# taz.de -- Beerdigung ohne Angehörige: Der einsame Tod | |
> In der Philipp-Melanchthon-Kirche in Neukölln wird Menschen gedacht, die | |
> einsam verstorben sind. Die Trauerfeier soll ihren Tod würdevoller | |
> machen. | |
Bild: Für die einsam Verstorbenen werden symbolisch Kerzen angezündet | |
taz | Berlin-Neukölln Es ist Sonntag am frühen Abend, Mitte Januar. Um 17 | |
Uhr läuten die Glocken der Philipp-Melanchthon-Kirche in Neukölln. Es | |
findet die jährliche Gedenkfeier für Menschen, die einsam verstorben sind, | |
statt: In einer Feierstunde werden die Namen der Toten verlesen, die im | |
vergangenen Jahr ordnungsbehördlich bestattet wurden, wie es auf | |
Beamtendeutsch heißt. | |
Das sind jene Menschen, die keine Angehörige haben, die sich um eine | |
angemessene Bestattung und Trauerfeier kümmern. Oder deren Angehörige | |
schlicht nicht aufzufinden sind. Sie wären nämlich per Gesetz im Falle des | |
Todes dazu verpflichtet für die Bestattung aufzukommen: Nach dem | |
Bestattungsgesetz sind Ehegatten, volljährige Kinder, Eltern, volljährige | |
Geschwister oder Enkelkinder dazu verpflichtet, die Beerdigung der | |
verstorbenen Person zu bezahlen. | |
In diesen Fällen beauftragt das zuständige Bezirksamt ein | |
Bestattungsunternehmen mit der Feuerbestattung. Allein in Neukölln wurden | |
im Jahr 2021 knapp 200 Menschen auf diesem Wege ordnungsbehördlich | |
bestattet. In ganz Berlin belaufen sich die Zahlen der anonymen | |
Bestattungen auf über 2000. | |
Der Ablauf einer ordnungsbehördlichen Bestattung ist etwas glanzlos: Sind | |
die Menschen obdachlos, werden sie von PassantInnen oder der Polizei auf | |
der Straße tot aufgefunden – in anderen Fällen werden sie von Nachbarn oder | |
Behörden in ihrem Zuhause gefunden. Ihr Tod wird dann dem Bezirksamt | |
gemeldet. [1][Dieses beauftragt meist das preislich günstigste | |
Bestattungsunternehmen, um die Menschen unter die Erde zu bringen.] Die | |
Bestattung dieser Menschen läuft im kleinsten Rahmen und anonym ab. Ihre | |
Urnen werden in großen Gemeinschaftsgräbern, versehen mit einem kleinen | |
Namensschild, begraben. | |
## Ein bekannter Name unter den Toten | |
Frau B., die nicht möchte, dass ihr Name öffentlich wird, hat lange als | |
Psychotherapeutin in Neukölln gearbeitet und kommt immer wieder zur | |
jährlichen Trauerfeier in die Kirche. | |
„Ich hatte schon in den vorherigen Jahren Angst, dass ich einen dieser | |
Namen kenne. Als es dann am Sonntag aber tatsächlich geschah, war ich wie | |
vom Donner gerührt“, erzählt die Psychologin. | |
Es sei fast 30 Jahre her, dass sie die Frau psychologisch betreut habe. | |
Ihren Namen und ihre Persönlichkeit habe sie aber nicht vergessen. „Sie war | |
damals sehr krank und hatte Brüche mit ihrer Familie. Ich bin sehr | |
betroffen, dass sich das vermutlich nicht verändert hat“, sagt die | |
Therapeutin. Über den weiteren Werdegang ihrer ehemaligen Klientin habe sie | |
seit Abgabe der Betreuung nichts weiter gewusst. Jetzt nun überraschend die | |
Nachricht über ihren einsamen Tod. | |
Die Psychologin unterscheidet zwischen allein sein und Einsamkeit: | |
„Einsamkeit bedeutet für mich, dass jemand keinen Bezugsrahmen hat. Keine | |
Gruppe zu der er oder sie sich zugehörig fühlt.“ Die Menschen, die | |
ordnungsbehördlich bestattet wurden, haben eben diese Bezugsgruppe in den | |
meisten Fällen nicht. | |
Ein Teil der Arbeit von PsychotherapeutInnen ist es, ihren KlientInnen | |
dabei zu helfen, ihre Einsamkeit zu überwinden. Sie erzählt, dass sie in | |
ihren Sitzungen versucht, die Menschen in soziale Beziehungen „einzubinden“ | |
und so ihre Kontaktängste zu lösen. | |
## Obdachlosigkeit und Einsamkeit | |
Zu den Verstorbenen gibt es nicht viele Informationen: außer, dass viele | |
von ihnen vor ihrem Tod obdachlos waren und dass deutlich mehr Männer | |
ordnungsbehördlich bestattet werden als Frauen. | |
„Dass das Ganze etwas kalt wirkt und die Toten entindividualisiert werden, | |
kann man niemandem vorwerfen. Die Bestatter und der Bezirk sind keine kalt | |
und böse handelnden Institutionen. Das Problem liegt oftmals eher bei | |
zerrütteten Familienverhältnissen“, meint der Neuköllner Pfarrer Jan von | |
Campenhausen, der diese Gedenkfeier in Neukölln seit drei Jahren | |
durchführt. Die Veranstaltung soll den Verstorbenen einen würdevolleren Tod | |
geben. | |
Obdachlosigkeit und Einsamkeit kommen oft zusammen. „Im Winter lassen wir | |
Obdachlose bei uns in der Kirche übernachten“, erzählt von Campenhausen. | |
„Sie bekommen hier einen Schlafplatz, etwas zu essen und medizinische | |
Grundversorgung. Dabei lernt man einige kennen – auch ihre Namen. Es kommt | |
vor, dass ich Menschen länger nicht sehe und dann wird ihr Name bei der | |
Gedenkfeier verlesen.“ | |
## „Dein Name bleibt“ | |
„Auch wenn die Winde tausend Tänze tanzen und wilder Wirbel zu zerstören | |
droht, was nicht zerstörbar ist: Dein Name bleibt und wir nennen dich beim | |
Namen“ steht poetisch in dem kleinen Programmheft, welches in der Kirche | |
ausliegt. Die Nennung der Namen ist der zentrale Punkt der Gedenkfeier. | |
„Wenn Menschen einfach so verschwinden, passiert das ohne Respekt und | |
Würde, wir sagen als Teil der Zivilgesellschaft: Wir möchten diese Namen | |
laut aussprechen“, erzählt Jan von Campenhausen. | |
In dem geräumigen Kirchsaal haben sich etwa 20 Menschen eingefunden, die in | |
corona-konformen Abständen mit Masken im Kreis sitzen. In der Mitte ist | |
eine Spirale aus Kerzen aufgestellt: Die Kerzen wurden im Namen der Toten | |
entzündet und sollen den Lauf des Lebens von der Geburt bis zum Tod | |
symbolisieren. | |
Das Glockenläuten verstummt und der Superintendent des Evangelischen | |
Kirchenkreises Neukölln, Dr. Christian Nottmeier, eröffnet die Gedenkfeier. | |
Die Namen der Verstorbenen werden in Blöcken von den Anwesenden reihum | |
vorgelesen. Dazwischen wird Orgelmusik gespielt und sogar gesungen. Während | |
die Namen langsam und laut vorgelesen werden, herrscht andächtige Stille. | |
Der Klang der Namen hallt noch einen Moment lang in den Gewölben der | |
Philipp-Melanchthon-Kirche nach. Die meisten der Anwesenden haben den Blick | |
auf die Kerzen gerichtet. | |
## „Hinter jedem dieser Namen steckt eine Geschichte“ | |
„Hinter jedem dieser Namen steckt eine Geschichte. Eine Geschichte, die man | |
nicht erlebt haben möchte“, sagt Jan von Campenhausen und fügt hinzu: | |
„Jeder einzelne Name, ist ein Name zu viel. Die Namen legen den Finger auf | |
die Wunde.“ | |
Besonders freut sich von Campenhausen, dass jedes Jahr wieder auch | |
VertreterInnen aus der Politik zu der Veranstaltung kommen. Einen Teil der | |
Namen hat dieses Jahr beispielsweise Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin | |
Hikel (SPD) verlesen. | |
Nach der Gedenkfeier wünscht ihm eine ältere Dame ein gutes | |
Durchhaltevermögen für seinen Job. Für sie ist die Gedenkfeier auch eine | |
Möglichkeit über den Tod ihrer eigenen Tochter nachzudenken. Der Tod gehöre | |
nun mal zum Leben dazu, in völliger Einsamkeit solle aber niemand sterben, | |
sagt die Dame sichtlich betroffen nach der Trauerfeier. | |
Zur diesjährigen Gedenkfeier unter Pandemiebedingungen sagt der | |
evangelische Pfarrer, dass er es schade finde, dass nur eine kleine Zahl | |
zusammenkommen konnte. Aus der Vergangenheit wisse er, dass das Bedürfnis | |
an der Teilnahme der Veranstaltung groß sei. | |
## Gedenken im Online-Stream | |
Er verweist auch noch einmal auf ein Video, welches zu dem Anlass um 17 Uhr | |
auf YouTube veröffentlicht wird – um trotz Corona eine breitere Anteilnahme | |
zu ermöglichen. In dem Video laufen die Namen der Verstorbenen durch das | |
Bild. Im Hintergrund ist erneut die Kerzenspirale zu sehen. Dazu singt ein | |
Chor den Leonard Cohen-Song „Hallelujah“. Der Pfarrer setzt vor allem auf | |
Projekte wie „Housing First“, mit denen Wohnungslosen ein Zuhause geboten | |
werden soll. Denn oftmals ist die Kombination aus Obdachlosigkeit und | |
Einsamkeit ein Teufelskreis. | |
Nachdem das letzte Orgellied in der Melanchthon-Kirche erklungen und die | |
Gedenkfeier offiziell vorbei ist, bleiben alle Anwesenden noch einen Moment | |
sitzen und halten inne. Im Stillen wird der Toten gedacht, auch wenn die | |
wenigsten der Anwesenden wissen, wer sie genau waren. | |
19 Jan 2022 | |
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## AUTOREN | |
Josua Gerner | |
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