., der Mariupol am 17. März verlassen hat. | |
Eine andere Bewohnerin, Ekaterina A., erzählt: „Mein Bruder steckt in | |
Schwierigkeiten. Sie haben ihn getäuscht und nach Russland gebracht.“ Ihr | |
Bruder ist am 23. März in Mikrorayon, einem Wohngebiet am Stadtrand von | |
Mariupol, in einen Bus gestiegen. Auf dem Bus war ein Schild mit der | |
Aufschrift „Saporischschja“. Also ist er eingestiegen. Er wurde in das | |
besetzte Nikolske, einen Ort in der Region Donezk, gebracht. Und dort sagte | |
man ihm: „Der Bus fährt nach Taganrog“, eine russische Hafenstadt östlich | |
von Mariupol. | |
Von Mariupol nach Sibirien | |
„Mein Bruder hat sich natürlich erschrocken, aber dachte, er könne von dort | |
irgendwie in die Ukraine zurückkommen. Erst auf der anderen Seite der | |
Grenze hat man ihnen gesagt, dass Taganrog keine ukrainischen Geflüchteten | |
aufnimmt, und man sie deshalb nach Tomsk (Stadt in Sibirien; d. Redaktion) | |
bringe. Wo er jetzt ist, weiß ich nicht. Das ist einfach nur schrecklich. | |
Das ist eine Entführung!“, sagt Ekaterina A. | |
Nach Angaben des ukrainischen Außenministeriums haben die russischen | |
Besatzer rund 40.000 Ukrainer gewaltsam außer Landes gebracht. Ungefähr die | |
Hälfte von ihnen stammt aus Mariupol. Am letzten Samstag gab es in Mariupol | |
einen ähnlichen Vorfall. Die Besatzer kamen auf das Gelände eines | |
städtischen Krankenhauses, haben das gesamte medizinische Personal und die | |
Patienten in ihre Fahrzeuge geladen und sind in unbekannter Richtung | |
verschwunden. | |
Und diesen Montag hat der Propaganda-TV-Sender Union, der in dem besetzten | |
Gebiet Donezk schon seit 2014 auf Sendung ist, einen Jungen gezeigt, der | |
Patient in dem Mariupoler Krankenhaus war. Nur deshalb kann man überhaupt | |
wissen, wohin die Ärzte und Patienten gebracht wurden. Der Junge ist Waise. | |
Seine Mutter starb durch Raketensplitter, und auch der Junge selbst wurde | |
schwer verwundet. Und genau diese Leute, die seine Mutter umgebracht haben, | |
haben jetzt die Chuzpe, ihm Fragen zu dieser Tragödie zu stellen. | |
Laut der ukrainischen Ombudsfrau für Menschenrechte, Ludmila Denisowa, | |
wurden seit Kriegsbeginn mehr als zweitausend Kinder von Russland entführt | |
und in russisches Staatsgebiet gebracht. Ihr weiteres Schicksal ist | |
unbekannt. | |
Aus dem Russischen von Gaby Coldewey | |
29 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Anna Murlykina | |
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