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# taz.de -- Regisseur über Diktatur in Argentinien: „Barfuß mit Kontakt zur…
> Campo de Mayo in Buenos Aires. Der Dokumentarfilm „Camuflaje“ begleitet
> den argentinischen Schriftsteller Félix Bruzzone an einen verbotenen Ort.
Bild: Der argentinische Regisseur Jonathan Perel während der Berlinale am 12.2…
taz: Herr Perel, in Ihrem Dokumentarfilm zeigen Sie ein weniger bekanntes,
grünes und verwildertes Buenos Aires. Wohin führt uns „Camuflaje“?
Jonathan Perel: Nach Campo de Mayo. Es ist die größte Militärbasis in
Argentinien. Das Gelände an der Peripherie misst fast ein Drittel der
Fläche von Buenos Aires. Hier befand sich während der Diktatur nicht nur
eines der größten geheimen Gefangenenlager, auch in den Jahren danach
gingen von dort mehrfach Aufstände des Militärs aus.
Und heute?
Die Viertel in der Nachbarschaft unterhalten ein gespaltenes Verhältnis
zwischen Attraktion und Abwehr zu dem riesigen Naturareal. Charakteristisch
für den Ort sind seine etwas unscharfen Grenzen. Diese fehlende Klarheit,
wie und bis wohin man ihn betreten kann, das macht der Film, glaube ich,
deutlich. Eine große Durchgangsstraße öffnet ab 8 Uhr morgens und wird
abends um 20 Uhr wieder geschlossen. Öffentliche Züge fahren an den
Kasernen vorbei durch Campo de Mayo. Auch gibt es auf dem Gelände eine
Schule, ein Krankenhaus und sogar einen Veranstaltungssaal, den man zum
Beispiel für Hochzeiten mieten kann.
Was unterscheidet Campo de Mayo von anderen ehemaligen Folterzentren der
argentinischen Militärdiktatur, wie der ESMA, der ehemaligen Technikschule
der Marine im Zentrum von Buenos Aires?
Von den mehr als 400 geheimen Lagern waren Campo de Mayo und ESMA die
größten. In beiden verschwanden zwischen 4.000 und 5.000 Personen. Es sind
die symbolischsten Orte und die, von denen man am meisten weiß. Die ESMA
liegt sichtbar mitten in der Stadt und wurde in ein Museum der Erinnerung
verwandelt, während Campo de Mayo außerhalb weiterhin vom Militär genutzt
wird und so eine gewisse Protektion erfährt. Von den vier Gefangenenlagern,
die es dort auf dem Stützpunkt von 1976 bis 82 gab, war „El Campito“ das
wichtigste. Am Ende der Diktatur zerstörten die Militärs diese Gebäude.
Bezeichnenderweise erlaubte die Regierung erst kürzlich, im März 2021, dort
mit spezieller Technik das Terrain zu scannen, um Leichen und mögliche
Massengräber ausfindig zu machen.
[1][Im Jahr 2020 präsentierten Sie im Forum der Berlinale „Responsabilidad
Empresarial“] über die Mitverantwortung von 25 Unternehmen wie
Mercedes-Benz oder Fiat an den Verbrechen der argentinischen
Militärdiktatur. Mit konzeptioneller Strenge kombinierten sie in dem
Dokumentarfilm nächtliche Kameraeinstellungen von den Werkstoren mit
eingesprochenen Auszügen aus dem gleichnamigen Bericht. In „Camuflaje“
setzen Sie die filmische Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte in
einem eher lakonischen Ton fort. Was hat Sie dazu bewogen?
Das stimmt, dieser Film unterscheidet sich deutlich von meinen früheren
Projekten. Das hat vor allem mit Félix Bruzzone zu tun. Er ist der
Protagonist der Geschichte und ich wollte, dass der Film der Narration,
seiner Art zu schreiben, folgt. Es hat mich gereizt, den Ton, den er
anschlägt, seine Distanz und den ihm eigenen Humor in dem Film zu
reflektieren.
In „Camuflaje“ begleiten sie den 1976 geborenen Schriftsteller auf seinem
täglichen Lauf durch das Gelände von Campo de Mayo. [2][In Deutschland
erhielt Bruzzone für sein Buch „76“] den renommierten
Anna-Seghers-Literaturpreis 2010. Der Erzählband handelt von verschiedenen
Menschen, deren Eltern – wie die des Autors – seit der Militärdiktatur als
„verschwunden“ gelten.
In seinen Büchern beginnt Félix mit seiner persönlichen Geschichte, die er
dann sehr schnell hinter sich lässt, um bald auf die unglaublichsten
Persönlichkeiten zu treffen. So beginnt auch der Film im persönlichen
Gespräch mit der Tante über seine Kindheit, die er im Haus der Großmutter
verbracht hat.
Barfuß laufend trifft Bruzzone im Campo de Mayo auf verschiedene Personen,
die sich ebenfalls weitgehend unentdeckt auf dem weitläufigen Terrain und
zwischen den Ruinen aufhalten. Wer sind sie und was suchen sie dort?
Jeder sucht etwas anderes mit seinen eigenen Verrücktheiten. Doch im
Versuch, diesen Ort besser kennenzulernen und zu erkunden, treffen sie
sich. Den einen interessiert dort die Flora und Fauna. Er möchte daraus ein
Naturreservat machen und seine Studenten mitbringen. Ein anderer ist
Sportler. Ihm gefällt es, durch das Gelände zu rennen oder mit dem Fahrrad
zu kurven. Eine Überlebende des Lagers, das es dort gegeben hat, wünscht
sich, den Ort in einen Erinnerungsort zu verwandeln. Das, was Félix macht,
ist immer wieder Gründe und Verbündete zu finden, um ein ums andere Mal
heimlich den Ort zu erkunden. Vielleicht ist auch dieser Film für ihn nur
ein weiterer Vorwand.
Was verbindet ihn persönlich mit Campo de Mayo?
Er hatte sich ein Haus gekauft, das buchstäblich an der Pforte dazu lag.
Aber erst nach dem Umzug erfuhr er, dass seine eigene Mutter dort in „El
Campito“ inhaftiert war und danach „verschwand“. Ein Zufall, der nicht
beabsichtigt war. Das ist vielleicht auch die Antwort, warum Félix läuft.
Barfuß mit dem Kontakt zur Erde.
Aktuell leidet Argentinien unter einer Inflationsrate von über 50 Prozent.
Hat die dramatische Situation, ganz zu schweigen von den Folgen der
Pandemie für die Bevölkerung, die Aufmerksamkeit für die Verbrechen der
Vergangenheit verändert?
Das Schlimme ist, dass wir uns in Argentinien schon an den Zustand gewöhnt
haben. Aber es ist klar, dass die wirtschaftlichen Krisen des Landes auch
ein Erbe der Diktatur und eines damals etablierten ökonomischen Modells
sind. Doch das Thema der Menschenrechte ist kein Teil der Agenda der
argentinischen Gesellschaft. Auch wenn sich einige Gruppen von
Intellektuellen, Akademikern oder Künstlern wie in meinem Fall damit
beschäftigen, spielt es im argentinischen Alltag keine große Rolle. Über
dieses Kapitel der Geschichte will niemand reden. Es existiert die
Vorstellung der zwei Dämonen. Zwei Banden, bei deren Konfrontation es
damals auf beiden Seiten Opfer gab. Natürlich ist das nicht meine Meinung,
sondern es war Staatsterrorismus.
Noch ist Campo de Mayo militärisches Sperrgebiet, doch in Ihrem Film
scheint das Zusammentreffen mit den Soldaten jeden Schrecken verloren zu
haben. Eine bemerkenswerte Episode des Films zeigt überwiegend junge
Teilnehmer eines „Kill Race“, eines paramilitärisch anmutenden Geländelau…
auf dem Campo de Mayo. Ist solch eine Freizeitveranstaltung ein zynisches
Spiel mit Erinnerung oder ein Beispiel für kollektive Amnesie?
Ich glaube, es handelt sich eher um Amnesie. Die Beschaffenheit des
Geländes war einfach interessant für diese Art von Hindernis-Parcour und
eine Herausforderung für die Läufer. Ich denke, es gibt überhaupt kein
Bewusstsein dafür, dass sich das Ganze auf dem ehemaligen Gelände eines
klandestinen Folterzentrums abspielt. Heutzutage kann man den Ort für alles
Mögliche nutzen, ungeachtet seiner Geschichte und der Erinnerung daran.
16 Feb 2022
## LINKS
[1] /Filmemacher-Perel-auf-der-Berlinale/!5664366
[2] https://www.berenberg-verlag.de/programm/76/
## AUTOREN
Eva-Christina Meier
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