| # taz.de -- Kinotipp der Woche: Before Hollywood | |
| > Bekannt wurde er mit „Casablanca“. Nun würdigt das Zeughauskino das | |
| > Frühwerk des gebürtigen Ungarn Mihály Kertész mit einer Werkschau. | |
| Bild: „Der junge Medardus“ (R: Mihály Kertész, AT 1923) | |
| Zögerlich und mit aufgerissenen Augen erhebt sich der Mann im Zimmer vom | |
| Tisch, nähert sich der Haustür, die sich plötzlich von selbst geöffnet hat. | |
| Seine Frau sitzt an der Nähmaschine, sein Sohn folgt dem Vater vom Tisch | |
| aus mit dem Blick. Nach einem kurzen Blick vor die Tür, kehrt der Vater um, | |
| schließt die Tür wieder und setzt sich. | |
| Die Tür, die sich selbst öffnete, die aufgerissenen Augen waren | |
| Vorahnungen: der Bruder des Mannes kehrt aus der Kriegsgefangenschaft des | |
| ersten Weltkriegs zurück. Doch in Mihály Kertész’ „Jön az öcsém“ (�… | |
| Brother is Coming“) kehrt der Bruder nicht einfach aus der | |
| Kriegsgefangenschaft zurück, er trägt eine rote Fahne über die Anhöhe, | |
| Massen folgen ihm, der Bruder bringt den Sozialismus. | |
| Der Film entstand 1919 in der Zeit der ungarischen Räterepublik, die gerade | |
| einmal ein halbes Jahr bestand, und läuft am Sonntag im Zeughauskino als | |
| Vorfilm zu einem der wenigen erhaltenen Langfilme aus der Zeit, bevor | |
| Kertész in die USA ging und aus Mihály Kertész Michael Curtiz wurde. | |
| [1][Noch bis zum 1. Mai zeigt das Zeughauskino Filme aus Kertész/Curtiz’ | |
| europäischer Zeit]. | |
| „[2][A Tolonc“/ „The Undesirable]“ von 1914, der älteste erhaltene Fil… | |
| Kertész, ist deutlich von Verbindungen zum Theater geprägt. 1902 wurde Jenő | |
| Janovics zum Leiter der Nationalbühne in Kolozsvár (heute Cluj) ernannt. | |
| Janovics etablierte mit Unterstützung des französischen Unternehmens Pathé | |
| neben dem Theater eine Filmproduktion. | |
| In dieser zweiten ungarischen Filmproduktion abseits von Budapest | |
| entstanden neben Janovics eigenen Filmen auch die ersten Filme von | |
| Alexander Korda/Korda Sándor und Mihály Kertész. „A Tolonc“ beruht auf | |
| einem Theaterstück des 19. Jahrhunderts, einige der Schauspieler_innen | |
| entstammen der ungarischen Nationalbühne. | |
| Der Film erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die von ihrem sterbenden | |
| Vater erfährt, dass er nicht ihr leiblicher Vater ist und ihre Mutter für | |
| den Mord an ihrem leiblichen Vater im Gefängnis sitzt. Die junge Frau macht | |
| sich auf in die Stadt und nimmt eine Stellung als Haushaltshilfe an. Der | |
| Familienvater des Hauses stellt ihr nach, der Sohn der Familie macht ihr | |
| den Hof und schließlich wird die junge Frau noch des Diebstahls beschuldigt | |
| und in das Dorf ihrer Geburt verbannt. | |
| „A Tolonc“ ist zwar über weite Strecken ein sehr statischer Film mit | |
| theatralen Räumen, in denen die Schauspieler_innen des Films theaterhaft | |
| posieren, wagt zwischen diesen Szenen aber immer wieder kurze Ausbrüche in | |
| lebendigere Formen der Inszenierung. | |
| Der Unterschied zu „[3][Der junge Medardus]“ von 1923 könnte nicht größer | |
| sein. Elegant webt Kertész in die Monumentalhandlung des österreichischen | |
| Kampfes gegen Napoleon die Geschichte des jungen Studenten Medardus Klähr | |
| aus Wien in gleich zwei Liebestragödien. | |
| Jede theatrale Statik ist wie weggewischt. Die Bilder wechseln zwischen | |
| Straßenbildern, Bürgerhäusern und der imposanten Kulisse von Schloss | |
| Schönbrunn, zwischen Massenszenen und Miniaturen. | |
| Mit der Retrospektive der frühen Filme Mihály Kertész’ bietet das | |
| Zeughauskino nicht nur die Gelegenheit, das Frühwerk eines später bekannten | |
| Hollywood-Regisseurs zu entdecken, sondern lädt ein, die europäischen | |
| Stummfilme von Kertész als Teil als selbstständige Werke zu würdigen. | |
| Auch für die frühen Filme Kertész’ gilt eine Beobachtung von Béla Balasz | |
| aus einer Kritik zu „Der junge Medardus“: „Nicht nur das Ganze wirkt. Jede | |
| Ecke ist ausgearbeitet, hat Physiognomie.“ | |
| 23 Mar 2022 | |
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| [2] https://www.dhm.de/zeughauskino/vorfuehrung/a-tolonc-7697/ | |
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| ## AUTOREN | |
| Fabian Tietke | |
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