| # taz.de -- Die Wahrheit: „Meine Mutter liebte Schmorgurken“ | |
| > Das literarische Jobinterview: Eine sonnige Bewerbung der etwas anderen | |
| > Art mit dem schlotzigen ostpreußischen California-Feeling. | |
| Bild: Mutters Liebling Sun Ra | |
| Ein ganz normaler Tag in der Wahrheit-Redaktion. Die Agenturticker sind | |
| leer. Nichts passiert. Keine müde Nachricht kommt herein, nicht einmal eine | |
| Bären- oder Elchmeldung. Es ist kurz vor Redaktionsschluss. Da klingelt | |
| plötzlich das Telefon. | |
| Die Wahrheit, guten Tag. | |
| Guten Tag. Gestatten, Sun Ra Perret mein Name. | |
| Wie bitte? Wie heißen Sie? Sandra? | |
| Nein, nein, nicht Sandra! Meine verehrte Frau Mutter war eine | |
| leidenschaftliche Anhängerin des legendären Jazz-Musikers Sun Ra. | |
| Sun Ra? | |
| Ja, der großartige Künstler aus dem Kosmos. | |
| Jazz aus dem Kosmos? | |
| Free Jazz. Wie von einem anderen Planeten. Das behauptete er jedenfalls | |
| immer. Er sei aus dem Weltall gekommen, um die Menschheit mit seiner Musik | |
| zu beglücken. | |
| Mit Free Jazz? | |
| Eine zugegebenermaßen sehr frei flottierende Musik. | |
| Und nach Sun Ra wurden Sie also benannt? | |
| Das entspricht der Wahrheit, und ich bin vorsichtig optimistisch, dass ich | |
| im weiteren Leben immer seltener die Frage beantworten muss, ob ich Sandra | |
| heiße. | |
| Nun, Herr … | |
| Perret, Sun Ra Perret. | |
| Was kann ich für Sie tun? | |
| Herrjemannchen, Sie wollen’s aber wissen! Immer in Eile, diese Redakteure! | |
| Trotzdem muss ich an dieser Stelle etwas ausholen, entschuldigen Sie. Ich | |
| bin nämlich in meiner Kindheit in ein Fass mit Dozirin gefallen, weshalb | |
| ich gern ausführlich doziere. Außerdem habe ich alle erdenklichen | |
| Fachgebiete studiert von Architektur über Sinologie und Medizin bis zur | |
| Philosophie, Musik und Bergbauwissenschaft und bin selbst in abgelegenen | |
| Spezialthemen wie Portwein oder American Football bewandert. Stundenlang | |
| könnte ich über alle Arten und Sorten von Rubys, Vintages oder Quarterbacks | |
| fachsimpeln, die den goldenen 49er-Jahrgang von San Francisco ausmachen. Wo | |
| ich leider noch nie war, genauso wenig wie in Porto, dieser wahrscheinlich | |
| schönsten Stadt der Welt, von der ich allerdings die Promenade mit den | |
| großen Keltereien am anderen Ufer des Douro ganz genau kenne, zumindest | |
| über Google Street View. Deshalb habe ich dieses LBC-Feeling. Verstehen | |
| Sie? Long Beach California – wo jeder Wurf einer Traube zum Touchdown wird | |
| … | |
| Feeling? Ich versteh nur Bahnhof. Aber um auf meine Frage zurückzukommen, | |
| Herr Perret: Was kann ich für Sie tun? | |
| Pardon, ein Kind der Sonne, so nannte mich immer meine selige Mutter, wenn | |
| ich mich hinreißen lasse von strahlendem Enthusiasmus. Mach mal den kleinen | |
| Brötzmann, stachelte sie mich regelmäßig am Küchentisch an. Wie der Free | |
| Jazzer aus Wuppertal. Der mit den zwei Saxofonen auf einmal im Mund. Und | |
| dann habe ich gebrötzt. Nur für sie. Sie war eben mein größter Fan. | |
| Verzeihen Sie vielmals, aber ich komme gleich zum Punkt. | |
| Ich bitte doch darum! | |
| Ja, sofort, jetzt ohne Umschweife: Mit großer Begeisterung lese ich nämlich | |
| Ihre amüsanten Schnurren, die Sie in regelmäßigen Abständen | |
| veröffentlichen, und dabei ist in mir ein Gedanke gereift, der auch bei | |
| Ihnen durchaus Wohlgefallen auslösen könnte. | |
| Jetzt bin ich aber gespannt. | |
| Ja, jetzt packen wir den Stier bei den Hörnern, mein Sternzeichen ist | |
| übrigens Stier, Aszendent Löwe, ich bin sozusagen prädestiniert für den | |
| Frontalangriff, ein echter Lorbass ohne Punkt und Komma. | |
| Was Sie nicht sagen. | |
| Nicht wahr. Ein reifer Gedanke – da war ich stehen geblieben. Wegen meinen | |
| überdurchschnittlichen gedanklichen Fähigkeiten bin ich vor Kurzem zu dem | |
| Schluss gekommen, etwas für mein Andenken tun zu müssen und mich für alle | |
| Zeiten zu verewigen. | |
| Und was ist meine Aufgabe dabei? | |
| Sie als versierter Autor sind doch dauernd auf der Suche nach neuem | |
| Personal – und da bin ich! | |
| Da sind Sie. | |
| In voller Lebensgröße. | |
| Sie wollen also … | |
| Genau! Ich will eine Figur in einer Ihrer Possen werden. Nicht Neben-, | |
| nein, Hauptfigur! Mit dabei und mittendrin. | |
| Mittendrin. | |
| Exakt! Ich weiß, ich bin nicht der Ansehnlichsten einer, mein Äußeres lädt | |
| nicht unbedingt dazu ein, vorn am Bühnenrand den unerschrockenen Helden zu | |
| geben. Oder wie meine werte Frau Mama stets meinte: Eine Rampensau werd’ | |
| ich nimmer. | |
| Womit sie Ihnen aber ziemlich Unrecht tat. | |
| Ja schon, wohl wahr. Ach, die Mama. Aber wiegen nicht meine anderen | |
| Qualitäten die Defizite auf, könnte nicht sogar die Unansehnlichkeit zum | |
| Programm werden, dass da einer kommt und keiner sein mag, der herrlichst | |
| anzuschauen ist und es deshalb anders ausgleicht und, selbst in tiefste | |
| Abgründe hinab zu tauchen, sich nicht scheut. | |
| Sie, Herr Perret, kennen die tiefsten Abgründe? | |
| O ja! Und ich habe das Licht des Lebens nur wieder erreicht, weil ich mich | |
| mit eigener Kraft den Dämonen entwinden konnte. | |
| Und Ihrer Frau Mutter. | |
| Meiner Mutter? Die war der Typ: Wenn die dir eine schlotzige Schmorgurke | |
| hingestellt hat, dann hast du die nicht abgelehnt. | |
| Das ist Ihre Geschichte? Ihre Mutter liebte Schmorgurken? | |
| Schmorgurken und Free Jazz. | |
| Aber auch Sie? | |
| Mich? Ich denke schon. | |
| Und Sie meinen also, das trägt, Sie tragen die Geschichte? | |
| Ja, aber das muss doch genügen! Einen reichhaltigeren Charakter werden Sie | |
| nie wiederfinden. Gebildet, abgründig, ambivalent und dennoch | |
| grundsympathisch. Ein dunkles Familiengeheimnis, eine forsche Art des | |
| Auftretens, mit faszinierenden Eigentümlichkeiten. Nehmen Sie nur meine | |
| Sprache. Ist es Ihnen schon aufgefallen? Wenn ich anfange zu brisseln und | |
| jabbern, dann lasse ich ab und zu beiläufig sogar alte ostpreußische | |
| Sprachfetzen in meinen Vortrag einfließen. Aus einem nahezu ausgestorbenen | |
| Dialekt. Verrückt, nicht wahr? | |
| Ganz schön verrückt. | |
| Also Ihnen nicht ganz unähnlich. | |
| Mir? | |
| Sie hatten doch bestimmt auch eine Gurkenmutter, oder? | |
| Kein Kommentar. | |
| Dann sind wir also im Geschäft! | |
| Im Geschäft? | |
| Ja, die Hand drauf und reingespuckt. Endlich sind wir uns handelseinig: Ich | |
| werde Ihre neue Hauptfigur. Herrlich, wunderbar, feininger! Wenn das meine | |
| liebe Mutti noch hätte erleben dürfen. Und über das Honorar verhandeln wir | |
| später. | |
| Das Honorar? | |
| Wir werden da eine für alle Beteiligten zufriedenstellende Lösung finden. | |
| Da bin ich mir sicher. | |
| Glauben Sie mir, ich bin gerade auf dem Gebiet der Verhandlungsführung ein | |
| ausgesprochener Meister. | |
| Das glaube ich Ihnen unbesehen, Herr Perret. | |
| Sun Ra Perret, immer zu Diensten. | |
| 2 Feb 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Ringel | |
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