# taz.de -- Bloody Sunday und Brexit: Britische Arroganz, irische Wut | |
> Am 30. Januar 1972 schossen britische Soldaten auf irische Demonstranten. | |
> Die Wunde des Bloody Sunday schien verheilt – dann kam der Brexit. | |
Bild: Soldaten bewachen Personen, als es am 30. Januar 1972 im nordirischen Der… | |
Die Kugel hatte sie ins Bein getroffen. Der britische Soldat, der den | |
Schuss abgefeuert hatte, stand dicht vor Peggy Deery und spannte den Hahn | |
seiner Waffe erneut. „Schieß nicht nochmal auf mich, Junge“, sagte sie. | |
„Ich bin eine Witwe und habe 14 Kinder.“ Der Soldat ließ sie am Leben, aber | |
sie wurde nie mehr richtig gesund. | |
Sie war 38 Jahre alt damals, am 30. Januar 1972. Man brachte sie in ein | |
nahegelegenes Haus in der Chamberlain Street in Derry, Nordirlands | |
zweitgrößter Stadt. Eine Gruppe Soldaten folgte ihr ins Haus. Einer | |
beschimpfte sie, ein anderer sagte, sie habe es verdient, und ein dritter | |
meinte: „Lasst die Fotze verbluten.“ Der Mann, der sie ins Haus trug, war | |
Michael Kelly. Kurz darauf wurde er von den Soldaten erschossen. Er war 17. | |
Der Tag, der sich nun zum 50. Mal jährt, [1][ist als Bloody Sunday], als | |
Blutsonntag, in die Geschichte eingegangen. Am Morgen hatten sich in | |
Creggan, einem katholischen Arbeiterviertel von Derry, 15.000 Menschen | |
versammelt, um gegen die Internierungspolitik der britischen Regierung zu | |
demonstrieren. Als die ersten Steine flogen, schossen Soldaten des 1. | |
Fallschirmjäger-Regiments. Eine Stunde später lagen 13 Tote auf der Straße. | |
John Johnston, der als erster von einer Kugel getroffen worden war, starb | |
fünf Monate später an seinen Verletzungen. Der Schießbefehl, da sind sich | |
die Experten einig, muss von oben, also der nordirischen Regierung in | |
Belfast, oder von ganz oben, der Regierung in London, gekommen sein. | |
Die Soldaten behaupteten, sie seien von Demonstranten beschossen und mit | |
Nagelbomben angegriffen worden. Die Bilder, die von zwei Fotografen | |
aufgenommen worden waren, zeigten, dass die Soldaten den getöteten | |
Demonstranten Nagelbomben in die Taschen steckten, um sie als Mitglieder | |
der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) zu denunzieren. | |
## „Keiner von ihnen war bewaffnet“ | |
„An diesem Tag haben wir die jungen Leute verloren“, sagte Pfarrer Edward | |
Daly, der später Bischof von Derry wurde. „Sie gingen weg und schlossen | |
sich der IRA an.“ Das Bild des Pfarrers, der mit einem blutverschmierten | |
Taschentuch in der Hand versuchte, eins der Opfer zu bergen, ist um die | |
Welt gegangen. „Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie der | |
17-jährige Jackie Duddy ermordet worden ist, und dieses Wort gebrauche ich | |
bewusst“, hatte Daly schon 1998 zur taz gesagt, lange bevor die britische | |
Regierung das endlich eingestand. „Er hatte versucht wegzulaufen. Ich habe | |
mindestens zehn oder zwölf der Opfer die Sterbesakramente verabreicht, als | |
sie auf der Straße lagen. Keiner von ihnen war bewaffnet.“ | |
Peggy Deery war die einzige Frau, die am Bloody Sunday verletzt wurde. Sie | |
verbrachte vier Monate im Krankenhaus, litt danach unter chronischem | |
Nierenversagen und war für den Rest ihres Lebens mehr oder weniger ans Haus | |
gefesselt. Ihr Mann war wenige Monate zuvor an Krebs gestorben, er war 37, | |
die Kinder waren zwischen 8 Monaten und 16 Jahren alt. Margaret, die | |
älteste Tochter, musste fortan ihre Geschwister versorgen. | |
Eine Kommission unter Lord Widgery legte eilig einen 36-seitigen Bericht | |
vor, der die Version der Soldaten voll und ganz bestätigte. Das brachte der | |
IRA, die bis dahin relativ wenig Unterstützung genossen hatte, weiteren | |
Zulauf. 1972 war mit 479 Toten das blutigste Jahr des Konflikts. Auch | |
Paddy, einer von Peggy Deerys Söhnen, ging zur IRA. Er starb 1987, als die | |
Bombe, die er transportierte, frühzeitig explodierte. | |
## „Burn, Baby, burn!“ | |
Drei Tage nach dem Bloody Sunday wurde in Dublin die britische Botschaft | |
niedergebrannt. Eine riesige Menschenmenge, die sich aus Protest vor dem | |
Gebäude versammelt hatte, rief in Anlehnung an die Aufstände in Los Angeles | |
im Jahr 1965: „Burn, Baby, burn!“ Die Polizei schaute tatenlos zu. Die | |
Beziehungen zwischen Großbritannien und Irland waren auf einem Tiefpunkt. | |
Der Kolumnist Fintan O’Toole erinnert jedoch daran, dass die irische | |
Regierung ebenso wie die Regierung in London acht Tage vor dem Blutsonntag | |
die Beitrittsurkunde zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, aus der | |
später die Europäische Union wurde, unterzeichnet hatte. „Irland, so muss | |
man fairerweise sagen, schuldete den Platz in diesem exklusiven Klub den | |
engen wirtschaftlichen Beziehungen zu Großbritannien“, schreibt O’Toole. | |
„Auf sich alleine gestellt wäre Irland zu arm für einen Platz am | |
europäischen Tisch gewesen, es wurde am Rockzipfel Großbritanniens | |
zugelassen.“ | |
Diese Erfahrungen legten laut O’Toole den Grundstein für die gemeinsame | |
Herangehensweise an den Friedensprozess, der [2][am Karfreitag 1998 in das | |
Belfaster Abkommen] mündete, das Nordirland relativen Frieden beschert hat. | |
Im Zuge der Friedensverhandlungen beauftragte die Labour-Regierung unter | |
Tony Blair 1998 Mark Saville mit einer neuen Untersuchung des Bloody | |
Sunday. Es wurde die längste und mit 195 Millionen Pfund teuerste der | |
britischen Rechtsgeschichte. Sie kam 2010, fast 40 Jahre nach den | |
Ereignissen, zu dem Ergebnis, dass sämtliche Opfer unschuldig und | |
unbewaffnet waren. | |
## „Die Illusion wurde zerstört“ | |
Der erste Besuch von Königin Elisabeth in Irland im Jahr 2011 schien | |
„britische Arroganz und irische Wut“ laut O’Toole endgültig ins Museum | |
verwiesen zu haben. „Diese Illusion wurde durch den Brexit zerstört“, | |
schreibt er, „und zwar nicht nur wegen des Endes der gemeinsamen | |
EU-Mitgliedschaft, sondern auch wegen der Weigerung, über die Folgen für | |
Irland nachzudenken.“ Die Versuche der Johnson-Regierung, die Verträge über | |
die i[3][rische Dimension des Brexit] auszuhebeln, schreibt O’Toole, haben | |
das „alte Gespenst vom hinterlistigen England“ wieder aufleben lassen. | |
Die britische Außenministerin Liz Truss hat vor Kurzem erklärt, sie sei | |
bereit, das Nordirland-Protokoll außer Kraft zu setzen. Das Protokoll ist | |
Teil des Brexit-Abkommens mit der EU. Darin ist festgehalten, dass in | |
Nordirland weiter die Regeln des EU-Binnenmarkts und der Zollunion gelten, | |
um eine harte Grenze zwischen dem britischen Nordirland und der Republik | |
Irland zu vermeiden, die EU-Mitglied ist. | |
## „Jedes Mal werden sie zornig“ | |
Darüber plant die britische Regierung ein Gesetz, das eine Strafverfolgung | |
von Soldaten für Taten, die sie vor April 1998 begangen haben, nicht | |
zulässt. Peggy Deerys Tochter Margaret verurteilt eine solche Amnestie. | |
Ihre Mutter habe häufig über den Bloody Sunday gesprochen: „Sie sagte, sie | |
werde niemals das Gesicht des rothaarigen Soldaten vergessen, der auf sie | |
aus nächster Nähe geschossen hat. Ich habe nun selbst sieben Kinder, und | |
jedes Mal, wenn sie über den Bloody Sunday sprechen, werden sie zornig. Das | |
will ich aber nicht.“ | |
Der Jahrestag werde wieder grauenvoll, sagt sie: „Das ist er immer. Nach | |
dem Bloody Sunday war unsere Mutter vollkommen verändert. Sie konnte sich | |
nicht mehr um uns kümmern, wir mussten uns um sie kümmern. Sie verfiel in | |
eine tiefe Depression. Ich musste sehr schnell erwachsen werden.“ | |
Peggy Deery starb 1988, sie wurde nur 54 Jahre alt. Im April des | |
vergangenen Jahres sprach ein Gericht ihrer Familie 270.000 Pfund | |
Schadensersatz zu. | |
30 Jan 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ralf Sotscheck | |
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