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# taz.de -- Journalistin über Drogenkrieg in Mexiko: Journalismus oder Tod
> Als Investigativjournalistin recherchierte Marcela Turati zum Drogenkrieg
> in Mexiko. Dann wurde klar: Die Polizei überwachte sie.
Bild: Die mexikanische Journalistin Marcela Turati
taz am wochenende: Frau Turati, die mexikanische Staatsanwaltschaft ließ
Sie überwachen, weil Sie über die Massaker von San Fernando recherchierten.
Das wurde Ende November öffentlich bekannt, Sie wussten bereits zuvor
davon. Was dachten Sie, als Sie das erfahren haben?
Marcela Turati: Die Anwältin der Angehörigen hatte die Ermittlungsakten zu
dem Fall bekommen und mich informiert, dass wir darin der organisierten
Kriminalität und Entführung verdächtigt werden. Als ich die Akte sah, war
ich traurig, wütend und geschockt. Sie enthielt alle meine Daten und
Informationen darüber, wann und von wo aus ich mit Quellen telefoniert
habe. Dabei war mir klar gewesen, dass ich ausspioniert werden könnte.
Warum wird gegen Sie als Journalistin ermittelt?
Genau weiß ich das nicht. Ich hatte eine Reportage mit einigen kritischen
Aspekten veröffentlicht, etwa, dass menschliche Überreste nicht ordentlich
identifiziert wurden. Ich schrieb darüber, dass die Regierung nichts
unternahm, obwohl sich die Massaker über mehrere Wochen hinzogen. Ich habe
auch über Massengräber berichtet und über den konkreten Fall eines Jungen,
den die Regierung in einem anonymen Massengrab beerdigen ließ, obwohl sie
seine Daten hatten. Die Regierung informierte die Familie nicht. Ermittelt
wurde auch gegen die Anwältin der Angehörigen, Ana Lorena Delgadillo, sowie
gegen die unabhängige argentinische Forensikerin Mercedes Doretti. Doretti
hat die Identität der Opfer erforscht und ist dadurch auf viele
Unregelmäßigkeiten gestoßen. Wir fordern, dass die Ermittlungen gegen uns
offiziell eingestellt und unsere Daten gelöscht werden. Es muss gegen die
involvierten Beamten ermittelt werden. Denn was sie getan haben, ist ein
Gesetzesbruch.
Unter der Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto sind zwischen 2012 und
2018 in Mexiko mutmaßlich bis zu 15.000 Personen mit der Spionagesoftware
„Pegasus“ überwacht worden. Das enthüllte im Juli das internationale
Recherchenetzwerk „Forbidden Stories“. Darunter sind auch Sie selbst sowie
weitere Journalist*innen und Menschenrechtler*innen. Wie ist das
einzuordnen?
Es wirkt so, als hätte die Regierung in ihrer Paranoia und ihrem
Machtmissbrauch völlig übertrieben. Mit 15.000 potenziell ausgespähten
Personen ist Mexiko das Land mit den meisten „Pegasus“-Fällen. Auf der
Liste stehen neben mir noch drei Kolleg*innen unserer Rechercheplattform
Quinto Elemento Lab. Statt des eigentlichen Zwecks, Pegasus gegen
organisiertes Verbrechen und Terrorismus einzusetzen, verwendete die
Regierung es gegen die Zivilgesellschaft, Oppositionelle und
Menschenrechtsverteidiger.
Sie arbeiten schon seit 20 Jahren zum Thema gewaltsames Verschwindenlassen.
Macht Sie das für den Staat verdächtig?
Jedenfalls untersuchen wir das Verschwindenlassen von Personen, weil der
Staat es nicht ausreichend tut. Wir stellen Landkarten über Massengräber
mit unidentifizierten Leichnamen zur Verfügung, die auch den Familien der
Angehörigen helfen. Der Staat gibt ihnen diese Informationen nicht.
Aufgrund unserer Arbeit erhalten wir Drohungen. Aber gerade weil wir
stören, berichten wir weiter. Denn die Menschen verschwinden vor allem
dort, wo es aufgrund der Drohungen praktisch keinen Journalismus mehr gibt.
Was sind die besonderen Herausforderungen, wenn man über gewaltsames
Verschwindenlassen berichtet?
Nachdem der damalige Präsident Calderón 2006 den Krieg gegen die Drogen
erklärte, haben wir uns als Journalistinnen zusammengeschlossen. Wir
wollten den Journalismus nicht den Schreckensmeldungen überlassen, sondern
aus einer Menschenrechtsperspektive heraus berichten. [1][Der Fall der 43
verschwundenen Studenten von Ayotzinapa] hat 2014 weltweit Aufsehen erregt.
Aber heute gibt es mindestens 94.000 Verschwundene, und die Menschen haben
sich daran gewöhnt. Wir haben uns also gefragt, wie wir diese Geschichten
so erzählen können, dass sie Interesse wecken und wir den Verschwundenen
ihre Geschichte wiedergeben. Wir tun dies, indem wir von ihnen erzählen,
ihnen Namen und Narrativ geben.
[2][Mexiko gehört seit Jahren zu den gefährlichsten Ländern für
Journalist*innen]. Laut der Menschenrechtsorganisation Artículo 19
wurden seit dem Jahr 2000 insgesamt 145 Medienschaffende aufgrund ihrer
Arbeit ermordet. Wie ist die Situation zurzeit?
Viele werden bedroht, und zwar sowohl vom organisierten Verbrechen als auch
von staatlichen Funktionären auf regionaler und kommunaler Ebene. In der
ersten Hälfte der Amtszeit des derzeitigen Präsidenten Andrés Manuel López
Obrador wurden bereits 25 Journalist*innen ermordet, in diesem Jahr
waren es 7. Geht es so weiter, gibt es keinen Unterschied zu den
Vorgängerregierungen. Am gefährlichsten ist immer die Straflosigkeit. Wenn
es weder strafrechtliche noch politische Kosten hat, Journalist*innen
zu töten, wird es weiterhin passieren.
Wie verhält sich die Regierung von Andrés Manuel López Obrador in Bezug auf
die Gewalt gegen Journalist*innen?
Die Regierung hat das Problem zwar anerkannt. Aber sie stigmatisiert
Journalist*innen. Die morgendlichen Pressekonferenzen des Präsidenten sind
eine neue Art zu kommunizieren. Alle dürfen Fragen stellen, doch der
Präsident greift zwei- bis dreimal die Woche direkt einzelne
Journalist*innen an und präsentiert die angeblichen Fake News der
Woche. Wenn sich die Regierung dabei täuscht, veröffentlicht sie hinterher
ein Kommuniqué. Aber die Diskreditierungen werden in der Öffentlichkeit
stark wahrgenommen und schaden der Pressefreiheit. In den sozialen Medien
gibt es sehr viele Angriffe, die sich häufig gegen Frauen richten. Während
der Coronapandemie haben sie noch mal zugenommen.
Wie schützen Sie und andere Journalist*innen sich?
Für bedrohte Journalist*innen und
Menschenrechtsverteidiger*innen gibt es einen staatlichen
Schutzmechanismus. Je nach Bedrohungslage stellt der Staat
Sicherheitstechnik und Personenschutz zur Verfügung. Doch der Mechanismus
ist oft zu langsam und reagiert nicht immer auf Bedrohungen. Mehrere
Kolleg*innen waren in Schutzprogrammen und wurden trotzdem ermordet. Wir
organisieren uns also selbst, schaffen Solidaritätsnetzwerke, machen
Sicherheitstrainings, richten Abläufe für Warnmeldungen in
Bedrohungssituationen ein. Überall dort, wo Journalist*innen getötet
werden, bilden sich Kollektive, die sich für Pressefreiheit einsetzen. Wir
sind vorangekommen, aber es reicht nicht aus.
10 Jan 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Tobias Lambert
## TAGS
Mexiko
Drogenkrieg
Investigativer Journalismus
Schwerpunkt Pressefreiheit
Mexiko
Drogen
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