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# taz.de -- Kriegsflüchtlinge in Berlin: Molotowcocktail voller Emotionen
> Menschen fliehen vor dem Krieg. Sie verdienen Empathie. Unsere Autorin
> aber erzürnt, dass der Umgang mit nichtweißen Geflüchteten eindeutig
> rauer ist.
Bild: Es werden immer mehr, die Hilfe in Berlin suchen; vor allem kommen Frauen…
„Helfen Sie, bitte, Luft, Luft“, sagt die Frau radebrechend. Eigentlich
meint sie Lift, also Fahrstuhl, so sehr sie auch nach Atem ringt. Eine
Mutter unterwegs. Rund 35 Jahre alt, aber hart auf die 50 zugehend. Ihre
Stirn ist mit tiefen Furchen versehen. Mit einer Hand schiebt sie einen
Kinderwagen. Im Schlepptau hat sie ihre sprichwörtlichen Siebensachen. Was
nicht in den zum Bersten vollen Trolleykoffer mit dem lädierten Rädchen
hineinpasste, trägt sie im Rucksack.
[1][Hochbetrieb am Hauptbahnhof]. Emporgestreckte Plakate mit kyrillischer
Schrift, eine krächzende Kakofonie von Durchsagen. Vor lauter Menschen ist
der Bahnsteig kaum zu sehen. Die Mutter und ich stehen einander im Weg.
Ihre Stimme, die bühnenreife Verzweiflung kundtut, löst bei mir gewisse
Reflexe aus.
Ich, gerade aus einem umgeleiteten ICE ausgestiegen, ertappe mich dabei,
nach meinem Laptop und anderen Wertsachen zu tasten. Ja, auch Schwarze
beherrschen Racial Profiling. Allerdings ist die Mutter weder eine
Bettlerin noch eine Betrügerin. Wie denn auch? Sie hat blondes Haar und
blaue Augen. Laut Mainstream-Medien geht von solchen Menschen keine Gefahr
aus.
Sie ist mit dem aus Krakau eingetroffenen Intercity gekommen. Noch vor
einem Monat habe sie als Sekretärin in Lwiw gearbeitet, bis russische
Raketen ihr Bürogebäude in Brand gesetzt hätten, erzählt sie. Ihr Mann sei
holterdiepolter einberufen worden. Ich lotse sie durch das Chaos, bis zwei
Studentinnen, deren Westen mit blau-gelben Flaggen versehen sind, uns
entgegenkommen.
## Sie stehen sich die Beine in den Bauch
Knapp fünf Minuten später sitze ich in der Premium-Lounge der DB.
Tapetenwechsel mit Teppichboden und Ohrensessel, Panoramablick auf Spree
und Regierungsviertel. Auf dem Washingtonplatz, unmittelbar vor meiner
Nase, greift neuerdings ein Zeltlager um sich, und ebenda bewegt sich alles
im Schneckentempo. Geflüchtete, die kurz zuvor noch in Lohn und Brot
standen, stehen sich nun die Beine in den Bauch, damit sie, meist Frauen,
und ihre Kinder versorgt werden können.
Während ich die Willkommenskultur begutachte, nippe ich an einem
Molotowcocktail voller Emotionen. Klar, diese Menschen verdienen
bedingungslos unsere Empathie, ihnen sollen Unterkünfte und Überweisungen
zuteil werden. Aber es erzürnt mich, dass der Umgang mit nichtweißen
Geflüchteten eindeutig rauer ist. Afghan*innen werden erbarmungslos im
Stich gelassen. Afrikaner*innen ertrinken vor den Traumstränden des
Mittelmeeres und erfrieren an der Ostgrenze der Nato.
Kein Problem hat Deutschland damit, dass auf der Museumsinsel zigtausend
Schädel aus dem „Schwarzen Kontinent“ lagern. Die deutsche
Kolonialgeschichte ist nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart. Denn weiße
Leben zählen, und zwar überall und über alles. Die Würdelosigkeit dieser
Menschenverachtung ist unfassbar. Und wenn wir BIPoC auf diese eklatante
Diskrepanz hinweisen, wirft man uns vor, undankbar oder gar rassistisch zu
sein.
Meine beiden Omas, meine Mutter und meine Tanten, allesamt Black Women,
haben von den USA aus Dutzende Care-Pakete nach Deutschland verschickt,
obwohl ihre Männer wenige Jahre zuvor durch Flak und Panzerfäuste der
Wehrmacht unter Beschuss genommen worden waren. Wir nahmen an der Berliner
Luftbrücke teil, ein Schwarzer Cousin schob Wache am Checkpoint Charlie,
als ich 1961 geboren wurde.
## Wir „Multikultis“ können Multitasking
Übrigens: Ein amerikanischer Journalist namens Terrell Jermaine Starr
chauffiert Ukrainer*innen durch Kampfgebiete in Richtung Sicherheit.
Starr ist Schwarz. Wir „Multikultis“ können also Multitasking. Wir meckern
nicht nur, wir packen an.
Seit Montag finden die [2][Internationalen Wochen gegen Rassismus] statt.
Wäre das nicht eine ideale Gelegenheit, Menschen in Not gleichberechtigt zu
behandeln? Ja, es wird enger, dafür rückt man zusammen.
Das erinnert mich an meine Kindheit. Wenn wir Besuch zum Essen hatten,
wurde ich in den Keller geschickt, um die Tischverlängerung zu holen. Es
gibt genug Platz für unerwartete Gäste*innen in der Not. Wir müssen aber
dafür Sorge tragen, dass niemand an den Tischbeinen der Toleranz sägt.
15 Mar 2022
## LINKS
[1] /Neues-Ankunftszentrum-fuer-Gefluechtete/!5841030
[2] https://stiftung-gegen-rassismus.de/iwgr
## AUTOREN
Michaela Dudley
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Hauptbahnhof Berlin
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Kolumne Frau ohne Menstruationshintergrund
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Black History
Afrodeutsche
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