Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Terror in Mexiko
> Dass die Drogenkartelle und ihre Kultur zum Alltag gehören und nicht zu
> einem blutigen Themenpark, wollten die Mexikaner lange nicht wahrhaben.
> Ein Essay über Macht, Straflosigkeit und Terror.
Bild: Narco-Style: Die Luxusmausoleen der Drogenbosse haben Telefon und Klimaan…
Schon Andy Warhol sah eine Zeit kommen, in der jeder Mensch für 15 Minuten
weltberühmt sein werde. Eine solche Glücksutopie hat Sinn in einer
Event-Gesellschaft. Die mexikanische Kultur hingegen verleiht dem Glück auf
andere Art Ansehen: Wichtig ist nicht, was man sieht, sondern was verborgen
bleibt. Ein gelungenes Schicksal mündet nicht in Berühmtheit; es erfüllt
sich im Geheimen. Die mexikanische Utopie besteht im Genuss von 15 Minuten
Straflosigkeit.
71 Jahre lang (von 1929 bis 2000) regierte die Partei der
Institutionalisierten Revolution (PRI), ohne je eine demokratische Wahl
gewonnen oder verloren zu haben. Sie hielt sich vermittels rotierender
Seilschaften, die Öffentliches mit Privatem verwechselten und Hoffnungen -
neues Spiel, neues Glück - erneuerten wie auf einem Jahrmarkt: "Wenn es
diesmal nicht geklappt hat, wird dir mit der nächsten Revolutionsregierung
Gerechtigkeit zuteil werden."
Die mexikanische Art des Regierens, die weder Transparenz noch
Rechenschaftspflicht kennt, hat durch ihre Schattengrammatik die
einheimische Sprache verändert. Die Politik wurde in "die Finstere"
(tenebra) umgetauft, und die wichtigen Geschäfte wurden "im Dunkelchen"
(oscurito) abgewickelt. Gefährlich wurde es, wenn Licht auf eine Sache
fiel; der Verschwörer musste im Schutz der Nacht agieren und dem Gegner
dadurch zuvorkommen, dass er "früh aufstand". In seinem Roman "Der Schatten
des Caudillo"(1) (ein wunderbares Porträt der Generäle der Revolution, die
in den 1920er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu Politikern wurden)
schrieb Martín Luis Guzmán: "Wer zuerst schießt, tötet zuerst. Denn die
mexikanische Politik, eine Politik der Pistole, konjugiert nur ein Verb:
früh aufstehen."
Fast ein Jahrhundert lang war Machtausübung ein Gewerbe der Finsternis,
abhängig vom politischen Wert des Undurchsichtigen. Als das Monopol der PRI
endete, lösten sich die Codes der Straflosigkeit auf, ohne dass andere an
ihre Stelle traten. Willkommen in der Dekade des Chaos! Acht Jahre nach dem
demokratischen Machtwechsel ist Mexiko ein Land von Blut und Blei.
Die Vorherrschaft der Gewalt hat bewährte Umgangsformen und eingespielte
Verfahrensweisen aufgelöst. Die Massenmedien haben ihre Spielräume
erweitert, arbeiten aber in einem Umfeld, wo es immer gefährlicher wird,
die Wahrheit zu sagen. Laut Reporter ohne Grenzen (RSF) liegt Mexiko bei
der Anzahl der verschleppten und ermordeten Journalisten inzwischen vor dem
Irak.
Ereignis und Trugbild lassen sich nicht mehr unterscheiden. In der
Untergangsstimmung kommt Prinzipienlosigkeit als Pragmatismus oder
Notmaßnahme daher. Der Tauschhandel der Macht ist wie ein Maskenspiel: Der
Klerus unterstützt im Bundesstaat Jalisco die seit 2000 regierende,
rechtsgerichtete Partei PAN (Partido de Acción Nacional) und bekommt dafür
üppige Almosen; die Lehrergewerkschaft (die größte Lateinamerikas) bietet
Präsident Calderón mehr als eine Million Stimmen an und bekommt dafür
Posten in so wichtigen Bereichen wie der nationalen Sicherheit; die
Monopolisten führen während des Präsidentschaftswahlkampfs 2006 einen
schmutzigen Medienkrieg gegen den als "Gefahr für Mexiko" dargestellten
Kandidaten der Linken und werden dafür mit der Ausschaltung der Konkurrenz
belohnt.(2 )
Wie bei den amerikanischen Comicfiguren der "Fantastic Four" agieren die
tatsächlichen Mächte im Dunkeln. Als die PRI die Präsidentschaft verlor,
bedeutete das nicht das Ende der Straflosigkeit; sie breitete sich in der
ganzen Verwirrung nur weiter aus. Das hat eine eigenartige Sehnsucht nach
der autoritären Herrschaft der alten Staatspartei ausgelöst, denn "die
wusste wenigstens, wie man stiehlt".
Entsprechend der traditionell hermetischen mexikanischen Politik
verschwanden die Protagonisten von der Bühne und starben, ohne Enthüllungen
zu machen oder kompromittierende Tagebücher zu hinterlassen. Nichts hatte
mehr Gewicht als das Geheimnis und nichts war bedeutsamer als die Geste.
Die Aufgabe der Journalisten bestand darin, mehr oder weniger esoterische
Zeichen zu deuten. Jede Bewegung war einstudiert, wie eine Figur im
Stierkampf oder eine Pose im Kabuki-Theater: Wenn der Präsident gut gelaunt
war, bestellte er am Montag zum Frühstück Spiegeleier mit Ranchero-Sauce;
wenn er bis zu den gebackenen Bohnen kam, ohne ein Wort an den
Innenminister zu richten, stand eine Kabinettsumbildung unmittelbar bevor.
Die politische Gastronomie folgt inzwischen anderen Regeln. Wir stehen vor
einem Buffet, wo einer dem anderen den Teller wegnimmt, alle
durcheinanderschreien und die Reste in Tupper-Dosen mit nach Hause nehmen.
Die Krise der Regierbarkeit findet ihre Entsprechung in einer Krise der
Botschaften. Die Regierung ist außerstande, den Informationsfluss zu
steuern. 70 Jahre lang war es wichtiger, Erklärungen abzugeben, als zu
regieren (der Wohlstand als nicht widerlegbares Versprechen), jetzt
erscheint der Präsident zwischen zwei Morden für ein paar Sekunden im
Fernsehen, ein Wimpernschlag der Politik zwischen den Gewehrsalven. Vor
diesem Hintergrund bietet das organisierte Verbrechen die neuen Leitsymbole
an.
Der Drogenhandel schlägt in der Regel zweimal zu: erst in der Welt der
Taten und dann in den Nachrichten - wo er nur selten auf einen Gegner
trifft. Das Fernsehen steigert noch das Entsetzen, wenn es
Designerverbrechen in Nahaufnahme und Zeitlupe zeigt. Jedes Kartell hat
sein eigenes Markenzeichen: Die einen schneiden die Köpfe ab, andere die
Zunge, wieder andere wickeln ihre Opfer in Decken und stopfen sie in den
Kofferraum eines Autos. In manchen Fällen filmen die Verbrecher ihre
Exekutionen und schicken die Videos an die Medien oder stellen sie nach
sorgfältiger Bearbeitung bei YouTube ein. Die Medien sind die
Duty-Free-Zone der Drogenhändler, die Zone, wo die in der Wirklichkeit
begangene Grausamkeit zur Info-Werbung für den Terror wird.
Die Kartelle wenden die Gesetze des Blutes an, wie Kafka sie in der
Erzählung "In der Strafkolonie" beschreibt. Das Opfer erfährt nicht,
welches Urteil gesprochen wurde: "Es wäre absurd, es ihm mitzuteilen, da es
ihm mit der Egge auf den Leib geschrieben wird." Der "Narco"
(Drogenhändler) benutzt die Sprache der Grausamkeit, bei der die Wunden die
Verurteilung des Opfers nachzeichnen und zugleich eine Drohung gegen die
Zeugen sind.
Das ius sanguinis (Blutrecht) der Drogenbosse kommt durch eine kafkaeske
Umkehrung des gerichtlichen Verfahrens zustande: Das Urteil steht nicht am
Ende, sondern am Anfang eines Prozesses; es kündigt an, dass andere zur
Rechenschaft gezogen werden können. "Wenn du kein Blut fließen lässt, kann
das Gesetz nicht gedeutet werden", schreibt Lyotard über "In der
Strafkolonie". Das ist auch das implizite Motto des organisierten
Verbrechens. Dessen Aussage ist eindeutig - während das andere Gesetz,
nämlich "unseres", verschwommen bleibt.
Die Narcokultur hat ihren Einflussbereich mit den Narcocorridos
ausgeweitet, traditionelle Musik mit drogenbezogenen Texten, die oft von
den Protagonisten selbst in Auftrag gegeben wird. In der allgegenwärtigen
Verwirrung genießen die Trobadore des Verbrechens das zweifelhafte Prestige
der Illegalität, das ein gegen den Strich gebürstetes Charisma und die
Zustimmung der "Volksmoral" verlangt. Traurige Akkordeonklänge begleiten
die Sagas von Raubzügen. So wunderlich oder lustig oder folkloristisch es
auch klingt, wenn die Abenteuer der Leute besungen werden, die "Unkraut"
über die Grenze schmuggeln - die Narcocorridos gehören zu einer
leistungsfähigen Branche (etwa so stark wie die Erdölbranche), die täglich
dutzende Morde verübt. Als Dokumente der Unterwelt betrachtet, sind diese
Musikstücke durchaus erhellend.
Erstaunlichweise haben es die Narcocorridos bis in die Volksmusiksendungen
im Radio und selbst in literarische Anthologien geschafft. Im Namen eines
falsch verstandenen Multikulturalismus hat eine Gruppe von Schriftstellern
vor zwei Jahren dagegen protestiert, dass zwei Narcocorridos aus
Schulbüchern getilgt wurden. Bei ihrer Beschwerde übersahen sie allerdings,
dass diese Texte nicht in Schulstunden über die Probleme Mexikos
durchgenommen wurden, sondern im Literaturunterricht, wo sie Dichter wie
Amado Nervo oder Ramón López Velarde verdrängten.
Die Narcos konnten sich natürlich auf die Unterstützung der Radiosender
verlassen, die von ihnen bedroht oder subventioniert werden (was exakt
dasselbe ist), und ebenso auf das ethnologische Mitgefühl derer, die im
Verbrechen eine Form der Traditionspflege sehen. Der britische
Schriftsteller J. G. Ballard hält die Idee der unbegrenzten Möglichkeit für
die wichtigste Neuerung des 20. Jahrhunderts. "Dieses wissenschaftliche und
technologische Konzept verhängt ein Moratorium über die Vergangenheit - die
Vergangenheit zählt nicht mehr und ist vielleicht tot - während in der
Gegenwart unbegrenzte Möglichkeiten liegen."
Die Technik erlaubt die sofortige Erfüllung der Wünsche und verändert
Gewohnheiten. Die Vertriebsnetze des Konsums und die immer billigeren
Erzeugnisse haben dazu geführt, dass der Rolling-Stones-Song "I can't get
no satisfaction" heute wie blanke Ironie klingt. Im Zeitalter der
programmierten Genüsse ist Nichtbefriedigtsein eine böswillige Beschwerde
oder der abseitige Wunsch eines Dandys.
Der unverhohlene Hang zur Instant-Befriedigung hat sich in Mexiko mit der
Straflosigkeit verbündet. Die Welt der Drogen und die Überbewertung der
Gegenwart finden im Dreiklang aus schnellem Geld, hoch gerüstetem
Verbrechen und der Dominanz des Geheimen zu ihrer Bestimmung. Vergangenheit
und Zukunft, traditionelle Werte und hoffnungsvolle Pläne verlieren in
diesem Umfeld jeden Sinn. Es gibt nur das Hier und Jetzt: die günstige
Gelegenheit, der Handelsplatz der Laune, wo du fünf Ehefrauen haben, einen
Killer für 1 000 und einen Richter für 2 000 Dollar kaufen kannst; wo du am
Rande des guten Geschmacks und der Norm leben kannst, zwischen grässlich
bunten Versace-Hemden, Giraffen aus massivem Gold, Schmuckstücken, die wie
Insekten des Regenwalds aussehen, einer Uhr für 300 000 Dollar und
türkisfarbenen Stiefeln aus Straußenleder. Die Belohnung für die
Maßlosigkeit findet im Narrativ des Verbrechens statt und im Schutz der
Dunkelheit: 15 Minuten Straflosigkeit für alle.
Schon vor 50 Jahren war im Nordosten Mexikos der Drogenhandel ein
allgegenwärtiges Thema. Heute bewegt er gigantische Summen. Die
psychologische Reaktion auf eine Bedrohung, die mit Geld wuchs und gedieh,
war zunächst, sie einfach zu ignorieren, sie in einen lichtlosen Raum zu
verbannen, wo nur die Gegenwart existiert - ein schwarzes Loch, das jeden
Tag größer wird und den Ereignishorizont zurückdrängt, die Grenze, wo die
Zeit noch existiert und die Gegenwart ein Ergebnis des Vergangenen und der
Vorraum des Zukünftigen ist.
Der Drogenhandel hat die kulturellen und medialen Schlachten gewonnen. Die
Gesellschaft schirmt sich vor dem Problem ab, indem sie sich weigert, es
wahrzunehmen: "Die Killer bringen sich gegenseitig um." Die Nachrichten aus
der Unterwelt sind nicht nur zur akzeptierten Routine geworden oder zur
gleichgültigen Banalisierung des Bösen - man distanziert sich einfach
davon. Es geht immer um Unbekannte, weit entfernte oder absonderliche
Menschen, die schon wissen werden, warum sie einander die Kehle
durchschneiden.
Jeden Morgen bringen die Tageszeitungen die blutrote Bilanz: Die zwölf
Enthaupteten in Yucatán von gestern werden heute abgelöst von den 24
Hingerichteten aus dem La-Marquesa-Park. Offenbar gelingt es dem
Überlebensinstinkt, die Zone der Gewalt im Geiste auszugrenzen. Solange es
"die dort" sind, die einander umbringen, sind wir in Sicherheit.
Julio Scherer García, der Nestor des unabhängigen Journalismus in Mexiko,
hat gerade ein aufschlussreiches Buch herausgebracht: "Die Königin des
Pazifik"(3), die Geschichte der bekannten Drogenhändlerin Sandra Ávila.
Über Monate hat Julio Scherer sie in dem Gefängnis besucht, in dem sie seit
dem 28. September 2007 einsitzt. Ávila, die in den Medien als "Königin des
Südens" präsentiert wurde - nach einer Romanfigur von Arturo Pérez Reverte
- verfügt über alle erforderlichen Eigenschaften, um für die Öffentlichkeit
interessant zu sein. Sie ist eine schöne, starke, selbstbewusste Frau,
gefangen genommen von einem schwachen Präsidenten, der seit einem
Fahrradunfall im Kindergarten nicht mehr richtig wachsen wollte und in den
Uniformen, die er gern trägt, noch kleiner wirkt (an ihm sehen sie alle wie
Größe XL aus). Die Königin war eine unwiderstehliche Beute für einen
solchen Herrscher auf kleinem Fuß. Ihre Zurschaustellung ist Teil einer
Propagandastrategie, die über die Auswirkungen des Drogenhandels jedoch
nicht hinwegtäuschen kann.
Laut Scherers Bericht war Sandra Ávila an Verbrechen weniger direkt, aber
auf alarmierend andere Weise beteiligt, als ihre Häscher behaupteten. In
den 44 Jahren ihres Lebens hat sie nichts anderes kennengelernt als die
Narcowelt. Sie spricht darüber, wie Sophia Coppola über das Kino sprechen
könnte. Sie ist mit allen wichtigen Drogenbossen zusammengewesen oder mit
ihnen verwandt, wurde von einem kriminellen Verlobten entführt, hat zwei
Drogenbosse geheiratet (einer davon war ein korrupter Polizeikommandant),
musste erleben, wie ihr halbwüchsiger Sohn gekidnappt wurde, und hat
Menschen zu ihren Füßen sterben sehen; sie hat alle vorstellbaren Feste
gefeiert, Juwelen und Autos besessen, die herrlichsten Villen - wenngleich
oft nur für ein paar Wochen - bewohnt und jeder mit Geld bezahlbaren
Ausschweifung gefrönt. Und obwohl sie an der Universität von Guadalajara
ein Semester Journalismus studiert hat, wusste sie nicht, wer Julio Scherer
war.
Javier Marías hat in einem Kommentar über die Fernsehserie "Die Sopranos"
geschrieben, sie zeige das Privatleben der Gangster und erlaube einen
ungewöhnlichen Zugang: einen Schritt ins Innere, ohne dass man sein Leben
riskiere, in Räume, wo die Mafiosi Menschen sind wie du und ich und sich
mit den Schulproblemen ihrer Kinder herumschlagen müssen. Aus der
Perspektive eines Narcobosses muss das "Draußen" ausgeschaltet und seinem
Privatleben angepasst werden: Er muss den Country Club kaufen, das
Fußballstadion, die Polizeiwache, die Luftblase, in der Sandra Ávila leben
kann. In diesem "Second Life" muss man niemandem etwas vormachen und sich
nicht verstecken, weil alle Zuschauer gekauft sind.
Die Pazifikkönigin scheint nicht die Strategin des Bösen zu sein, die der
Präsident so dringend braucht, sondern etwas viel Gewöhnlicheres und
Schrecklicheres: die Begleiterin der Schande. Sie hat ihr ganzes erfülltes
Leben lang keinen einzigen Moment in der Legalität verbracht. Das
Erstaunlichste dabei ist nicht ihr hoher Rang in der Welt des Verbrechens,
sondern dass sie das Protokoll der Subkultur, in die sie hineingeboren
wurde, erfüllt, als ob es das Natürlichste der Welt wäre (gemurrt hat sie
lediglich darüber, dass sie kein Mann ist, denn dann hätte sie eine
wichtigere Rolle spielen können). Vom kleinen Mädchen bis zur Witwe hatte
sie ein Leben, das man als persönliche Karriere lesen kann; eine Karriere,
wie sie noch vor einigen Jahren nur im Bundesstaat Sinaloa, dem Sitz des
Pazifikkartells, möglich war, die heute jedoch im ganzen Land stattfinden
könnte.
Wer glaubt, dass ein Gegenstand namens Rolex Oyster Perpetual Date genügte,
um die Königin des Pazifik zufriedenzustellen, der täuscht sich: Sandra
Ávila besaß 179 Luxusuhren dieser Art. Solchem Überfluss im Safe entspricht
die Ausstattung der Waffenkammern in der Narcowelt: Nach einem Überfall
lassen die Killer oft 15 oder 17 Maschinengewehre zurück als Beweis, dass
ihr Arsenal unerschöpflich ist.
Das Theatralische an den Narcos beruht auf den Kugeln und der Folter, aber
auch auf der Verschwendung von Waffen und der Vielzahl von Verkleidungen,
die es ihnen erlauben, als Mitglieder jeder beliebigen Polizeieinheit
aufzutreten. Die Drogenkartelle haben den Justizapparat derart infiltriert,
dass sie über alle erdenklichen Uniformen verfügen. Das Erstaunliche dabei
ist eigentlich, dass die Polizei als Komplizin des Verbrechens noch Uniform
trägt.
Dem Drogenhandel ist die Idee der Grenze fremd, er bewegt sich mühelos vom
Privatleben in immer abgelegenere Regionen des zivilen Lebens, die er noch
nicht gekauft hat. Ein Narcoboss braucht bei seinem Eintritt ins
öffentliche Leben keinen anderen Pass als sein Pseudonym, seinen
Gangsternamen; er kann einen Namen aus der Mythologie annehmen ("Herr der
Himmel"), aus dem Landleben ("Don Neto") oder aus einer Trickfilmserie
("Der Blaue"). Die Schlimmsten sind die, die sich mit einer die grausigen
Tatsachen konterkarierenden Koketterie "Barbie" oder "Blonde Wimper"
nennen. Wie die Superhelden haben die Narcos keinen Lebenslauf, sondern nur
eine Legende. In den USA trifft man dergleichen nicht; in Mexiko aber sind
diese Leute allgegenwärtig und unberührbar. Es ist völlig egal, ob sie in
einem Hochsicherheitsgefängnis sitzen oder in einer Villa mit
Perlmutt-Jacuzzi - sie hören nie auf, ihren Geschäften nachzugehen.
Eigenartigerweise ist das Verleugnen der Gewalt in Mexiko inzwischen einer
gut informierten Angst gewichen. Um uns zu beweisen, dass die Narcos
"anders" sind, nahezu außerirdische Wesen, lernen wir jetzt ihre exotischen
Decknamen auswendig und erfinden Gerichte, die sie zu sich nehmen, wie
"Jaguarherz mit Schießpulver" oder "Langustinen bestäubt mit Tamarinde und
Kokain". Aber die Aktivitäten der Narcos haben so überhandgenommen, dass es
immer schwieriger wird, sie sich als etwas Entferntes vorzustellen. Die
"Sopranos" sind inzwischen eine Reality Show, die wir von unseren Nachbarn
geboten bekommen.
Die Landschaft hat sich durch die Investitionen von Schwarzgeld verändert.
Jede beliebige mexikanische Stadt verfügt über ausreichend Schauplätze, die
als Filmkulissen für den Mord an einem Narcoboss oder an einem Kommandanten
dienen könnten. Da gibt es zum Beispiel das perfekte Restaurant, einen
Tempel aus Neon und Plastik, wo die Kellnerinnen im Minirock
Brontosaurierrippchen servieren; daneben eine Niederlassung von Mercedes
Benz und ein Hotel, das mit seiner Plexiglaskuppel an eine Moschee
erinnert. Sogar Städte wie Torreón oder Mérida, die bis vor kurzem als
ruhig galten, weil man davon ausging, dass die Drogenhändler dort ihre
Wohnungen und Rückzugsgebiete hatten, waren schon Schauplätze von blutigen
Abrechnungen.
In der neuen Atmosphäre der Angst bieten 10 000 Agenturen ihre
Sicherheitsdienste an, und mehr als 3 000 Menschen haben sich bereits einen
reiskorngroßen Chip implantieren lassen, damit man sie im Falle eines
Kidnappings mit Radar orten kann.
Wegschauen geht nicht mehr, und es hat auch keinen Sinn mehr, sich
einzureden, dass die Überfälle weit weg in einem Themenpark für blutige
Abrechnungen stattfinden, zu dem wir zum Glück keinen Zutritt haben. Am 15.
September dieses Jahres, dem mexikanischen Unabhängigkeitstag, wurden zwei
Granaten in eine wehrlose Menge auf dem Hauptplatz von Morelia geworfen.
Gleichzeitig gab es ein virtuelles Attentat: Die Einwohner der Stadt
Villahermosa bekamen E-Mails, die ihnen mitteilten, dass sie alle
Kidnappingkandidaten seien.
Präsident Felipe Calderón ging als Sieger aus anfechtbaren Wahlen hervor,
die das Land gespalten haben. Um Stärke unter Beweis zu stellen, ließ er
die Armee überall im Land patrouillieren. Die Ankündigung, dass man vor
einer Konfrontation nicht zurückschrecke, war der Auslöser für Kämpfe
zwischen den Drogenkartellen und für Morde an Polizisten. Doch während in
den Straßen und Schluchten die Leichen lagen, untersuchte niemand die
Finanzierungsnetzwerke der Mafia, keiner verhaftete die Komplizen in der
Regierung.
Der letzte hohe Funktionär, der wegen Geschäften mit der Mafia hinter
Gitter kam, war Mario Villanueva, der damalige Gouverneur des Bundesstaats
Quintana Roo. Das war 2001, unter der Regierung von Ernesto Zedillo, dem
letzten PRI-Präsidenten. Die folgenden beiden - demokratisch gewählten -
Regierungen waren unfähig, gegen sich selbst zu ermitteln und das
Zusammenspiel zwischen Drogenhandel und Politik aufzudecken, dem die
Narcowelt ihr Aufblühen verdankt.
Wir sind bei einer neuen Grammatik des Schreckens angelangt: Wir stehen vor
einem diffusen, nicht zu ortenden Krieg, in dem es keine Front und keine
Etappe gibt, in dem nicht einmal zwei gegnerische Lager zu erkennen sind.
Es ist unmöglich, einigermaßen verlässlich festzustellen, wer wirklich zur
Polizei gehört und wer sie infiltriert hat. Der politische Pakt mit dem
organisierten Verbrechen hat eine entscheidende symbolische Verschiebung
bewirkt. Nachdem es jahrzehntelang immer das "Andere" war, rückt es nun
immer näher und näher.
Die Installationskünstlerin Rosa María Robles hat die neu erwachte Angst
vorweggenommen. Ihre Ausstellung "Navajas" (Messer), die 2007 in Culiacán
gezeigt wurde, enthielt die Arbeit "Alfombra roja" (Roter Teppich). Das war
keine Anspielung auf den Laufsteg, auf dem die Reichen und Schönen Andy
Warhols Utopie entgegenstolzieren, sondern auf die Decken der encobijados
(Verhüllten), getränkt mit dem Blut der Opfer, auf die "Strafkolonie", die
zwischen Januar und Oktober 2008 an die 3 000 Opfer forderte. Der nicht
wiederholbare Augenblick des Verbrechens und die grenzenlosen Möglichkeiten
des Drogenhandels gewinnen in diesem Kunstwerk eine andere Bedeutung. Das
Blut fließt in die lineare Zeit, in den gemeinsamen Boden, wo das Leben vom
Verbrechen erfasst wird.
Robles gelang es, an acht Decken aus einem Polizeidepot heranzukommen. Mit
ihnen hat sie den "roten Teppich" geschaffen. Im Ausstellungsraum wurden
sie zu einem dramatischen Ready-Made. Marcel Duchamp meets James Ellroy:
das "Objet trouvé" als Beweisstück. Robles setzte die Straflosigkeit
doppelt in Szene: Sie zeigte ein unaufgeklärtes Verbrechen und erbrachte
den Beweis, dass es ein Kinderspiel ist, an Gegenstände heranzukommen, die
eigentlich unter strenger Bewachung stehen müssten. Ihre Ausstellung löste
Auseinandersetzungen darüber aus, ob man polizeiliche Beweisstücke
zweckentfremden dürfe. Die tatsächliche Wirkung ihrer Arbeit war aber eine
andere: In der Galerie lieferten die Decken einen viel wertvolleren Beweis
als in der Pathologie.
Nach einigen Diskussionen wurde "Alfombra roja" zurückgezogen. Daraufhin
färbte Robles eine Decke mit ihrem eigenen Blut - eine Geste, die die
mexikanische Gegenwart mit großer Eindringlichkeit illustriert. Wir alle
sollten über diesen roten Teppich gehen. Früher konnten wir meinen, das
vergossene Blut sei das der Anderen. Heute wissen wir, es ist unseres.
Fußnoten:
(1) "La sombra del caudillo" (1929), von Martín Luis Guzmán (1887-1977),
einem Journalisten, der in der mexikanischen Revolution unter Pancho Villa
kämpfte.
(2) Vgl. Renaud Lambert, "Der Besitzer von Mexiko" "Le Monde diplomatique,
Juni 2008, sowie: Juan Villoro, "Patt in Mexiko", "Le Monde diplomatique,
Januar 2007.
(3) Julio Scherer García, "La reina del Pacífico", Ciudad de Mexico
(Grijalbo) 2008.
Aus dem Spanischen von Ralf Leonhard
26 Nov 2008
## AUTOREN
Juan Villoro
## TAGS
Mexiko
## ARTIKEL ZUM THEMA
Journalistin über Drogenkrieg in Mexiko: Journalismus oder Tod
Als Investigativjournalistin recherchierte Marcela Turati zum Drogenkrieg
in Mexiko. Dann wurde klar: Die Polizei überwachte sie.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.