# taz.de -- Messestadt in Sachsen: Lieber Leipzig | |
> Die Pop-up-Buchmesse, die bis vor ein paar Tagen in Leipzig gefeiert | |
> wurde, zeigte deutlich, warum diese Stadt ein lebenswerter Ort ist. | |
Bild: In Leipzig lässt sich's gut leben | |
LEIPZIG taz | Nun ist sie gerade einmal seit einigen Tagen vorbei, schon | |
denkt man wehmütig an sie zurück. Ich meine die [1][Pop-up-Buchmesse in | |
Leipzig], bei der kleinere und unabhängige Verlage bewiesen, was sich – | |
Achtung, Kitsch! – mit ein bisschen Mut auch angesichts der unsicheren | |
Coronalage auf die Beine stellen lässt. Das war in der Tat allerhand. | |
Im Grunde schien nicht nur die Literatur, sondern auch Leipzig im Format | |
der Pop-up-Messe zu sich selbst zu finden. Anders als die offizielle, | |
dieses Jahr abgesagte Messe mit ihren piefig-spießigen Bildwelten und den | |
Corporate-Design-Farben Blau und Weiß (farbpsychologisch irgendwo zwischen | |
mittelständischer Unternehmensberatung und bayerischer Würstchenwerbung | |
angesiedelt), wirkte das Pop-up-Format frisch, interessant, gemütlich. | |
In den Messehallen, wo man sonst als promisker Zuhörer von Bühne zu Bühne | |
eilt, um Autoren lesen zu hören, können Konsummessen gefeiert werden, aber | |
eigentlich wünscht man sich, dass die Literatur sich nachhaltig von diesem | |
Ort verabschiedet. Das Lesen in Kneipen und Bars ist doch so viel | |
gemütlicher, obendrein wirkt selbst das Alkoholtrinken am frühen Nachmittag | |
in einer Bar sozialer und weniger absturzgefährdet als in den seelenlosen | |
Hallen eines Multifunktionsgebäudes. | |
Die Pop-up-Messe ermöglichte den Blick auf das, was [2][Hypezig-Leipzig] | |
seit nunmehr einem Jahrzehnt Menschen verspricht: einen kreativen Ort mit | |
viel Freiraum, der trotzdem überschaubar ist. Der gerade groß und | |
interessant genug ist, um nicht zu langweilen, aber auch nie überfordert. | |
Ein Ort auch für Leute, die keine Lust mehr auf Kleinstadt- oder | |
überteuertes Großstadtleben haben, und überhaupt: die keine Lust haben auf | |
Berlin. Leipzig wirkt wie Berlins kleine, vielleicht etwas hübschere | |
Schwester – okay, no offense Berlin, und überhaupt, das nennt man ja wohl | |
Lookism! – also: für Leipzig als ungefährlichere Variante von Berlin | |
entscheiden sich Menschen wie ich, die ein Leben in einem Viertel | |
bevorzugen, das gerade genug Offenheit verspricht, dass man nicht im | |
biederen Einheitsbrei erstickt, aber dann doch so überschaubar ist, dass | |
man nicht völlig den Verstand verliert. | |
## Als ob täglich ein Supermarkt brennen würde | |
Zugleich ist Leipzig berühmt-berüchtigt für seine „linksradikale“ Szene.… | |
bundesdeutschen Medien gewinnt man den Eindruck, hier brenne täglich | |
mindestens ein Supermarkt, und das [3][Connewitzer Kreuz] hat die | |
Dimensionen eines mythischen Molochs angenommen, dabei hängen dort vor | |
allem Punks herum, die gerne einen Euro hätten. | |
Als ich noch in Dresden lebte, und Dresden wahlweise durch [4][Pegida] oder | |
durch eine Autorenschaft, [5][die sich durch rechte Verlage hofieren ließ], | |
von sich hören machte, da wurde ich von Berliner Kollegen immer wieder | |
gefragt, warum ich denn nicht nach Berlin ziehe. Weil die Stadt mich | |
überfordert. Als Nichtberliner nimmt man Berlin als Ort der tausend | |
Möglichkeiten wahr – da geht doch immer was, an jedem Wochentag. Aber nicht | |
nur was Aufmerksamkeitsregimes anbelangt, konkurrieren sich Bars, | |
Restaurants, Lesebühnen und Konzertsäle womöglich zu Tode. Es gibt nichts | |
Ermüdenderes als eine Stadt, die nie schläft. | |
Wie gesagt, das ist so die Perspektive der Außenseiterin, die Berlin gut | |
zweimal im Jahr bereist, und nach circa vier Stunden Aufenthalt panikartig | |
(ich sage panikartig, ja!) verlässt. Es beginnt damit, dass man in Berlin | |
nie schief angeguckt wird. Ich verstehe, dass das für Menschen, die ihr | |
Leben lang schief angeguckt wurden, eine regelrechte Erleichterung sein | |
muss, aber diese absolute und totale Toleranz erscheint eben nur wie die | |
Kehrseite der für eine Metropole wie Berlin notwendigen Indifferenz dem | |
andern gegenüber. | |
Wer wie ich aus einer Kleinstadt kommt, in der jeder auf alles guckt, und | |
in der man schon früh mit dem Hass auf alles Fremde imprägniert zu werden | |
droht, der legt sich, wenn er denn nicht zum biederen Kleinstädter werden | |
will, eine Haltung der totalen Differenz zu: Man versucht, seine | |
Andersartigkeit zu betonen, aber damit kommt man in Berlin nicht weit, denn | |
dort sind immer schon alle so anders, wie es eben nur geht. | |
## Postwendend ausgespuckt | |
Vor ein paar Jahren war ich auf der Party eines Magazins, das seine | |
Jubiläumsausgabe in Berlin feierte. Ich stand orientierungslos auf einem | |
Flur, suchte den Weg von den Toiletten zurück zur Tanzfläche, als ein | |
kleiner Mann mit Hut auf mich zutrat. Er packte mich wortlos an den | |
Schultern und schob mich zur Seite, mit dem Gesicht zur Wand, und ging | |
weiter; und diese Szene, die man sich so ein bisschen Monty-Python-mäßig | |
vorstellen muss, ist aus irgendeinem Grund seit Jahren mein Bild von | |
Berlin. | |
Neulich sagte ein Fotograf zu mir, er probiere es zwar immer mal wieder mit | |
Berlin, aber die Stadt spucke ihn stets postwendend aus. Das war das | |
perfekte Bild, es leuchtete mir unmittelbar ein. Denn es ist nicht einfach | |
so, dass ich Berlin nicht mag (aber das ist sicher Teil des Problems), es | |
wirkt eher so, als bestehe da eine Form der gegenseitigen Abstoßung. | |
Aber ich wollte doch von Leipzig sprechen, wo ich noch nie verschoben | |
wurde. Aber um Leipzig zu verstehen, muss man es eben abgrenzen, und zwar | |
einerseits von Berlin und andererseits von Dresden, der sächsischen | |
Referenzstadt. Leipzig liegt nicht nur, was die in ICE-Fahrtzeit bemessene | |
Entfernung anbelangt, auf der Mitte der Strecke zwischen Berlin und | |
Dresden. Es ist auch, was seine Identität betrifft, der exakte Mittelwert. | |
Anders als Dresden, Beamtenstadt durch und durch, und was den Kunst- und | |
Literaturgeschmack anbelangt stets auf ein bildungsaffines, aber eben auch | |
zutiefst konservatives Bürgertum ausgelegt, ist Leipzig offener, hat | |
Szenen, musikalische, literarische, künstlerische. Es ist kein Zufall, dass | |
man im Kontext von Dresden stets nur von dem einen Szeneviertel, der | |
[6][Neustadt] eben, spricht, denn dort konzentriert sich alles, während in | |
Leipzig jeweils andere Szenen die Stadtteile Südvorstadt, Plagwitz oder | |
Lindenau dominieren. Hier sind die Dinge in Bewegung, nicht ganz so | |
dramatisch wie in Berlin vielleicht, aber doch erheblich mehr als in | |
anderen Teilen Sachsens. | |
## Die etwas dreckige Arbeiterstadt | |
Gerade was die Literatur anbelangt, ist Leipzig, so will es mir scheinen, | |
der Ort, mehr als sein Hype. Nicht nur im historischen Maßstab, weil hier | |
alles, was Rang und Namen in Philosophie und Philologie hat, studierte, | |
oder weil hier stilbildende und traditionsreiche Verlagshäuser und | |
Publikationsreihen entstanden – etwa Meyers Konversations-Lexikon. By the | |
way, wussten Sie, dass sich Hans Meyer, wenn ihn das Verlegerdasein | |
ermattete, als „Afrikaforscher“ hervortat und dabei sogar [7][die Spitze | |
des Kilimandscharo stahl]? So erhielt auch Leipzig seinen Platz in der | |
unrühmlichen Geschichte des Kolonialismus. | |
Auch das Deutsche Literaturinstitut trägt zum Ruf Leipzigs als | |
Literaturstadt bei. Feuilletonistisch noch gar nicht aufgearbeitet scheint | |
mir, dass es die schreibenden Frauen sind, die das Bild der etwas dreckigen | |
Arbeiterstadt (oho, Clemens Meyer) abgelöst haben. [8][Bettina Wilpert], | |
[9][Ronja Othmann], [10][Heike Geißler] lassen nicht nur ihre | |
Protagonistinnen nach Leipzig ziehen; sie taten es selbst. Auch deswegen | |
fühlt sich Leipzig angenehm weiblich an, [11][Tomboy]-weiblich. | |
Dabei war Leipzig mal furchtbar dreckig, nicht im sexy Sinne, nicht wie | |
Berlin also. Die zahlreichen Seen, die das Wohnen in Leipzig so angenehm | |
machen, sind Produkte der Ausbaggerung, Ausschichtung, Unterkellerung der | |
Naturlandschaft. Filterlose Braunkohlekraftwerke pulverten in die Luft, was | |
sich auf der weißen Wäsche und den zarten Kinderlungen als schwarze | |
Rußschicht ablagerte. | |
Leipzig ist nicht nur seinen Dreck losgeworden, es verliert auch seinen | |
Dialekt. So wie man dem Mythos nach in Berlin vor allem schwäbelnde | |
Menschen trifft (oder ist der Schwaben-Run längst vergangen?), hört man in | |
Leipzig allerorten bei der jungen Generation nur noch feinstes Hochdeutsch, | |
allenfalls leicht sauerländisch eingefärbt. So wird der Dialekt zu einem | |
Generationenartefakt, der nur noch den älteren anhängt, wobei „ältere“ h… | |
die Generation 30+ meint. | |
Dabei klingt Leipzig – im Gegensatz zu Berlin, wo alles stets härter | |
grollt, als es gemeint ist – geradezu zärtlich. | |
27 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Marlen Hobrack | |
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