# taz.de -- Die Wahrheit: Die Bücher der anderen | |
> Lesestoff kann in Wien auf Mistplätzen gefunden werden. Wenn er nicht | |
> vorher bei einer Bücherwanderung ausgemistet wurde. | |
Da ich inzwischen in mehr oder weniger zwei Haushalten lebe, stellt sich | |
die Frage nach den Büchern neu. Inwiefern soll der eigene Bücherhausrat mit | |
dem anderen einen neuen Bücherhaushalt bilden? Was ist doppelt, was nicht? | |
Was kann raus, was nicht? Was bleibt an Ort A, was muss unbedingt mit an | |
Ort B? | |
So erfand ich die langsame Bücherwanderung. Auf jede Fahrt von B. nach W. | |
kommt genau ein Buch mit, also ein schon gelesenes aus der Bibliothek, ein | |
2G-Buch quasi: Gelesen, geregalt. | |
Ich begann bei A und nahm zuerst passend „Das neue Leben“ von Dante | |
Alighieri mit, dann den „Pariser Bauer“ von Louis Aragon; woraufhin ich mir | |
vornahm, ein surrealistisches Alphabet zu erschaffen – also die | |
Surrealisten von A bis Z, wobei Artaud wegen Aragon angeschmiert war und | |
Bataille hinter Breton zurückstehen musste, denn pro Buchstabe war nur ein | |
Autor erlaubt, ein einfaches Prinzip. | |
Zwei neue habe ich so schon gelesen: D wie Desnos, C wie Crevel hatte ich, | |
und vorgreifend noch mal was von Soupault. Krasser Scheiß, furchtbar | |
sexistisch, diese Surrealisten, zuweilen auch rassistisch, eigentlich geht | |
es nur um nackte Frauen, Kunst und nackte Frauen, so was würde heutzutage | |
niemand mehr drucken wollen. | |
Ich stellte mir nur kurz vor, ich würde so was schreiben! Ginge gar nicht. | |
Heutzutage muss man über die Kinderfrage schreiben, zum Beispiel den | |
Kinderwunsch einer Gebärfähigen, die zwar lesbisch, aber keine Frau ist. | |
Oder über die Möglichkeit eines Mannes, also des Freunds der Autorin, eine | |
Anfrage zum Geschlechtsverkehr seitens der Frau, also der Autorin selbst, | |
trotz Patriarchat und allem auch ablehnen zu dürfen. Drogen, Corona, Sex | |
ohne Objekte! Und irgendwas mit Heimat, die nicht Deutschland ist oder | |
wenn, dann nur widerwillig. So bekommt man auch rascher Buchverträge – und | |
zwar bei den guten Verlagen! Und Neid wieder off. | |
Andererseits, dachte ich, als ich das eine doppelte Buch zur immobilen | |
Buchtauschbörse brachte, die in Wien bürokratisch schön „Büchertausch auf | |
den Mistplätzen in umgebauten Telefonzellen“ heißt, man braucht ja gar | |
keine neuen Bücher mehr. Man stellt einfach rein, was man loswerden will | |
und nimmt sich den Klassiker, den man eh immer mal lesen wollte: Garcia | |
Marquez’ „100 Jahre Einsamkeit“. Und so fort. | |
„Mistplätze“ sind übrigens Plätze, auf denen Entsorgungscontainer für | |
Flaschen und Plastik stehen. Wie ich da jetzt auf Anaïs Nin komme …? Ach | |
ja, weil ich etwas von ihr gelesen habe. Jesus! Besser: Jesa! Echter toxic | |
shit, voll verboten, geht gar nicht, und das von einer Frau! Das ist | |
ziemlich 20. Jahrhundert. Und scheint Galaxien weit entfernt. | |
Ob das irgendwann mal jemand von Sally Rooney und Rachel Cusk auch | |
behaupten wird? Deren neue Bücher fand ich nämlich ebenfalls auf dem | |
Mistplatz zur Zweitverwertung. Warum auch immer. | |
23 Dec 2021 | |
## AUTOREN | |
René Hamann | |
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