# taz.de -- Klimapolitik in Deutschland: Verweigerte Klimarealität | |
> Früher war der „perverse Antikommunismus“ ein Feindbild. Jetzt verhindert | |
> er die Debatte über nicht wachstumsorientierte Formen der Wirtschaft. | |
Bild: Windräder bis zum Horizont – ob das reicht für die Rettung der Insel … | |
Seit Corona ist der Systemzwang ständigen Wachstums einmal mehr deutlich | |
hervorgetreten. Weniger beachtet wird, dass auch der damit einhergehende, | |
durch Treibhausgasemissionen verursachte globale Temperaturanstieg | |
kontinuierlich weitergeht und über Land (ohne Ozean) weltweit 1,5 Grad | |
Erderwärmung erreicht hat. Dennoch sind diejenigen, die dieses Wachstum für | |
unvereinbar mit der erforderlichen Begrenzung der CO2-Emissionen halten, | |
die Enfants terribles der Klimapolitik. Wie kommt es zu dieser gestörten | |
Wirklichkeitswahrnehmung? | |
Menschen, deren Denken von Feindbildern geprägt ist, neigen dazu, Teile der | |
Wirklichkeit auszublenden. Die deutsche Gesellschaft hält sich zwar für | |
aufgeklärt, trägt jedoch bis heute schwer daran, dass seit Kriegsende der | |
Antikommunismus als Teil der nationalsozialistischen Ideologie nicht | |
problematisiert und bekämpft wurde. Als Deutschland im Kalten Krieg vom | |
Feind der USA zu deren Verbündetem avancierte und infolgedessen seine | |
Wiederbewaffnung anstand, wurde das antikommunistische Feindbild der Nazis | |
unreflektiert auf die kommunistisch regierte Sowjetunion übertragen. | |
Seither stand jede Kritik am scheinbar erfolgreichen kapitalistischen | |
Wirtschaftsmodell im Verdacht, vom kommunistischen „Erbfeind“ lanciert zu | |
sein. | |
Laut Ralph Giordano handelt es sich dabei um das Feindbild des „perversen | |
Antikommunismus“, der im Gegensatz zur humanistisch begründeten Kritik am | |
(real existierenden) Kommunismus der Formung der eigenen Identität dient | |
und eine ungestörte Wirklichkeitswahrnehmung verhindert. Innenpolitisch | |
impliziert das eine identitätsstiftende Intoleranz gegenüber allem, was als | |
links gebrandmarkt wird. Wegen des „tiefen Widerspruchs zwischen Vorgabe | |
und Wirklichkeit“ nennt Giordano diesen Antikommunismus „pervers“. | |
Wer von Feindbildern geprägt ist, sucht die Schuld entweder beim Feind oder | |
– nach Giordano eine Besonderheit in der deutschen Geschichte – bei den | |
Verbündeten: Mit seiner Appeasement-Politik sei es England gewesen, das | |
Hitler erst wirklich zum Durchbruch verholfen hat, verkündete der | |
Vertriebenensprecher Herbert Czaja unter allgemeinem Beifall noch in den | |
1980er Jahren. | |
Auch Klimaschützer*innen sehen sich mit dem skandalösen Abschieben | |
nationaler Verantwortung konfrontiert, wenn sie an die besonders hohen | |
historischen Emissionen Deutschlands aufgrund der deutschen Industrie- und | |
Kolonialgeschichte erinnern sowie an die aktuelle Rolle Deutschlands als | |
Exportweltmeister. Der Hinweis auf die besondere Verantwortung Deutschlands | |
wird mit dem Scheinargument vom Tisch gewischt, China und Indien seien | |
längst die viel größeren C02-Emittenten (ohne dabei die relativ niedrigen | |
Pro-Kopf-Emissionen dieser Länder zu berücksichtigen). Die Verdrängung der | |
Realität und der nationalen Verantwortung geht mit dem Bestreben einher, | |
die moralische Verantwortung für vergangene Fehleinschätzungen und | |
Verbrechen von sich zu weisen. | |
Eine Störung in der Realitätswahrnehmung, die Giordano den Deutschen noch | |
im Jahr 2000 attestierte, ist heute nicht nur in der extremen Rechten zu | |
beobachten, die den Klimawandel und Corona leugnet, sondern in anderer Form | |
auch in der Breite der Gesellschaft: Dass Deutschland das Restbudget, das | |
ihm nach dem Zukunftsszenario des Wissenschaftlichen Beirats der | |
Bundesregierung zusteht, 2020 aufgebraucht hatte, war nicht einmal eine | |
Debatte wert. | |
Aktuelle Prognosen für die Erderwärmung schreien danach, endlich die | |
Forderungen des Club of Rome von 1972 nach Begrenzung von Wachstum und | |
Ressourcenverschleiß umzusetzen. Stattdessen will die Ampel neun weitere | |
Jahre an der Kohleverstromung festhalten und scheut sogar die Einführung | |
eines Tempolimits. Doch selbst nach den großzügigen Berechnungen des | |
Sachverständigenrats für Umweltfragen ist das deutsche Restbudget bei | |
gleichbleibender Emission 2026, bei linearer Reduktion 2032 aufgebraucht. | |
Die Frage drängt sich auf: Gibt es dann ein neues „Restbudget“, aus wessen | |
Hut wird es gezaubert und was bedeutet diese Wachstumspolitik für die | |
Zukunft der Erde? | |
Schon jetzt droht der Menschheit mit einer Wahrscheinlichkeit von 10 | |
Prozent eine [1][Erderwärmung] von 4 Grad. Das Risiko, dass ein komplexes | |
Ökosystem nach dem anderen kollabiert – wie etwa der brasilianische | |
Regenwald oder der weltweite [2][Ozean] – besteht schon beim Überschreiten | |
der 1,5-Grad-Grenze! | |
Wir befinden uns im Klimanotstand. Er ist ein Weckruf zu radikaler | |
Begrenzung von Emissionen und Ressourcen. Die ist aber im kapitalistischen | |
Wirtschaftssystem nicht möglich, da dieses durch die stetige Reinvestition | |
von gewinnträchtigem Kapital dauerndes Wachstum erzwingt. Deshalb brauchen | |
wir ein klimapolitisches Notfallprogramm, das den Wachstumszwang beendet. | |
Die Vorschläge dazu sollten breit diskutiert werden, wie etwa ein globaler | |
Vertrag für die Beendigung der Nutzung fossiler Energien, eine Schrumpfung | |
des Ressourcenverbrauchs um 70 Prozent sowie ein sozial-ökologischer | |
Arbeitsmarkt, der direkt von der Zentralbank finanziert wird, um die sonst | |
drohende Massenarbeitslosigkeit zu vermeiden. Das sind wichtige Bausteine | |
einer Politik, die in eine Ökonomie der Begrenzung, in eine | |
Postwachstumsökonomie mündet. | |
Angesichts der Not, die die [3][Wachstumspolitik] hervorruft, ist der | |
beherzte Umbau des kapitalistischen Wirtschaftssystems für die einen nur | |
das „geringere Übel“, für Mittel- und Geringverdienende sowie prekär | |
Beschäftigte brächte er handfeste ökonomische Vorteile. Für jene, die sich | |
unter großen persönlichen Opfern der Zerstörung ihrer Umwelt etwa durch den | |
Lithiumabbau entgegenstemmen, wäre der Aufbau einer Postwachstumsökonomie | |
ein Befreiungsschlag und zugleich eine großartige Hoffnungsperspektive. | |
31 Jan 2022 | |
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[3] /Politwissenschaftler-Werz-zur-Klimakrise/!5825801 | |
## AUTOREN | |
Gudula Frieling | |
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