# taz.de -- Flucht aus Kiewer Vororten: Eine fast unmögliche Rettung | |
> Im ukrainischen Irpin toben erbitterte Kämpfe, tausende Menschen | |
> versuchen sich in die Hauptstadt zu retten. Doch auch dort schlagen | |
> Raketen ein. | |
Bild: Von der Brücke über den Fluss Irpin sind nur noch Trümmer übrig | |
Вы также можете прочитать этот текст [1][на р… | |
KIEW taz | Ein schrecklicher Lärm ist zu hören. Es tobt ein erbitterter | |
Kampf. Eine riesige schwarze Rauchwolke steigt am Himmel auf. Gerade sind | |
fünf oder sechs Geschosse in ein mehrstöckiges Wohnhaus eingeschlagen, das | |
die ukrainischen und die russischen Kämpfer wie ein Schutzschild | |
voneinander getrennt hatte. Wir sind in der Stadt Irpin, einem Vorort etwa | |
10 Kilometer von Kiew entfernt. Die Zufahrtsstraßen sind geschlossen, nur | |
Kleinbusse fahren noch mit hoher Geschwindigkeit hin und her. Die Rettung | |
der Einwohner, von denen noch einige zehntausend in der Stadt ausharren, | |
hat begonnen. | |
Bis zu dem russischen Großangriff auf die Ukraine galt die kleine Stadt | |
Irpin als besonders attraktiv für junge Familien. Ganz in der Nähe von | |
Kiew, aber umgeben von Wäldern und herrlicher Natur, mit Wohnungspreisen | |
deutlich niedriger als in der ukrainischen Hauptstadt. Darum sind hier in | |
den letzten Jahren viele moderne Wohnkomplexe entstanden. Doch [2][nach | |
einer Woche Krieg] sind davon jetzt nur noch Ruinen übrig. | |
Nikolai, der gerade seine Familie aus der Stadt herausholt, erzählt: „Wir | |
haben sehr hart gearbeitet, um uns in Irpin eine Wohnung kaufen zu können. | |
Eine eigene Wohnung war immer unser Traum. Und nun verlieren wir all das, | |
wovon wir geträumt hatten. Außer dem, was wir jetzt mitnehmen konnten, | |
besitzen wir nichts mehr.“ Und solche wie Nikolai gibt es zu Tausenden | |
unter denen, die jetzt in einer endlosen Schlange auf ihre Evakuierung | |
warten. | |
Kaum hatte die russische Offensive auf die Kiewer Vororte begonnen, | |
[3][sprengte das ukrainische Militär die Brücke über dem Fluss zwischen | |
Kiew und Irpin.] Das war eine taktische Überlegung, um die feindlichen | |
Panzer am weiteren Vorrücken zu hindern. Aber damit wurde gleichzeitig auch | |
die Evakuierung der Zivilbevölkerung erschwert. Tausende Menschen hatten | |
versucht, in wilder Panik die Brücke zu erreichen und so die Stadt zu | |
verlassen – während zur gleichen Zeit die Raketen über ihre Köpfe flogen. | |
Jetzt bleiben ihnen nur die Brückentrümmer, um den Fluss Irpin zu | |
überqueren. | |
## Nicht das Gefühl, in Sicherheit zu sein | |
Unter den fliehenden Menschen sind auch Kleinkinder, die pausenlos weinen, | |
weil sie sich vor dem Lärm am Himmel erschrecken. Noch erschrockener sind | |
die alten Menschen, die sich kaum noch bewegen können. Ukrainische Soldaten | |
und Freiwillige tragen eine hochbetagte Frau auf einer Decke über den | |
Fluss. Sie hält ihren Gehstock fest umklammert, die Augen geschlossen, ihr | |
Gesicht ist völlig ausdruckslos. Einen Augenblick scheint es, als ob sie | |
gar nicht mehr lebt. | |
Tausende Menschen suchen unter den Trümmern der zerstörten Brücke Schutz | |
vor den Luftangriffen, während sie auf ihre Rettung warten. Auf der anderen | |
Seite des Flusses werden die Menschen in kleine Busse verladen. Sie sind | |
fensterlos, bis zum Krieg wurden darin Waren transportiert. Jetzt | |
evakuieren die mutigen freiwilligen Fahrer unter Raketenbeschuss Menschen | |
damit. Sobald der Transporter 500 Meter von der Brücke entfernt in | |
Sicherheit ist, steigen die Menschen in Autobusse um und fahren weiter nach | |
Kiew. | |
Auf einem der Busse steht mit roter Schrift „Kinder. Menschen. | |
Freiwillige“. Aus den stockdunklen Transportern steigen verstörte weinende | |
Frauen, Kinder und alte Menschen aus. Das fortwährende Donnern der Raketen | |
gibt ihnen nicht das Gefühl, schon in Sicherheit zu sein. Alle, die noch | |
selber laufen können, rennen zu den bereitstehenden Autobussen. Menschen in | |
Rollstühlen warten darauf, dass man sie dorthin trägt. | |
Ein älteres Ehepaar, das es nicht in so einen Kleintransporter geschafft | |
hatte, geht zu Fuß von der Brücke zum nächsten Checkpoint, wo die | |
Evakuierungsbusse stehen. Als die Frau nur noch sehr langsam laufen kann, | |
verlassen den Mann die letzten Kräfte und er fällt mitten auf der Straße | |
um. Ein Soldat und ein Freiwilliger rennen auf ihn zu, um den Mann von dem | |
offenen Platz fortzubringen, wo in jedem Augenblick ein Geschoss | |
einschlagen kann. Sie packen ihn unter den Armen und zerren ihn weg. Nach | |
etwa 200 lebensrettenden Metern kniet sich der alte Mann einfach auf die | |
Straße und versucht, wieder zu Kräften zu kommen. Er schweigt. Seine Frau | |
steht unter Schock. Sie lehnt jede Hilfe ab. | |
Als bei Einbruch der Dämmerung die Kampfhandlungen zunehmen, geht die | |
Rettung langsamer voran. Diejenigen, die es heute nicht mehr aus der Stadt | |
heraus geschafft haben, werden es morgen wieder versuchen. | |
Dmitri, der ursprünglich von der Krim stammt, ist [4][nach der russischen | |
Annexion der Halbinsel 2014] mit seiner Familie nach Irpin gekommen. Als | |
die Invasion begann, hatte er zunächst seine Frau und sein Kind in | |
Sicherheit gebracht und dann selber eine Freiwilligengruppe in Irpin | |
zusammengestellt. Gemeinsam mit anderen Freiwilligen organisierten einige | |
von ihnen Hilfe für diejenigen, die in der Stadt geblieben waren. Andere | |
halfen bei der Evakuierung. Am Samstag wurde ein Transporter, der mit einem | |
roten Kreuz gekennzeichnet war, angegriffen. Der Fahrer des | |
Rettungsfahrzeuges wurde an der Hüfte verletzt. Alle blieben am Leben, aber | |
die Hilfe für die Bevölkerung wurde erschwert. | |
Am Sonntag ging die Hilfe für die Menschen aus Irpin weiter, aber die | |
Intensität der Gefechte nahm zu. Keine Waffenruhe, keine grünen Korridore | |
zur Evakuierung der Bevölkerung, keine Zugeständnisse des russischen | |
Militärs; es setzte die Angriffe auf Kiew fort. Vor den Augen von | |
Journalisten schlug eine Rakete in einer der Hauptstraßen von Kiew ein, auf | |
der Menschen zu einem Evakuierungspunkt rannten. Mehrere Menschen kamen | |
dabei ums Leben. | |
Der Journalist Andrei Dubtschak, der dieses Ereignis filmte, sagte: „Die | |
russische Armee greift gezielt die Zivilbevölkerung an, die versucht, aus | |
Irpin fortzukommen. Das ist eine dokumentierte Tatsache. Vor meinen Augen | |
starben eine Frau, ein Junge und ein Mädchen im Teenager-Alter. Offenbar | |
handelte es sich um eine Familie.“ In seinem Video ist zu sehen, wie ihre | |
Koffer in alle Richtungen fliegen und nur ein Käfig mit einem Haustier auf | |
der Straße stehen bleibt. | |
„Sie vernichten uns“, sagt leise ein alter Mann, dem es gelungen ist, aus | |
der beschossenen Stadt zu entkommen. | |
Die Menschen haben alles hinter sich gelassen, sie konnten nur ihr Leben | |
retten. Sie wissen nicht, wohin die Evakuierungsbusse sie bringen und wo | |
sie die kommende Nacht verbringen werden. Genauso wenig, wie sie wissen, | |
wann sie nach Hause zurückkönnen und ob von diesem Zuhause überhaupt noch | |
etwas vorhanden ist. Doch egal, was vor ihnen liegt, sie sind dem Tod | |
entkommen, und das ist vielleicht das Einzige, worüber sie sich in diesem | |
hoffnungslosen Albtraum freuen können. | |
Aus dem Russischen [5][Gaby Coldewey] | |
6 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Anastasia Magasowa | |
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