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# taz.de -- Frauen in Afghanistan: Im Stich gelassen
> Corona dominiert wieder die Nachrichten, das Schicksal der Frauen aus und
> in Afghanistan ist in den Hintergrund geraten. Eine Fluchtgeschichte.
Bild: Kein großes Nachrichtenthema mehr: Frauen stehen in Kabul für Essen bei…
Das ist mein letztes Schlagloch für dieses Jahr. Es geht zu Ende, als hätte
die Pandemie gestern begonnen. Täglich werden im Radio die neuen Inzidenzen
durchgegeben, [1][wird die Zahl der Toten gemeldet]. Leben retten als Wert
zivilisierter Länder.
Doch es gibt Leben, das bei uns geringen Nachrichtenwert hat. Angenommen,
die „Tagesschau“ würde eine Woche lang jeden Tag die Zahl der Toten an
Europas Grenzen melden. Jeden Tag ein Bericht über das Schicksal der Frauen
in oder aus Afghanistan. Nach dem medialen Aufschrei im August kämpfen die
meisten jetzt im Stillen. Ich möchte das Wort Frauen überlassen, die Frauen
aus Afghanistan retten: Monika Hauser und Sybille Fezer von Medica
Mondiale. Ich weiß, die taz ist nicht Pro7 und wir haben keine Reichweite
wie Joko & Klaas, aber ich weiß, das Schlagloch hat Leser_innen, die das
noch immer interessiert:
Maryam* blickt ins Dezembergrau, auf eine Tankstelle und einen Supermarkt.
Müde Augen. Nach vielen zermürbenden Wochen der Flucht ist die 42-Jährige
mit Mann und zwei Töchtern im Taunus gelandet. Noch vor einem halben Jahr
hat sie als Anwältin eine 12-Jährige verteidigt, die wegen sogenannter
moralischer Verbrechen im Gefängnis saß: Sie war vor der Zwangsverheiratung
mit einem 60-Jährigen davongelaufen. Maryam erwirkt, dass es einen Prozess
gibt. Dem Richter erklärt sie dabei die afghanische Gesetzgebung: Laut dem
Gewaltschutzgesetz von 2008 ist die Verheiratung Minderjähriger verboten.
Jahrelang schulte Maryam Justizpersonal. Sie wollte nicht nur Gesetze
verbessern, sondern auch das Bewusstsein ändern. Als feministische Anwältin
hat sie es immer wieder geschafft, mithilfe des Gewaltschutzgesetzes, an
dessen Formulierung sie mitgewirkt hatte, Frauen und Mädchen aus den
Gefängnissen freizubekommen. Viele Täter wurden rechtskräftig verurteilt.
Zwar war ihr klar, dass die Gelder der internationalen Geber vor allem
eigenen neoliberalen Interessen dienten, aber so konnte sie dafür sorgen,
dass Frauenrechte auch in ihrem Land endlich umgesetzt werden. Dabei lebte
sie mit Anfeindungen und realen Bedrohungen. Sie lernte, mit diesen
Widerständen umzugehen – ihr unbedingter Wille war es, eine Gesellschaft
mit aufzubauen, in der Menschenrechte respektiert werden und Frauen vor
Gewalt geschützt sind. Sehr klug nutzte sie dafür die neuen Gesetze – oder
auch den Koran.
## Der 15. August veränderte alles
Der 15. August verändert alles, und [2][Frauen wie sie werden zu den
größten Staatsfeinden]. Es folgen Monate in unterschiedlichen Verstecken
und Unterkünften, Drohanrufe der Taliban, näher rückende
Hausdurchsuchungen, die Sperrung ihres Bankkontos. Vor die Tür nur noch
vollverschleiert und in Begleitung des Ehemanns. Wohnen auf engstem Raum.
Die Mädchen verängstigt und oft wie erstarrt – zur Schule können sie nicht
mehr.
Der erste Fluchtversuch, [3][die Evakuierung über den Flughafen Ende
August] – an den Toren gescheitert: Stundenlanges Warten im Minibus,
aufgeheizte Stimmung draußen, Schüsse. Die Listen, die dort ausliegen
sollen, mit ihrem Namen, dem Ticket nach Deutschland, liegen nicht vor. Die
Tore bleiben zu. Knapp entkommen: Später explodiert eine Bombe des IS vor
dem Flughafen.
Dann neue Fluchtwege und monatelanger Transit, ein Labyrinth aus immer
neuen bürokratischen Hindernissen: Banges Warten auf die schriftliche
Aufnahmezusage der Bundesregierung. Konsularische Vertretung Deutschlands
nur in den Nachbarländern; ohne Pass und Visa keine Ausreise dorthin. Das
heißt: Visa für alle besorgen, kaum sind sie da, ist der Pass der Tochter
nicht mehr gültig. IS-Anschlag auf das Passbüro: wochenlang geschlossen.
Evakuierungslisten, auf denen Maryam und ihre Familie stehen und wieder
runtergenommen werden („Liste“ sollte das (Un)wort des Jahres sein,
[4][nicht Wellenbrecher]!). Ein Versuch, über den Landweg nach Pakistan
einzureisen, scheitert: wieder kein Durchkommen.
Politische Absprachen zwischen Pakistan und Deutschland ändern sich fast
wöchentlich; wir müssen die Abläufe permanent anpassen. Schließlich, wo
Politik scheitert, ist es die Zivilgesellschaft, die handelt: Mit den
Aktivist_innen von Kabul Luftbrücke und ihrem Netzwerk gelingt die
Flucht nach Pakistan. Angekommen in Deutschland, nach der
Gemeinschaftsunterkunft nun in einer kleinen Wohnung. „Zum ersten Mal
spielen die Mädchen wieder, stundenlang“, erzählt sie uns beim Tee.
Der Freude über die gelungene Flucht folgt tiefe Trauer: über den Kampf für
eine gerechtere Gesellschaft, der jäh beendet wurde, über
Familienmitglieder und Freundinnen, die zurückgeblieben sind; ein Land, in
dem Willkür herrscht und Hungersnot; Frauen und Mädchen, die nicht fliehen
können, ein Leben als respektierte Anwältin, das zu Ende ist, eine Heimat,
die sie vielleicht nie wieder sehen wird.
## Besonderes Weihnachtsgeschenk
Und gleichzeitig bleibt sie Aktivistin, arbeitet nun gemeinsam mit uns
dafür, weitere Kolleg_innen bei der Flucht zu unterstützen. Und so
bekamen wir alle am 24. Dezember mittags noch ein besonderes
Weihnachtsgeschenk: Die beiden jungen Kolleginnen Hamida* und Masiha*
passieren mit ihren zwei Kleinkindern und Ehemännern bei Torkham die Grenze
nach Pakistan und werden dort von Kabul Luftbrücke in Empfang genommen.
Sie lassen das Chaos, den Hungerwinter, die erneute Rechtlosigkeit der
Frauen und Mädchen und eine ungewisse Zukunft ihrer Heimat zurück – und die
vielen Menschen, die vor Ort weiterhin um ihr Leben bangen und auf eine
sichere Ausreise hoffen. Wir sind froh, es geschafft zu haben, Maryam,
Hamida, Masiha und viele andere darin zu unterstützen, in Sicherheit zu
kommen. Doch sie sollten alle nicht hier sein, sie sollten zu Hause weiter
für die Rechte der Frauen kämpfen können – das ist ihnen unmöglich gemacht
worden durch eine völlig falsche Politik des Westens, die in erster Linie
die eigenen Interessen verfolgt und die afghanische Bevölkerung verraten
hat.
* Namen geändert
29 Dec 2021
## LINKS
[1] https://www.epd.de/fachdienst/medien/corona
[2] /Dekret-zu-Frauenrechte-in-Afghanistan/!5820374
[3] /Aktuelle-Nachrichten-zu-Afghanistan/!5796702
[4] https://www.zeit.de/kultur/2021-12/wellenbrecher-ist-wort-des-jahres
## AUTOREN
Jagoda Marinić
## TAGS
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