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# taz.de -- Flucht aus der Ukraine nach Rumänien: Das Schwierigste kommt noch
> In Sighet kommen täglich etwa tausend Flüchtende über die
> ukrainisch-rumänische Grenze. Politiker bitten Ministerin Schulze beim
> Besuch um EU-Solidarität.
Bild: Beeindruckt von der effektiven Hilfe: Entwicklungshilfeministerin Svenja …
Sighet taz | Es ist ein sonniger Tag in Sighet an der
rumänisch-ukrainischen Grenze. Der Himmel ist strahlend blau, als wäre es
ein Sommertag. Aber das täuscht. Am Horizont funkelt noch Schnee auf den
Bergen. Nachts ist es minus acht Grad. Jeden Tag kommen hier ungefähr
tausend Flüchtlinge aus dem Osten an, knapp die Hälfte mit dem Auto, viele
zu Fuß. Zumeist Mütter mit Kindern, mit einem Rollkoffer und der Katze.
Mehr konnten sie nicht mitnehmen.
Tatjana, graue kurze Haare, war fünf Tage unterwegs. Sie ist mit ihrer
Tochter Svetlana und deren Kindern, zwei Jungs im Grundschulalter, aus
Nikolewa in der Südukraine geflohen, einem Ort 100 Kilometer von Odessa
entfernt. Sie hat eine rot-braune Stola umgeschwungen. Eine Dame. Zu Hause
verkauft sie in ihrem Laden Knöpfe. „Genau jetzt“, sagt sie, „bombardier…
sie Nikolewa“. [1][Auf der Flucht] haben sie in Kindergärten übernachtet
und sich irgendwie durchgeschlagen.
Jetzt sind sie in Sicherheit vor dem [2][Krieg], wenigstens das. In einem
kleinen Unicef-Zelt, direkt hinter der Grenze. Unicef leistet seit dem 2.
März hier Erste Hilfe für die Ankommenden. Manche brauchen psychologische
Hilfe, manche Decken. Viele wollen sofort weiter – nach Italien oder
Deutschland, etliche nach Polen oder Tschechien, wo viele ukrainische
Arbeitsmigranten leben. Manche sind so erschöpft, dass sie in der
Zeltstadt, die die rumänischen Behörden eilig hochgezogen haben, erst mal
bleiben.
Tatjana, die manchmal ein paar englische Worte einstreut, will schnell
weiter. Nach Spanien, wo in Madrid eine andere Tochter lebt. Weg vom Krieg.
Dimitri, einer der Enkel, spielt in dem kleinen Zelt mit einer
Übersetzerin. Alle sind hier zugewandt, freundlich, entspannt. Dimitri hat
mit Filzstiften einen T-Rex gemalt. Und auf der Rückseite Panzer. Viele
Panzer. Als es die ersten Angriffe gab, haben sich die Kinder im Keller
versteckt. „Die beiden Jungen hatten Angst, wegen der Bomben“, sagt
Svetlana, die Mutter. In Nikolewa hat sie bei Vodaphone gearbeitet. Was vor
ein paar Tagen noch normal war, ist zerborsten, fast verschwunden.
„Wenn der Krieg vorbei ist, wollen wir zurück“, sagt Tatjana und ihre
Tochter nickt still. Tatjanas Mann ist in Nikolewa gebleiben. „Er wollte
das Haus nicht alleine lassen“, sagt Tatjana. Er blieb, auch aus Angst vor
Plünderungen. Er will auch nicht nach Spanien. Es sei ihm zu heiß, sagt
Tatjana. Sie lacht. Es ist ein Lachen, das das Absurde der Situation zu
vermessen scheint.
Kein EU-Staat hat eine so lange Grenze mit der Ukraine wie Rumänien. 600
Kilometer. Zweieinhalb Millionen Menschen sind vor dem Krieg geflohen, eine
Million davon Kinder. Rund 400.000 haben seit dem 24. Februar die Grenze
nach Rumänien passiert. Der rumänische Zoll kontrolliert nur sporadisch
Pässe. Faktisch ist die EU-Außengrenze offen. Die Flüchtlinge können in
Rumänien, wie in Deutschland, die Züge umsonst nutzen.
Unicef hat an der Grenze vier, fünf kleine Zelte aufgebaut, sogenannte Blue
Dots. Es gibt, anders als 2015 syrische Geflüchtete kamen, keine
Ressentiments gegen die Hilfesuchenden, im Gegenteil. Rumänien begegnet den
Ukrainern mit Mitleid und Sympathie. Es gibt viele freiwillige Helfer,
nicht nur die NGOs, auch ganz normale Leute, Bäcker oder Lkw-Fahrer. Manche
kommen mit ihren Autos zur Grenze und transportieren Flüchtlinge weiter.
Einfach so. Obwohl auch in Rumänien der Sprit sehr teuer geworden ist, 1,60
Euro.
In Rumänien wird diese Hilfsbereitschaft durch die gemeinsame Religion –
die Orthodoxie – erleichtert. Auch die geteilte Geschichte bis 1989, die
Erinnerung an Sowjetzeiten, Warschauer Pakt und russische Vorherrschaft,
verbindet. Nützlich ist auch, dass die Grenzregion multisprachig ist.
## „Wir wollen nichts von Berlin“
[3][Svenja Schulze], die deutsche SPD-Ministerin für wirtschaftliche
Zusammenarbeit, ist am Montag eigens angereist, steht in der kleinen
Zeltstadt, ein Dutzend blaue Zelte, ein paar Dixi-Klos. Die Zelte sind
heute leer, letzte Woche war das noch anders, versichern die rumänischen
Offiziellen. Und es steht zu befürchten, dass diese Zelte schon bald wieder
gebraucht werden. Denn der Flüchtlingsstrom wird nicht abreißen. Schulze
ist vor allem von den geflohenen Müttern beeindruckt, ihrer Stärke. Sie
redet mit Unicef-Vertretern, Geflüchteten und rumänischen
Regierungsvertretern.
Neben Schulze steht Mircea Abrudean, groß, breitschultrig, mit jungenhaftem
Gesicht. Er ist Chef des Premierministeramtes – was in Berlin
Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt ist. „Wir wollen nichts von Berlin“, sagt
er mit fester Stimme, und Schulze nickt. Das ist ungewöhnlich für
Flüchtlingskrisen, in denen in der EU die Grenzländer Hilfe von den Staaten
wollen, die nicht betroffen sind. Diesmal nicht. Viel ist anders als 2015.
„Wir wollen etwas von der EU“, sagt Abrudean. „Wir wollen Solidarität von
Brüssel für die zweite Welle.“ Denn das ist in Sighet allen klar: Jene, die
direkt nach Kriegsbeginn kamen, waren gut organisiert. Sie kamen mit ihren
Autos über die Grenzen, wussten, in welches Land sie weiterreisen wollten,
und hatten Geld. Die zweite Welle von Geflüchteten ist anders. Ärmer. Es
sind weniger dabei, die Englisch können. Oder die eine Tochter in Madrid
haben, bei der sie unterkommen können.
Für diese zweite Welle hofft Abrudean auf Hilfe aus Brüssel. Weil Ärmere,
die bleiben, mehr Geld kosten als Reiche, die auf der Durchreise sind. Auch
Gabriel Vockel, Vizedirektor von Unicef in Rumänien, glaubt, dass das
Schwierigste noch bevorsteht. Es gibt in der Ukraine rund 200.000 Kinder,
die in Heimen leben. Die Zahl unbegleiteter Kinder und Jugendlicher werde
zunehmen. Derzeit betreibt Unicef zwei Blue Dots wie in Sighet, bald werden
es zehn an der rumänisch-ukrainischen Grenze sein. Das Schlimmste, das
wissen alle in Sighet, es kommt noch.
14 Mar 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Stefan Reinecke
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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Rumänien
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Europäische Union
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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