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# taz.de -- Afghanistan und Scharia-Gesetzgebung: Justiz nach Art der Taliban
> Im Kabuler Stadtviertel Nummer 10 tagt das Scharia-Gericht. Es geht um
> Entschädigung für einen IS-Kämpfer, Mietschulden und fehlendes
> Schreibgerät.
Bild: „Ich bin nicht gerecht, es ist die Scharia, die gerecht ist“: Richter…
Kabul taz | Rechts des Richters hat ein Dschihadist vom „Islamischen Staat“
(IS) Platz genommen. Davor sitzt eine Mutter mit ihrem 16-jährigen Sohn:
Dieser war von dem Gotteskrieger dazu animiert worden, seinen eigenen Vater
zu erschießen. Der war als Soldat der afghanischen Armee in den Augen des
IS ein Verräter im Sold der USA. Aber nicht der Mann vom „Islamischen
Staat“ ist hier angeklagt. Sondern die Mutter. Denn der Dschihadist
verlangt von ihr Schadenersatz in Höhe von 16.000 US-Dollar, weil er wegen
Anstiftung zum Mord im Gefängnis einsitzen musste.
Die Mutter trägt einen weißen Hidschab, ein islamisches Kopftuch, wie es
für weibliche Staatsangestellte in Afghanistan bisher üblich war. Sie lässt
sich von der Atmosphäre im Gerichtssaal nicht einschüchtern.
Der als Richter agierende Mullah, zugleich der von den Taliban eingesetzte
Bürgermeister des Stadtviertels, streicht seinen Bart. „16.000 Dollar für
alles inklusive?“ fragt Mohamed Shakeer. „Auch für die Folter?“ Dann sch…
er die Reporterin an und sagt: „Kabul ist schon verdammt kompliziert. Es
ist eben nicht Dubai.“ Dort funktioniert nach Meinung vieler Afghanen alles
perfekt.
Niemand weiß, wie viele Einwohner in der afghanischen Hauptstadt leben.
Laut englischsprachigem Wikipedia sind es 4,6 Millionen, laut deutschem 4,3
Millionen. Kabul ist in so vielen Kriegen so oft zerstört und wieder
aufgebaut worden, dass die Stadt keine Struktur mehr besitzt. Die Stadt
zwischen den Bergen ist eine Ansammlung von Gebäuden. Gewiss ist einzig,
dass Kabul in 22 Viertel unterteilt ist. Deren Bürgermeister müssen sich im
Grunde um alles kümmern – auch um die Scharia, das islamische Recht.
## Korruption hat das alte Regime verhasst gemacht
Das Rathaus von Distrikt Nummer 10 ist in einem gewöhnlichen zweistöckigen
Betongebäude untergebracht, an einem Hof voller Wracks alter, rostiger
Humvee-Militärfahrzeuge. Das Viertel ist der wichtigste Bezirk, denn es
liegt im Zentrum der Stadt. Hier bat ein französischer Reporter einen Talib
nach der Machtübernahme der Islamisten, Afghanistan auf einem Globus zu
lokalisieren. Das Video, in dem der Talib die Frage nicht beantworten kann,
ging viral.
„Aber wer trägt denn die Schuld dafür, wenn ein Talib noch nie einen Globus
gesehen hat? Er oder diejenigen, die ihm nie eine Schule gebaut haben?“,
fragt ein junger Mann, der vor dem Gebäude in der Warteschlange steht. „Wie
wohl jeder andere würde auch ich einen Wirtschaftswissenschaftler als
Wirtschaftsminister vorziehen. Aber bisher haben die Ökonomen Afghanistan
nur zu einem der korruptesten Länder der Welt gemacht,“ sagt er.
Afghanistan liegt auf dem Korruptionsindex von Transparency International
auf Rang 165 von 179 Staaten. Nach zwanzig Jahren US-geführter Intervention
und einem 2,3 Billionen Dollar teuren Krieg gibt es in Kabul immer noch
keine vernünftige Kanalisation, aber dafür alltägliche Stromausfälle. Das
Wasser aus den Leitungen ist gelblich verfärbt.
Der in der Schlange wartende junge Mann heißt Abdul Hakim und ist
Universitätsdozent. Er erzählt, dass er 50.000 Dollar Lösegeld bezahlen
musste, um seinen entführten Bruder freizubekommen. „Ich weiß nicht, ob die
Taliban in der Lage sein werden, die Wirtschaft wieder aufzubauen oder
nicht“, sagt er. „Aber ich weiß, dass die Entführer meines Bruders bereits
im Gefängnis sitzen.“ Zum ersten Mal seit Jahren sind Kabuls Straßen auch
nachts ruhig.
## Die Angeklagten kommen ohne Zwang
Im Rathaus von Distrikt Nummer 10 tagt so etwas wie ein Scharia-Gericht
unterster Instanz. Bewaffnet mit einem Stempel des Islamischen Emirats
Afghanistan hört der 35-jährige Bürgermeister die streitenden Parteien an.
Mohamed Shakeer wird von vier Beratern mit schwarzen Turbanen unterstützt:
Wenn es keine einvernehmliche Lösung gibt, entscheidet Shakeer den Fall
alleine. Sein Urteil kann danach vom Obersten Gerichtshof angefochten
werden.
In der Regel erscheint der Angeklagte freiwillig, denn, so sagt es Shakeer:
„Sie wissen, dass wir sonst an ihre Tür klopfen würden. Die Zeit der
Straffreiheit ist vorbei.“ Köpfe und Hände werden hier nicht abgeschlagen.
Die Taliban bemühen sich derzeit um internationale Anerkennung und um
Zugang zu den dringend benötigten internationalen Finanzhilfen. Die
einzigen hier verhängten Strafen lauten deshalb vorerst auf
Gefängnisaufenthalte.
Was wird aus Afghanistan werden? Diese Frage stellt sich jeder in Kabul.
Sind die Taliban anders als vor 20 Jahren, als sie schon einmal die Macht
innehatten? „Ich weiß es nicht“, sagt Bürgermeister Shakeer lakonisch.
„Damals waren die meisten von uns noch nicht auf der Welt.“ Das
Durchschnittsalter der Bevölkerung Afghanistans liegt bei gut 18 Jahren.
Zweifellos ist es in diesem Land für niemanden einfach, an der Macht zu
sein und es auch zu bleiben. Nach dem islamischen Kalender leben wir
derzeit im Jahr 1443. Man sieht immer noch Heißwasserverkäufer in den
Straßen. Schreiber, die für Analphabeten Briefe verfassen, bieten ihre
Dienste an.
## Mit Stiften kann das Gericht nicht aushelfen
Vor dem Gericht beklagt sich ein Mann, dass direkt vor seinem Haus ein
Gebäude gebaut werde – ohne jeden Mindestabstand. Dann tauchen drei Taliban
aus einem anderen Stadtviertel auf. Sie bitten den Richter um Stift und
Papier. „Wie können wir ohne Stift und Papier regieren?“ sagen sie. „Tut
mir leid, ich habe nur diesen Stift“, antwortet der Bürgermeister. „Und es
ist nicht einmal meiner.“ Im Rathaus von Distrikt Nummer 10 steht kein
einziger Computer.
Mit der Rückkehr der Taliban an die Macht fürchtete die internationale
Gemeinschaft auch die Rückkehr der Scharia, des islamischen Rechts.
Tatsächlich geht es in Kabul eigentlich so zu wie zuvor. Denn es galt schon
immer die Scharia. Der einzige Unterschied besteht darin, dass man unter
der alten Regierung bestechen musste, um sein Recht zu erhalten, so heißt
es. Jetzt hingegen seien alle gleich. Reich und Arm. Taliban und
Nichttaliban. Und die Scharia lässt sich unterschiedlich interpretieren.
Ein schiitischer Hasara, dessen Moschee von IS-Dschihadisten angegriffen
worden ist, kommt in den Gerichtssaal und bittet um Schutz. „Und trauen Sie
den Taliban?“, frage ich. „Ich würde mir eine andere Regierung wünschen.
Aber für euch ist die Scharia ein hartes Gesetz. Für uns ist sie in erster
Linie ein Gesetz“, sagt er. „Es gibt kein schlimmeres Gesetz als das
Gesetz, das niemand umsetzt.“
Viele Taliban sind dürr, so wie viele Afghanen. Zwischen einer Schicht und
der nächsten schlafen sie in einem Raum im Erdgeschoss des Rathauses, mit
ihrer AK47, der Kalaschnikow. Als ob sie nichts anderes hätten.
Einer von ihnen heißt Said Haroon und ist 19 Jahre alt. Er schiebt mit
leerem Blick Wache. Haroon sagt, er habe sich den Taliban angeschlossen,
nachdem die Amerikaner bei einer nächtlichen Razzia seine gesamte Familie
getötet hatten. „Ich wurde allein gelassen. Und niemand hat mich überhaupt
gefragt: Wie geht es dir?“, sagt er. „Ihr, die ihr studiert habt, sagt mir:
Das ist also Demokratie?“
Wir kennen jeden Namen der westlichen Gefallenen. Doch von den afghanischen
Opfern kennen wir nicht einmal die Zahl. Keiner hat sie je gezählt.
Viele Taliban sehen wie eine Art Robin Hood aus, wie arme Kämpfer, die
unter der armen Bevölkerung leben und für die Armen kämpfen. Andere wirken
eher wie US-Marinesoldaten, gut gebaut und genährt, durchtrainiert – und
voll ausgerüstet. Das sind die Taliban vom Haqqani-Netzwerk. Das steht
al-Qaida nahe. Alle haben Angst vor den Haqqanis. So wie jeder Angst vor
den vielen Warlords hat.
## Der Richter verlangt Respekt
Ein schicker Mittzwanziger kommt in den Gerichtssaal. Er hat seit Monaten
seine Miete nicht bezahlt. Er ist seinem Vermieter gegenüber ziemlich
unhöflich und macht einen trotzigen Eindruck. Als er aufgefordert wird, auf
seinen Ton zu achten, antwortet er nur: „Ich arbeite für Dostum!“ Der
ehemalige afghanische Vizepräsident Abdul Raschid Dostum gilt als ein
bekannter Mörder. „Wir sprechen von Ihrer Miete“, sagt der richtende
Bürgermeister. „Und passen Sie auf, wie Sie sprechen, sonst schneide ich
Ihnen den Kopf ab.“ Einer seiner Berater sieht die Reporterin an. „Machen
Sie sich keine Sorgen“, sagt er. „Es ist nur Gerede.“
Die Taliban hatten zu keinem Zeitpunkt einen militärischen und einen
zivilen Flügel, sondern sie waren letztlich einfach nur Kämpfer. „Sie sind
ehrlich, ja“, sagt ein Offizier. „Aber sie regeln den Verkehr mit einer
Kalaschnikow. Und wozu braucht man im Verkehr eine Kalaschnikow? Man
braucht ein Verkehrszeichen oder eine Ampel.“ Und doch, sagt er: „Sie sind
das kleinere Übel.“ Dann sieht er mich an. „Die anderen haben so versagt,
dass im Vergleich dazu sogar die Taliban das kleinere Übel sind.“
Im Lauf des Tages entscheidet das Gericht, dass der Fall des
IS-Dschihadisten, der eine Entschädigung verlangt, an den Obersten
Gerichtshof verwiesen wird. Die von ihm verklagte Mutter des 16-Jährigen,
der seinen Vater erschoss, drängt auf eine Entscheidung. Sie weiß nicht,
wer am Obersten Gerichtshof das Sagen haben wird.
Bürgermeister Mohamed Shakeer hat einen hervorragenden Ruf. Was würde bei
einem Mullah geschehen, der nicht so viel Autorität wie er besitzt? Shakeer
antwortet: „Ich bin nicht gerecht, es ist die Scharia, die gerecht ist.“
Seine Berater reden weiter. Sie diskutieren darüber, ob der Dschihadist
wirklich ein IS-Kämpfer war. Ob er von Amerikanern oder von Afghanen
gefangen genommen wurde. Der 16-Jährige, der auf Befehl des Mannes seinen
Vater umbrachte, starrt ausdruckslos auf den Boden. Stumm. Er zittert.
Keiner fragt ihn, wie es ihm geht.
Aus dem Englischen Sven Hansen
4 Jan 2022
## AUTOREN
Francesca Borri
## TAGS
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