# taz.de -- Antisemitismus in Berlin: Kontinuierliches Problem | |
> Die Zunahme antisemitischer Vorfälle in Berlin ist laut der | |
> Recherchestelle RIAS nicht mit Pandemie oder Nahostkonflikt zu erklären. | |
Bild: Mahnwache in Berlin 2021 | |
Ein jüdisch-israelischer Patient wird von einem Physiotherapeuten in einer | |
Neuköllner Praxis auf seinen hebräisch klingenden Namen angesprochen. Er | |
bestätigt, dass er aus Israel sei, woraufhin der Physiotherapeut anfängt, | |
über die NS-Zeit zu sprechen. Er nimmt seinen Großvater, der bei der | |
Wehrmacht diente, in Schutz und gibt an, dass Hitler nicht nur Schlechtes | |
getan habe. Außerdem stellt er Fragen zu orthodoxen Jüdinnen und Juden und | |
behauptet, orthodoxe Männer schlügen ihre Frauen tot. | |
Dieser Vorfall vom Januar ist nur eines von vielen Beispielen aus dem neuen | |
Bericht über antisemitische Vorfälle in Berlin im ersten Halbjahr 2021 der | |
[1][Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin] (RIAS Berlin). | |
522 gab es von Januar bis Ende Juni, davon waren 12 Angriffe, 22 gezielte | |
Sachbeschädigungen, 15 Bedrohungen, 447 Fälle verletzenden Verhaltens und | |
26 Massenzuschriften. Trauriger Höhepunkt war der Mai dieses Jahres: In | |
diesem Monat gab es 211 Vorfälle – mehr als seit der Gründung von RIAS im | |
Jahr 2015 je in einem Monat bekannt wurden. Die Vorfälle werden zum Teil | |
direkt von Betroffenen gemeldet, teils über andere Anlaufstellen – etwa die | |
Berliner Register – an RIAS weitergeleitet. | |
Wie schon im Vorjahr gab die Coronapandemie eine „Gelegenheitsstruktur“ für | |
eine Vielzahl antisemitischer Vorfälle – sei es, dass die einen die | |
„jüdische Weltverschwörung“ hinter Impfkampagnen wittern, sei es, dass | |
Ungeimpfte sich mit verfolgten Juden vergleichen. Laut RIAS wiesen 15 | |
Prozent (78) der gemeldeten Fälle einen inhaltlichen Bezug zur Pandemie | |
auf. Anlass bot zudem erneut die Eskalation des arabisch-israelischen | |
Konflikts ab dem 9. Mai: Binnen eines Monats wurden 152 Fälle mit direktem | |
Bezug hierzu bekannt. | |
Insgesamt wiesen aber auch im 1. Halbjahr 2021 über die Hälfte der bekannt | |
gewordenen Vorfälle keinen unmittelbar erkennbaren Zusammenhang zu diesen | |
beiden Ereignissen auf. Das bedeutet: Ein antisemitisches „Grundrauschen“ | |
begleitet konstant den Alltag Berliner Jüdinnen und Juden. „Antisemitismus | |
ist auch jenseits solcher Anlässe ein kontinuierliches Problem, welches | |
sich in digitaler, verbaler, aber auch physischer Gewalt ausdrücken kann | |
und so den Alltag von Juden und Jüdinnen prägt“, erklärte Benjamin | |
Steinitz, RIAS-Projektleiter. | |
Eine Besonderheit kennzeichnet die neuen Zahlen: Sie sind nur bedingt mit | |
denen aus Vorjahren zu vergleichen und darum in der Tendenz schwer | |
einschätzbar. Seit 2016 wurden für die RIAS-Statistik immer auch die Zahlen | |
des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes über politisch motivierte | |
Kriminalität – bereinigt von Dopplungen – berücksichtigt. Dies sei aber f… | |
das 1. Halbjahr 2021 nicht möglich gewesen, erklärte RIAS-Mitarbeiter | |
Alexander Rasumny der taz, da die Staatsanwaltschaft aufgrund neuer | |
Datenschutzbestimmungen keine rechtliche Grundage mehr sehe, die | |
Polizeidaten anonymisiert an RIAS weiterzugeben. Daher könne man auch nicht | |
sagen, wie viele der „eigenen“ Vorfälle polizeibekannt seien, so Rasumny. | |
In früheren Jahren seien dies in etwa rund 20 Prozent gewesen. | |
Für den Beauftragten gegen Antisemitismus der Jüdischen Gemeinde Berlins, | |
Sigmount Königsberg, sind nicht nur der pandemiegetriebene | |
Querdenker-Antisemitismus und die „massive Bedrohung“ von Jüdinnen und | |
Juden im Zuge des Israel-Gaza-Konflikts vom Mai beunruhigend. Ihn habe in | |
diesem Zusammenhang auch schockiert, „dass uns empfohlen wurde, Symbole | |
jüdischer Identität wie den Davidstern zu verbergen, weil diese | |
‚provozieren‘ könnten“, sagt Königsberg. | |
Auf taz-Nachfrage, woher diese Empfehlung gekommen sei, sagte Königsberg, | |
er beziehe sich damit auf einen [2][Kommentar im Tagesspiegel vom 1. Juni]. | |
Darin geht er Autor auf einen Vorfall bei einer Demonstration am „Tag der | |
Nakba“ in Neukölln am 15. Mai ein, wo drei Berliner, zwei trugen einen | |
Davidstern, von Demonstranten beschimpft und angegriffen und von Polizisten | |
in Sicherheit gebracht wurden. Ein Polizist habe den Männern geraten, | |
künftig an diesem speziellen Tag bei einer Demonstration von Palästinensern | |
auf jüdische Symbole zu verzichten. | |
Der Kommentator stimmt diesem Ratschlag zumindest eingeschränkt zu. Zwar | |
müsse man in einer idealen Welt überall seine Religiosität öffentlich | |
zeigen können. Aber: „Rechtmäßiges und Gebotenes sind nicht immer | |
deckungsgleich.“ Dann führt der Autor verschiedene Beispiele, an um zu | |
begründen, warum man in bestimmten Situationen den Davidstern besser | |
verbergen sollte. | |
Diesen „Rat“ aus dem bürgerlich-liberalen Milieu habe er nicht erwartet, | |
sagte Königsberg. „Man soll der Gewalt nicht nachgeben“, findet er. Die | |
Ansicht, das Tragen des Davidsterns könne als Provokation aufgefasst, das | |
Opfer eines Angriffs somit als „mitschuldig“ hingestellt werden, habe ihn | |
schwer aufgeregt. | |
9 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://report-antisemitism.de/rias-berlin/ | |
[2] https://www.tagesspiegel.de/politik/mit-davidstern-in-der-palaestinenser-de… | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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