# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Terror in Mexiko | |
> Dass die Drogenkartelle und ihre Kultur zum Alltag gehören und nicht zu | |
> einem blutigen Themenpark, wollten die Mexikaner lange nicht wahrhaben. | |
> Ein Essay über Macht, Straflosigkeit und Terror. | |
Bild: Narco-Style: Die Luxusmausoleen der Drogenbosse haben Telefon und Klimaan… | |
Schon Andy Warhol sah eine Zeit kommen, in der jeder Mensch für 15 Minuten | |
weltberühmt sein werde. Eine solche Glücksutopie hat Sinn in einer | |
Event-Gesellschaft. Die mexikanische Kultur hingegen verleiht dem Glück auf | |
andere Art Ansehen: Wichtig ist nicht, was man sieht, sondern was verborgen | |
bleibt. Ein gelungenes Schicksal mündet nicht in Berühmtheit; es erfüllt | |
sich im Geheimen. Die mexikanische Utopie besteht im Genuss von 15 Minuten | |
Straflosigkeit. | |
71 Jahre lang (von 1929 bis 2000) regierte die Partei der | |
Institutionalisierten Revolution (PRI), ohne je eine demokratische Wahl | |
gewonnen oder verloren zu haben. Sie hielt sich vermittels rotierender | |
Seilschaften, die Öffentliches mit Privatem verwechselten und Hoffnungen - | |
neues Spiel, neues Glück - erneuerten wie auf einem Jahrmarkt: "Wenn es | |
diesmal nicht geklappt hat, wird dir mit der nächsten Revolutionsregierung | |
Gerechtigkeit zuteil werden." | |
Die mexikanische Art des Regierens, die weder Transparenz noch | |
Rechenschaftspflicht kennt, hat durch ihre Schattengrammatik die | |
einheimische Sprache verändert. Die Politik wurde in "die Finstere" | |
(tenebra) umgetauft, und die wichtigen Geschäfte wurden "im Dunkelchen" | |
(oscurito) abgewickelt. Gefährlich wurde es, wenn Licht auf eine Sache | |
fiel; der Verschwörer musste im Schutz der Nacht agieren und dem Gegner | |
dadurch zuvorkommen, dass er "früh aufstand". In seinem Roman "Der Schatten | |
des Caudillo"(1) (ein wunderbares Porträt der Generäle der Revolution, die | |
in den 1920er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu Politikern wurden) | |
schrieb Martín Luis Guzmán: "Wer zuerst schießt, tötet zuerst. Denn die | |
mexikanische Politik, eine Politik der Pistole, konjugiert nur ein Verb: | |
früh aufstehen." | |
Fast ein Jahrhundert lang war Machtausübung ein Gewerbe der Finsternis, | |
abhängig vom politischen Wert des Undurchsichtigen. Als das Monopol der PRI | |
endete, lösten sich die Codes der Straflosigkeit auf, ohne dass andere an | |
ihre Stelle traten. Willkommen in der Dekade des Chaos! Acht Jahre nach dem | |
demokratischen Machtwechsel ist Mexiko ein Land von Blut und Blei. | |
Die Vorherrschaft der Gewalt hat bewährte Umgangsformen und eingespielte | |
Verfahrensweisen aufgelöst. Die Massenmedien haben ihre Spielräume | |
erweitert, arbeiten aber in einem Umfeld, wo es immer gefährlicher wird, | |
die Wahrheit zu sagen. Laut Reporter ohne Grenzen (RSF) liegt Mexiko bei | |
der Anzahl der verschleppten und ermordeten Journalisten inzwischen vor dem | |
Irak. | |
Ereignis und Trugbild lassen sich nicht mehr unterscheiden. In der | |
Untergangsstimmung kommt Prinzipienlosigkeit als Pragmatismus oder | |
Notmaßnahme daher. Der Tauschhandel der Macht ist wie ein Maskenspiel: Der | |
Klerus unterstützt im Bundesstaat Jalisco die seit 2000 regierende, | |
rechtsgerichtete Partei PAN (Partido de Acción Nacional) und bekommt dafür | |
üppige Almosen; die Lehrergewerkschaft (die größte Lateinamerikas) bietet | |
Präsident Calderón mehr als eine Million Stimmen an und bekommt dafür | |
Posten in so wichtigen Bereichen wie der nationalen Sicherheit; die | |
Monopolisten führen während des Präsidentschaftswahlkampfs 2006 einen | |
schmutzigen Medienkrieg gegen den als "Gefahr für Mexiko" dargestellten | |
Kandidaten der Linken und werden dafür mit der Ausschaltung der Konkurrenz | |
belohnt.(2 ) | |
Wie bei den amerikanischen Comicfiguren der "Fantastic Four" agieren die | |
tatsächlichen Mächte im Dunkeln. Als die PRI die Präsidentschaft verlor, | |
bedeutete das nicht das Ende der Straflosigkeit; sie breitete sich in der | |
ganzen Verwirrung nur weiter aus. Das hat eine eigenartige Sehnsucht nach | |
der autoritären Herrschaft der alten Staatspartei ausgelöst, denn "die | |
wusste wenigstens, wie man stiehlt". | |
Entsprechend der traditionell hermetischen mexikanischen Politik | |
verschwanden die Protagonisten von der Bühne und starben, ohne Enthüllungen | |
zu machen oder kompromittierende Tagebücher zu hinterlassen. Nichts hatte | |
mehr Gewicht als das Geheimnis und nichts war bedeutsamer als die Geste. | |
Die Aufgabe der Journalisten bestand darin, mehr oder weniger esoterische | |
Zeichen zu deuten. Jede Bewegung war einstudiert, wie eine Figur im | |
Stierkampf oder eine Pose im Kabuki-Theater: Wenn der Präsident gut gelaunt | |
war, bestellte er am Montag zum Frühstück Spiegeleier mit Ranchero-Sauce; | |
wenn er bis zu den gebackenen Bohnen kam, ohne ein Wort an den | |
Innenminister zu richten, stand eine Kabinettsumbildung unmittelbar bevor. | |
Die politische Gastronomie folgt inzwischen anderen Regeln. Wir stehen vor | |
einem Buffet, wo einer dem anderen den Teller wegnimmt, alle | |
durcheinanderschreien und die Reste in Tupper-Dosen mit nach Hause nehmen. | |
Die Krise der Regierbarkeit findet ihre Entsprechung in einer Krise der | |
Botschaften. Die Regierung ist außerstande, den Informationsfluss zu | |
steuern. 70 Jahre lang war es wichtiger, Erklärungen abzugeben, als zu | |
regieren (der Wohlstand als nicht widerlegbares Versprechen), jetzt | |
erscheint der Präsident zwischen zwei Morden für ein paar Sekunden im | |
Fernsehen, ein Wimpernschlag der Politik zwischen den Gewehrsalven. Vor | |
diesem Hintergrund bietet das organisierte Verbrechen die neuen Leitsymbole | |
an. | |
Der Drogenhandel schlägt in der Regel zweimal zu: erst in der Welt der | |
Taten und dann in den Nachrichten - wo er nur selten auf einen Gegner | |
trifft. Das Fernsehen steigert noch das Entsetzen, wenn es | |
Designerverbrechen in Nahaufnahme und Zeitlupe zeigt. Jedes Kartell hat | |
sein eigenes Markenzeichen: Die einen schneiden die Köpfe ab, andere die | |
Zunge, wieder andere wickeln ihre Opfer in Decken und stopfen sie in den | |
Kofferraum eines Autos. In manchen Fällen filmen die Verbrecher ihre | |
Exekutionen und schicken die Videos an die Medien oder stellen sie nach | |
sorgfältiger Bearbeitung bei YouTube ein. Die Medien sind die | |
Duty-Free-Zone der Drogenhändler, die Zone, wo die in der Wirklichkeit | |
begangene Grausamkeit zur Info-Werbung für den Terror wird. | |
Die Kartelle wenden die Gesetze des Blutes an, wie Kafka sie in der | |
Erzählung "In der Strafkolonie" beschreibt. Das Opfer erfährt nicht, | |
welches Urteil gesprochen wurde: "Es wäre absurd, es ihm mitzuteilen, da es | |
ihm mit der Egge auf den Leib geschrieben wird." Der "Narco" | |
(Drogenhändler) benutzt die Sprache der Grausamkeit, bei der die Wunden die | |
Verurteilung des Opfers nachzeichnen und zugleich eine Drohung gegen die | |
Zeugen sind. | |
Das ius sanguinis (Blutrecht) der Drogenbosse kommt durch eine kafkaeske | |
Umkehrung des gerichtlichen Verfahrens zustande: Das Urteil steht nicht am | |
Ende, sondern am Anfang eines Prozesses; es kündigt an, dass andere zur | |
Rechenschaft gezogen werden können. "Wenn du kein Blut fließen lässt, kann | |
das Gesetz nicht gedeutet werden", schreibt Lyotard über "In der | |
Strafkolonie". Das ist auch das implizite Motto des organisierten | |
Verbrechens. Dessen Aussage ist eindeutig - während das andere Gesetz, | |
nämlich "unseres", verschwommen bleibt. | |
Die Narcokultur hat ihren Einflussbereich mit den Narcocorridos | |
ausgeweitet, traditionelle Musik mit drogenbezogenen Texten, die oft von | |
den Protagonisten selbst in Auftrag gegeben wird. In der allgegenwärtigen | |
Verwirrung genießen die Trobadore des Verbrechens das zweifelhafte Prestige | |
der Illegalität, das ein gegen den Strich gebürstetes Charisma und die | |
Zustimmung der "Volksmoral" verlangt. Traurige Akkordeonklänge begleiten | |
die Sagas von Raubzügen. So wunderlich oder lustig oder folkloristisch es | |
auch klingt, wenn die Abenteuer der Leute besungen werden, die "Unkraut" | |
über die Grenze schmuggeln - die Narcocorridos gehören zu einer | |
leistungsfähigen Branche (etwa so stark wie die Erdölbranche), die täglich | |
dutzende Morde verübt. Als Dokumente der Unterwelt betrachtet, sind diese | |
Musikstücke durchaus erhellend. | |
Erstaunlichweise haben es die Narcocorridos bis in die Volksmusiksendungen | |
im Radio und selbst in literarische Anthologien geschafft. Im Namen eines | |
falsch verstandenen Multikulturalismus hat eine Gruppe von Schriftstellern | |
vor zwei Jahren dagegen protestiert, dass zwei Narcocorridos aus | |
Schulbüchern getilgt wurden. Bei ihrer Beschwerde übersahen sie allerdings, | |
dass diese Texte nicht in Schulstunden über die Probleme Mexikos | |
durchgenommen wurden, sondern im Literaturunterricht, wo sie Dichter wie | |
Amado Nervo oder Ramón López Velarde verdrängten. | |
Die Narcos konnten sich natürlich auf die Unterstützung der Radiosender | |
verlassen, die von ihnen bedroht oder subventioniert werden (was exakt | |
dasselbe ist), und ebenso auf das ethnologische Mitgefühl derer, die im | |
Verbrechen eine Form der Traditionspflege sehen. Der britische | |
Schriftsteller J. G. Ballard hält die Idee der unbegrenzten Möglichkeit für | |
die wichtigste Neuerung des 20. Jahrhunderts. "Dieses wissenschaftliche und | |
technologische Konzept verhängt ein Moratorium über die Vergangenheit - die | |
Vergangenheit zählt nicht mehr und ist vielleicht tot - während in der | |
Gegenwart unbegrenzte Möglichkeiten liegen." | |
Die Technik erlaubt die sofortige Erfüllung der Wünsche und verändert | |
Gewohnheiten. Die Vertriebsnetze des Konsums und die immer billigeren | |
Erzeugnisse haben dazu geführt, dass der Rolling-Stones-Song "I can't get | |
no satisfaction" heute wie blanke Ironie klingt. Im Zeitalter der | |
programmierten Genüsse ist Nichtbefriedigtsein eine böswillige Beschwerde | |
oder der abseitige Wunsch eines Dandys. | |
Der unverhohlene Hang zur Instant-Befriedigung hat sich in Mexiko mit der | |
Straflosigkeit verbündet. Die Welt der Drogen und die Überbewertung der | |
Gegenwart finden im Dreiklang aus schnellem Geld, hoch gerüstetem | |
Verbrechen und der Dominanz des Geheimen zu ihrer Bestimmung. Vergangenheit | |
und Zukunft, traditionelle Werte und hoffnungsvolle Pläne verlieren in | |
diesem Umfeld jeden Sinn. Es gibt nur das Hier und Jetzt: die günstige | |
Gelegenheit, der Handelsplatz der Laune, wo du fünf Ehefrauen haben, einen | |
Killer für 1 000 und einen Richter für 2 000 Dollar kaufen kannst; wo du am | |
Rande des guten Geschmacks und der Norm leben kannst, zwischen grässlich | |
bunten Versace-Hemden, Giraffen aus massivem Gold, Schmuckstücken, die wie | |
Insekten des Regenwalds aussehen, einer Uhr für 300 000 Dollar und | |
türkisfarbenen Stiefeln aus Straußenleder. Die Belohnung für die | |
Maßlosigkeit findet im Narrativ des Verbrechens statt und im Schutz der | |
Dunkelheit: 15 Minuten Straflosigkeit für alle. | |
Schon vor 50 Jahren war im Nordosten Mexikos der Drogenhandel ein | |
allgegenwärtiges Thema. Heute bewegt er gigantische Summen. Die | |
psychologische Reaktion auf eine Bedrohung, die mit Geld wuchs und gedieh, | |
war zunächst, sie einfach zu ignorieren, sie in einen lichtlosen Raum zu | |
verbannen, wo nur die Gegenwart existiert - ein schwarzes Loch, das jeden | |
Tag größer wird und den Ereignishorizont zurückdrängt, die Grenze, wo die | |
Zeit noch existiert und die Gegenwart ein Ergebnis des Vergangenen und der | |
Vorraum des Zukünftigen ist. | |
Der Drogenhandel hat die kulturellen und medialen Schlachten gewonnen. Die | |
Gesellschaft schirmt sich vor dem Problem ab, indem sie sich weigert, es | |
wahrzunehmen: "Die Killer bringen sich gegenseitig um." Die Nachrichten aus | |
der Unterwelt sind nicht nur zur akzeptierten Routine geworden oder zur | |
gleichgültigen Banalisierung des Bösen - man distanziert sich einfach | |
davon. Es geht immer um Unbekannte, weit entfernte oder absonderliche | |
Menschen, die schon wissen werden, warum sie einander die Kehle | |
durchschneiden. | |
Jeden Morgen bringen die Tageszeitungen die blutrote Bilanz: Die zwölf | |
Enthaupteten in Yucatán von gestern werden heute abgelöst von den 24 | |
Hingerichteten aus dem La-Marquesa-Park. Offenbar gelingt es dem | |
Überlebensinstinkt, die Zone der Gewalt im Geiste auszugrenzen. Solange es | |
"die dort" sind, die einander umbringen, sind wir in Sicherheit. | |
Julio Scherer García, der Nestor des unabhängigen Journalismus in Mexiko, | |
hat gerade ein aufschlussreiches Buch herausgebracht: "Die Königin des | |
Pazifik"(3), die Geschichte der bekannten Drogenhändlerin Sandra Ávila. | |
Über Monate hat Julio Scherer sie in dem Gefängnis besucht, in dem sie seit | |
dem 28. September 2007 einsitzt. Ávila, die in den Medien als "Königin des | |
Südens" präsentiert wurde - nach einer Romanfigur von Arturo Pérez Reverte | |
- verfügt über alle erforderlichen Eigenschaften, um für die Öffentlichkeit | |
interessant zu sein. Sie ist eine schöne, starke, selbstbewusste Frau, | |
gefangen genommen von einem schwachen Präsidenten, der seit einem | |
Fahrradunfall im Kindergarten nicht mehr richtig wachsen wollte und in den | |
Uniformen, die er gern trägt, noch kleiner wirkt (an ihm sehen sie alle wie | |
Größe XL aus). Die Königin war eine unwiderstehliche Beute für einen | |
solchen Herrscher auf kleinem Fuß. Ihre Zurschaustellung ist Teil einer | |
Propagandastrategie, die über die Auswirkungen des Drogenhandels jedoch | |
nicht hinwegtäuschen kann. | |
Laut Scherers Bericht war Sandra Ávila an Verbrechen weniger direkt, aber | |
auf alarmierend andere Weise beteiligt, als ihre Häscher behaupteten. In | |
den 44 Jahren ihres Lebens hat sie nichts anderes kennengelernt als die | |
Narcowelt. Sie spricht darüber, wie Sophia Coppola über das Kino sprechen | |
könnte. Sie ist mit allen wichtigen Drogenbossen zusammengewesen oder mit | |
ihnen verwandt, wurde von einem kriminellen Verlobten entführt, hat zwei | |
Drogenbosse geheiratet (einer davon war ein korrupter Polizeikommandant), | |
musste erleben, wie ihr halbwüchsiger Sohn gekidnappt wurde, und hat | |
Menschen zu ihren Füßen sterben sehen; sie hat alle vorstellbaren Feste | |
gefeiert, Juwelen und Autos besessen, die herrlichsten Villen - wenngleich | |
oft nur für ein paar Wochen - bewohnt und jeder mit Geld bezahlbaren | |
Ausschweifung gefrönt. Und obwohl sie an der Universität von Guadalajara | |
ein Semester Journalismus studiert hat, wusste sie nicht, wer Julio Scherer | |
war. | |
Javier Marías hat in einem Kommentar über die Fernsehserie "Die Sopranos" | |
geschrieben, sie zeige das Privatleben der Gangster und erlaube einen | |
ungewöhnlichen Zugang: einen Schritt ins Innere, ohne dass man sein Leben | |
riskiere, in Räume, wo die Mafiosi Menschen sind wie du und ich und sich | |
mit den Schulproblemen ihrer Kinder herumschlagen müssen. Aus der | |
Perspektive eines Narcobosses muss das "Draußen" ausgeschaltet und seinem | |
Privatleben angepasst werden: Er muss den Country Club kaufen, das | |
Fußballstadion, die Polizeiwache, die Luftblase, in der Sandra Ávila leben | |
kann. In diesem "Second Life" muss man niemandem etwas vormachen und sich | |
nicht verstecken, weil alle Zuschauer gekauft sind. | |
Die Pazifikkönigin scheint nicht die Strategin des Bösen zu sein, die der | |
Präsident so dringend braucht, sondern etwas viel Gewöhnlicheres und | |
Schrecklicheres: die Begleiterin der Schande. Sie hat ihr ganzes erfülltes | |
Leben lang keinen einzigen Moment in der Legalität verbracht. Das | |
Erstaunlichste dabei ist nicht ihr hoher Rang in der Welt des Verbrechens, | |
sondern dass sie das Protokoll der Subkultur, in die sie hineingeboren | |
wurde, erfüllt, als ob es das Natürlichste der Welt wäre (gemurrt hat sie | |
lediglich darüber, dass sie kein Mann ist, denn dann hätte sie eine | |
wichtigere Rolle spielen können). Vom kleinen Mädchen bis zur Witwe hatte | |
sie ein Leben, das man als persönliche Karriere lesen kann; eine Karriere, | |
wie sie noch vor einigen Jahren nur im Bundesstaat Sinaloa, dem Sitz des | |
Pazifikkartells, möglich war, die heute jedoch im ganzen Land stattfinden | |
könnte. | |
Wer glaubt, dass ein Gegenstand namens Rolex Oyster Perpetual Date genügte, | |
um die Königin des Pazifik zufriedenzustellen, der täuscht sich: Sandra | |
Ávila besaß 179 Luxusuhren dieser Art. Solchem Überfluss im Safe entspricht | |
die Ausstattung der Waffenkammern in der Narcowelt: Nach einem Überfall | |
lassen die Killer oft 15 oder 17 Maschinengewehre zurück als Beweis, dass | |
ihr Arsenal unerschöpflich ist. | |
Das Theatralische an den Narcos beruht auf den Kugeln und der Folter, aber | |
auch auf der Verschwendung von Waffen und der Vielzahl von Verkleidungen, | |
die es ihnen erlauben, als Mitglieder jeder beliebigen Polizeieinheit | |
aufzutreten. Die Drogenkartelle haben den Justizapparat derart infiltriert, | |
dass sie über alle erdenklichen Uniformen verfügen. Das Erstaunliche dabei | |
ist eigentlich, dass die Polizei als Komplizin des Verbrechens noch Uniform | |
trägt. | |
Dem Drogenhandel ist die Idee der Grenze fremd, er bewegt sich mühelos vom | |
Privatleben in immer abgelegenere Regionen des zivilen Lebens, die er noch | |
nicht gekauft hat. Ein Narcoboss braucht bei seinem Eintritt ins | |
öffentliche Leben keinen anderen Pass als sein Pseudonym, seinen | |
Gangsternamen; er kann einen Namen aus der Mythologie annehmen ("Herr der | |
Himmel"), aus dem Landleben ("Don Neto") oder aus einer Trickfilmserie | |
("Der Blaue"). Die Schlimmsten sind die, die sich mit einer die grausigen | |
Tatsachen konterkarierenden Koketterie "Barbie" oder "Blonde Wimper" | |
nennen. Wie die Superhelden haben die Narcos keinen Lebenslauf, sondern nur | |
eine Legende. In den USA trifft man dergleichen nicht; in Mexiko aber sind | |
diese Leute allgegenwärtig und unberührbar. Es ist völlig egal, ob sie in | |
einem Hochsicherheitsgefängnis sitzen oder in einer Villa mit | |
Perlmutt-Jacuzzi - sie hören nie auf, ihren Geschäften nachzugehen. | |
Eigenartigerweise ist das Verleugnen der Gewalt in Mexiko inzwischen einer | |
gut informierten Angst gewichen. Um uns zu beweisen, dass die Narcos | |
"anders" sind, nahezu außerirdische Wesen, lernen wir jetzt ihre exotischen | |
Decknamen auswendig und erfinden Gerichte, die sie zu sich nehmen, wie | |
"Jaguarherz mit Schießpulver" oder "Langustinen bestäubt mit Tamarinde und | |
Kokain". Aber die Aktivitäten der Narcos haben so überhandgenommen, dass es | |
immer schwieriger wird, sie sich als etwas Entferntes vorzustellen. Die | |
"Sopranos" sind inzwischen eine Reality Show, die wir von unseren Nachbarn | |
geboten bekommen. | |
Die Landschaft hat sich durch die Investitionen von Schwarzgeld verändert. | |
Jede beliebige mexikanische Stadt verfügt über ausreichend Schauplätze, die | |
als Filmkulissen für den Mord an einem Narcoboss oder an einem Kommandanten | |
dienen könnten. Da gibt es zum Beispiel das perfekte Restaurant, einen | |
Tempel aus Neon und Plastik, wo die Kellnerinnen im Minirock | |
Brontosaurierrippchen servieren; daneben eine Niederlassung von Mercedes | |
Benz und ein Hotel, das mit seiner Plexiglaskuppel an eine Moschee | |
erinnert. Sogar Städte wie Torreón oder Mérida, die bis vor kurzem als | |
ruhig galten, weil man davon ausging, dass die Drogenhändler dort ihre | |
Wohnungen und Rückzugsgebiete hatten, waren schon Schauplätze von blutigen | |
Abrechnungen. | |
In der neuen Atmosphäre der Angst bieten 10 000 Agenturen ihre | |
Sicherheitsdienste an, und mehr als 3 000 Menschen haben sich bereits einen | |
reiskorngroßen Chip implantieren lassen, damit man sie im Falle eines | |
Kidnappings mit Radar orten kann. | |
Wegschauen geht nicht mehr, und es hat auch keinen Sinn mehr, sich | |
einzureden, dass die Überfälle weit weg in einem Themenpark für blutige | |
Abrechnungen stattfinden, zu dem wir zum Glück keinen Zutritt haben. Am 15. | |
September dieses Jahres, dem mexikanischen Unabhängigkeitstag, wurden zwei | |
Granaten in eine wehrlose Menge auf dem Hauptplatz von Morelia geworfen. | |
Gleichzeitig gab es ein virtuelles Attentat: Die Einwohner der Stadt | |
Villahermosa bekamen E-Mails, die ihnen mitteilten, dass sie alle | |
Kidnappingkandidaten seien. | |
Präsident Felipe Calderón ging als Sieger aus anfechtbaren Wahlen hervor, | |
die das Land gespalten haben. Um Stärke unter Beweis zu stellen, ließ er | |
die Armee überall im Land patrouillieren. Die Ankündigung, dass man vor | |
einer Konfrontation nicht zurückschrecke, war der Auslöser für Kämpfe | |
zwischen den Drogenkartellen und für Morde an Polizisten. Doch während in | |
den Straßen und Schluchten die Leichen lagen, untersuchte niemand die | |
Finanzierungsnetzwerke der Mafia, keiner verhaftete die Komplizen in der | |
Regierung. | |
Der letzte hohe Funktionär, der wegen Geschäften mit der Mafia hinter | |
Gitter kam, war Mario Villanueva, der damalige Gouverneur des Bundesstaats | |
Quintana Roo. Das war 2001, unter der Regierung von Ernesto Zedillo, dem | |
letzten PRI-Präsidenten. Die folgenden beiden - demokratisch gewählten - | |
Regierungen waren unfähig, gegen sich selbst zu ermitteln und das | |
Zusammenspiel zwischen Drogenhandel und Politik aufzudecken, dem die | |
Narcowelt ihr Aufblühen verdankt. | |
Wir sind bei einer neuen Grammatik des Schreckens angelangt: Wir stehen vor | |
einem diffusen, nicht zu ortenden Krieg, in dem es keine Front und keine | |
Etappe gibt, in dem nicht einmal zwei gegnerische Lager zu erkennen sind. | |
Es ist unmöglich, einigermaßen verlässlich festzustellen, wer wirklich zur | |
Polizei gehört und wer sie infiltriert hat. Der politische Pakt mit dem | |
organisierten Verbrechen hat eine entscheidende symbolische Verschiebung | |
bewirkt. Nachdem es jahrzehntelang immer das "Andere" war, rückt es nun | |
immer näher und näher. | |
Die Installationskünstlerin Rosa María Robles hat die neu erwachte Angst | |
vorweggenommen. Ihre Ausstellung "Navajas" (Messer), die 2007 in Culiacán | |
gezeigt wurde, enthielt die Arbeit "Alfombra roja" (Roter Teppich). Das war | |
keine Anspielung auf den Laufsteg, auf dem die Reichen und Schönen Andy | |
Warhols Utopie entgegenstolzieren, sondern auf die Decken der encobijados | |
(Verhüllten), getränkt mit dem Blut der Opfer, auf die "Strafkolonie", die | |
zwischen Januar und Oktober 2008 an die 3 000 Opfer forderte. Der nicht | |
wiederholbare Augenblick des Verbrechens und die grenzenlosen Möglichkeiten | |
des Drogenhandels gewinnen in diesem Kunstwerk eine andere Bedeutung. Das | |
Blut fließt in die lineare Zeit, in den gemeinsamen Boden, wo das Leben vom | |
Verbrechen erfasst wird. | |
Robles gelang es, an acht Decken aus einem Polizeidepot heranzukommen. Mit | |
ihnen hat sie den "roten Teppich" geschaffen. Im Ausstellungsraum wurden | |
sie zu einem dramatischen Ready-Made. Marcel Duchamp meets James Ellroy: | |
das "Objet trouvé" als Beweisstück. Robles setzte die Straflosigkeit | |
doppelt in Szene: Sie zeigte ein unaufgeklärtes Verbrechen und erbrachte | |
den Beweis, dass es ein Kinderspiel ist, an Gegenstände heranzukommen, die | |
eigentlich unter strenger Bewachung stehen müssten. Ihre Ausstellung löste | |
Auseinandersetzungen darüber aus, ob man polizeiliche Beweisstücke | |
zweckentfremden dürfe. Die tatsächliche Wirkung ihrer Arbeit war aber eine | |
andere: In der Galerie lieferten die Decken einen viel wertvolleren Beweis | |
als in der Pathologie. | |
Nach einigen Diskussionen wurde "Alfombra roja" zurückgezogen. Daraufhin | |
färbte Robles eine Decke mit ihrem eigenen Blut - eine Geste, die die | |
mexikanische Gegenwart mit großer Eindringlichkeit illustriert. Wir alle | |
sollten über diesen roten Teppich gehen. Früher konnten wir meinen, das | |
vergossene Blut sei das der Anderen. Heute wissen wir, es ist unseres. | |
Fußnoten: | |
(1) "La sombra del caudillo" (1929), von Martín Luis Guzmán (1887-1977), | |
einem Journalisten, der in der mexikanischen Revolution unter Pancho Villa | |
kämpfte. | |
(2) Vgl. Renaud Lambert, "Der Besitzer von Mexiko" "Le Monde diplomatique, | |
Juni 2008, sowie: Juan Villoro, "Patt in Mexiko", "Le Monde diplomatique, | |
Januar 2007. | |
(3) Julio Scherer García, "La reina del Pacífico", Ciudad de Mexico | |
(Grijalbo) 2008. | |
Aus dem Spanischen von Ralf Leonhard | |
26 Nov 2008 | |
## AUTOREN | |
Juan Villoro | |
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Mexiko | |
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