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# taz.de -- Streit um „Wimmelwurm“-Muster: Da ist der Wurm drin
> Die Berliner Verkehrsbetriebe wollen dem Designer des Musters ihrer
> Sitzpolster kein Geld bezahlen: Es sei zu hässlich, um Kunst zu sein.
Bild: Um Sprayer abzuschrecken, setzten die Berliner Verkehrsbetriebe viele Jah…
Berlin taz | Was ist blau, rot, schwarz und macht ’ne Menge Ärger? Es sind
die [1][Polster der Berliner Verkehrsbetriebe BVG]. Seit nun mehr als
dreißig Jahren schmücken bunte Wimmelwürmer die Sitzschalen in Berlins
Bussen und Bahnen. „Urban Jungle“ heißt das Muster, das keiner wirklich
schön findet, das aber trotzdem irgendwie Kultstatus erlangt hat.
Die BVG wusste das für sich zu nutzen: Unter „das-muster-kennen-wir.de“
verkaufte sie Brustbeutel, Seidenkrawatten, Regenschirme und andere
Fanartikel mit dem bunten Aufdruck. Die frühere BVG-Chefin Sigrid Evelyn
Nikutta trat öffentlich stets mit Wimmelwürmer-Halstuch auf. Und für einen
[2][limitierten Schuh mit „Urban Jungle“-Print], der gleichzeitig als
BVG-Jahresabo diente, kampierten Berliner*innen 2018 sogar vor der
Adidas-Filiale in Berlin-Mitte.
Doch mit diesem Rummel um die Wimmelwürmer ist jetzt Schluss: Der Designer
des Musters, [3][Herbert Lindinger], hat kürzlich vor dem Hamburger
Landgericht erstritten, dass die BVG das Muster nicht mehr nutzen darf.
Außerdem muss sie nachträglich Lizenzgebühren zahlen.
Beigelegt ist der Streit damit jedoch nicht. Die BVG hat Ende 2021 Berufung
eingelegt. Vor dem Oberlandesgericht (OLG) in Hamburg geht der Streit jetzt
in die zweite Runde.
Der Fall wirft Fragen auf: Warum macht die BVG jahrelang Werbung mit einem
Design, das ihr scheinbar gar nicht gehört? Und wieso kann Lindinger nicht
Gnade walten lassen, jetzt, da ihm Schadensersatz zusteht?
## Keine Rechte mehr für Polster im Serienfahrzeugvertrag?
Um den Streit zu verstehen, hilft ein Blick in die Vergangenheit: Von 1984
bis 1994 betrieb die BVG auch die Berliner S-Bahn. Weil die von der
Deutschen Reichsbahn übernommenen Züge überaltert waren, gab die BVG damals
die Baureihe 480 in Auftrag. Die künstlerische Gestaltung der Züge übernahm
der Industriedesigner Herbert Lindinger. Nach Angaben der Berliner
Verkehrsbetriebe entwarf der damals vier Bahnmodelle – und sicherte sich
die Rechte daran vertraglich, auch an den Sitzpolstern.
Diese Prototypen seien jedoch noch verändert worden: Die Serienfahrzeuge
bekamen später nicht besonders schöne, dafür aber vandalismusresistente
Polster im „Urban Jungle“-Print. Die Theorie: Je wilder das Muster und je
schriller die Farben, desto unwahrscheinlicher, dass sich jemand darauf
schmierend verewigt.
Bei der BVG meint man sich zu erinnern, dass Lindinger sich für die Polster
im Serienfahrzeugvertrag keine Rechte mehr gesichert habe, so ihr Sprecher.
Wäre dem so, würden den Verkehrsbetrieben die Rechte an dem Muster zustehen
– zumindest für die Nutzung in anderen Fahrzeugen. 1994 ging die Berliner
S-Bahn dann an die Deutsche Bahn – den „Urban Jungle“ nutzte die BVG
weiterhin für Busse und Bahnen, später dann auch für ihr Merchandise.
Die Wimmelwürmer sind seitdem fester Bestandteil der Marketingstrategie der
BVG, die mit ihrer selbstironischen Öffentlichkeitsarbeit zum wohl
beliebtesten – und bekanntesten – Verkehrsbetrieb Deutschlands wurde. 2018
wandte sich Lindinger das erste Mal wegen fehlender Lizenzzahlungen an die
BVG, 24 Jahre nach dem Eigentümerwechsel bei der Berliner S-Bahn. Laut
seinem Anwalt Christian Donle will Lindinger vom Rummel um die Wimmelwürmer
lange nichts mitbekommen haben, sowohl die Sitzpolster in den Berliner
U-Bahnen als auch die vielen Werbemaßnahmen mit seinem Design seien an ihm
vorbeigegangen. Schließlich lebe der mittlerweile 88-Jährige nicht in
Berlin, sondern in Hamburg.
## Hässlichkeit ist kein Argument
Die BVG stritt 2018 wie heute jeglichen Anspruch des Designers ab, deshalb
reichte Lindinger Klage ein. Am 9. November urteilte das Landgericht
Hamburg, dass „Urban Jungle“ als Werk der angewandten Kunst
„urheberrechtlich geschützt“ sei. Damit widersprach es der BVG, die
versucht hatte, das Urheberrecht durch vermeintlich fehlende ästhetische
Ansprüche des Musters auszuhebeln: Die Wimmelwürmer seien schlicht nicht
schön, daher könnten auch keine Nutzungsgebühren anfallen. Das Gericht sah
das anders: Zwar sei die ästhetische Wirkung eine „möglicherweise
künstlerisch umstrittene“. „Hässlichkeit“ sei aber „eine bloße
Geschmacksfrage und daher kein Argument für oder gegen die
Urheberrechtsfähigkeit“.
Die BVG darf seither das Muster nicht mehr verbreiten und muss alle
Fan-Produkte vernichten, „das-muster-kennen-wir.de“ ist seit Mitte Dezember
offline. Außerdem hat das Gericht das landeseigene Unternehmen
verpflichtet, für den Zeitraum nach 2008 aufzulisten, wie viele Sitze mit
„Urban Jungle“ bezogen waren, wie viele Fahrgäste darauf befördert wurden
und wie viel Umsatz und Gewinn sie mit den Fan-Artikeln gemacht hat. Damit
werde dann die Höhe der Schadensersatzsumme bestimmt, die die BVG an
Lindinger zahlen muss.
Einen kleinen Sieg konnte die BVG dennoch einfahren: Zwar darf sie
beschädigte Wimmelwürmer-Sitze nicht mehr ersetzen, alle bestehenden
Polster dürfen jedoch bleiben. Müssten alle Sitze mit dem Muster
ausgetauscht werden, würde das den Berliner Nahverkehr „ganz erheblich
beeinträchtigen“, befand das Hamburger Landgericht. Das Interesse der BVG
und der „gesamten Berliner Öffentlichkeit“ wiege in dieser Hinsicht
schwerer. Lindinger hatte gefordert, dass die BVG zusätzlich zur
Schadensersatzzahlung umgehend alle Sitze mit dem Print entferne.
## „Wimmelwurm-Aus“ schon längst beschlossene Sache
In den kommenden Monaten geht der Rechtsstreit in die nächste Runde, weil
beide Parteien Berufung eingelegt haben. Ein Termin für die Verhandlungen
stehe allerdings noch nicht fest, so die Sprecherin des Gerichts.
Die BVG will ihre Absichten wegen des laufenden Verfahrens auf Anfrage
nicht kommentieren. Um einen Einspruch gegen das Wimmelwurm-Aus wird es ihr
jedoch vermutlich nicht gehen. Die BVG wollte das Muster ohnehin auslaufen
lassen, das „Urban-Jungle“-Design habe sich „schlicht überlebt“. Berei…
jetzt kriegen alle neuen Fahrzeuge Polster im sogenannten
Nachtlinien-Print: ebenso wuselig, aber in Schwarz-Grau etwas schlichter.
Der Verkehrsbetrieb will also vermutlich die Schadensersatzansprüche
anfechten. Damit könnte die BVG Erfolg haben, wenn Lindinger sich die
Rechte an „Urban Jungle“ damals tatsächlich nur im Prototypvertrag
gesichert hat.
Wo der Vertrag abgeblieben ist, weiß bei der BVG jedoch niemand. In einer
internen Nachricht habe sie nun ihre Mitarbeiter*innen gebeten, sie
bei der Suche zu unterstützen, bestätigte der Sprecher der BVG.
Lindinger hingegen reichen die noch nicht errechneten
Entschädigungszahlungen nicht. Der Schaden werde schließlich „nur in
Teilen“ ersetzt, so sein Anwalt. Der Grafiker fordert weiterhin, dass die
BVG alle Sitzbezüge mit seinem Design sofort entfernt. Daran, dass die BVG
die Polster ohnehin ersetzen will, glaubt Lindingers Anwalt nicht. Er ist
sich jedoch sicher, dass das Oberlandesgericht die Verhältnismäßigkeit
anders einschätzt – das sage ihm seine juristische Erfahrung.
Bis das Oberlandesgericht in Hamburg entschieden hat, könnte es bis zu zwei
Jahre dauern. Lindinger wäre dann 90 Jahre alt. Vielleicht hat die BVG bis
dahin ohnehin alle Wimmelwürmer ausgetauscht.
5 Feb 2022
## LINKS
[1] https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2021/12/berlin-bvg-designer-klage-mus…
[2] /Pressesprecherin-ueber-BVG-Sneaker/!5476483
[3] https://www.lindingerdesign.de/cms/index.php/prof-h-lindinger-vita.html
## AUTOREN
Johanna Jürgens
## TAGS
Schwerpunkt Stadtland
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Urheberrecht
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