# taz.de -- Jetzt regiert Franziska Giffey: Die glaubhaft Unbeschwerte | |
> Franziska Giffey (SPD) ist Berlins erste Regierende Bürgermeisterin. Ihre | |
> ungekünstelte Art ist für manche noch gewöhnungsbedürftig. | |
Bild: Die neue Regierungschefin Franziska Giffey (SPD) bei ihrer Vereidigung im… | |
BERLIN taz | Schade. Der Kollege vom Spiegel war schneller. Jetzt ist die | |
Formulierung weg und der Quellenhinweis fällig. Denn bei Franziska Giffey | |
(SPD), seit Dienstag 11.10 Uhr Berlins neue und auch erste Regierende | |
Bürgermeisterin, kann man nicht schlechtes Zitieren bei der Doktorarbeit | |
kritisieren, das aber selber nicht besser machen. „Giffey wirkt glaubhaft | |
unbeschwert“ ist nämlich die zentrale und völlig korrekte Beobachtung des | |
Kollegen. Ihr macht einfach sichtlich Spaß, was sie macht – und wenn das | |
mal nicht so ist, dann wird das auch schon mal wieder anders. Was viele | |
nicht verstehen: Spaß haben heißt bei Giffey, nicht oberflächlich, sondern | |
nur herrlich unprätentiös zu sein und ohne jegliches pseudocoole | |
Kenn-ich-weiß-ich-hab-ich-schon-alles-gesehen auszukommen. | |
Da wäre zum Beispiel jener Wahlkampftermin auf dem Euref-Campus in | |
Schöneberg Ende Juni, offenbar so unwichtig, dass die Medienbegleitung | |
außer der taz minimal ist. Giffey lässt sich verschiedene Projekte zeigen | |
und erklären, bei denen es meist um Nachhaltigkeit geht. Eins ist ein | |
Unternehmen für Lastenräder – nicht die mit der Holzkiste in der Mitte, | |
sondern die Vierräder mit dem übermannshohen Kasten hinter dem Sitz. | |
Die Jungunternehmer erklären begeistert viel, und ebenso begeistert hört | |
Giffey zu. Auch das Angebot, sich mal hineinzusetzen, nimmt sie an. Das | |
kann dann so aussehen wie bei der damaligen Bezirksbürgermeisterin, ihrer | |
SPD-Parteifreundin Angelika Schöttler, die mit ihr gekommen ist: sich | |
reinsetzen, einen Mitarbeiter ein Foto machen lassen und gleich wieder | |
aussteigen. Bei anderen Gelegenheiten kommt es auch vor, ein paar Meter zu | |
rollen, um ein paar schöne Fernsehbilder zu produzieren. | |
Bei Giffey sieht das anders aus: Reinsetzen, losfahren, auf den Geschmack | |
kommen, weiterfahren, um die Ecke biegen, aus dem Blickfeld geraten. „Wir | |
hatten also mal eine Spitzenkandidatin“, sagt ein SPDler aus ihrer | |
Begleitung. Zwei lange Minuten später ist Giffey wieder da. „Hat Spaß | |
gemacht“, sagt sie. Naiv? Wer könnte das sagen über eine Frau, die acht | |
Jahre erst Stadträtin und dann auch | |
Bürgermeisterin von Berlins problembeladenstem Bezirk Neukölln und danach | |
viel gefeierte Bundesfamilienministerin war? | |
Es wird generell viel belächelt, wenn eine Führungsfigur seine oder ihre | |
Leidenschaften auslebt und nicht durchweg kontrolliert-kühl daherkommt. Wie | |
viel indigniertes Kopfschütteln gab es doch, als sich Giffey bei einem | |
inzwischen legendär gewordenen Besuch bei der Klausurtagung der Berliner | |
SPD-Fraktion 2020 in Nürnberg für eine neue Broschüre begeistern konnte. | |
Dieses Begeistern, das ist nicht zu lernen oder mittels teurem Coach | |
antrainierbar – das hat man oder frau oder eben nicht. So wie es auf der | |
anderen Seite bei vielen männlichen Politikern gekünstelt wirkt, wenn die | |
plötzlich hemdsärmlig daherkommen und in abgekupferter Schröder-Manier beim | |
Grillfest leutselig nach einer Flasche Bier rufen. | |
Es ist ja nicht so, dass Giffey nicht auch gerne ein schönes Bild mit dem | |
Lastenrad fürs Fernsehen produziert. Aber warum nicht das Nützliche mit dem | |
Spaßigen verbinden und eine längere Runde drehen? Das nachzuvollziehen geht | |
vielen ab. Giffey, von der sich im Fotoarchiv nur ganz wenige Aufnahmen in | |
Jeans finden, mag es noch so wichtig sein, dass gewählte Volksvertreter | |
nicht „so dahergeschlumpst“ wirken oder den Eindruck machen, als kämen sie | |
gerade vom Campingplatz. Doch wenn es darum geht, schnell Kontakt auf | |
zunehmen und etwas zu kommunizieren, arbeitet sie nicht mit vorheriger | |
Anmeldung und Einladung auf Büttenpapier, sondern auch auf Zuruf. | |
Fast fünf Jahre zurück liegt die Begegnung auf dem Flur der | |
Senatsverwaltung für Verkehr: zwei taz-Redakteure auf dem Weg zur neuen | |
Senatorin, Giffey auf dem Weg raus von einem anderen Termin im Haus. Man | |
ist in Eile, sie auch, aber als sie nach kurzem Gruß vom Besuchsgrund hört, | |
ruft sie den tazler im Gehen noch ein Anliegen hinterher: Man solle | |
unbedingt darauf drängen, dass die U7 zum Flughafen verlängert würde. Unter | |
der damaligen Senatorin passierte das nicht, jetzt, unter Giffey Führung, | |
steht es im Koalitionsvertrag. | |
Auch wenn ihr etwas nicht passt, sagt sie es in gleicher Weise, statt es | |
die Etikette wahrend zu ignorieren: Als jemand beim Talk im taz-Café im | |
September ihren Namen zum wiederholten Male falsch so ausspricht, dass der | |
am Ende wie „äih“ klingt, grätscht sie rein: „Nein, mit -ei, wie in | |
Norderney. „Äih“ werde das bei Katharina Barley ausgesprochen, ihrer | |
früheren Ministerkollegin im Bundeskabinett. | |
Wegen solcher und ähnlicher Momente sehen manche bei ihr etwas | |
Gouvernantiges, im schlimmsten Fall wie bei der Prusseliese in der „Pippi | |
Langstrumpf“-Verfilmung. Das kann schon sein – bei diversen | |
Pressekonferenzen während der Koalitionsverhandlungen ließ sich bei Giffey | |
dieser prüfende Seitenblick beobachten, wenn neben ihr etwa die Grüne | |
Bettina Jarasch redete. Die Frage ist bloß: Schadet ihr dieses Image? Und | |
noch wichtiger: Schadet das der Stadt? | |
Es schadet ihr auf jeden Fall nicht bei denen, die einen Großteil der | |
Berliner Wirtschaft am Laufen halten. Giffey ist knapp ein Jahr | |
Bundesministerin, als sie 2019 bei der Industrie- und Handelskammer, kurz | |
IHK, zu Gast ist, in deren Reihe wirtschaftspolitischer Frühstücke. Dort | |
sitzt regelmäßig jede Menge jener alten weißen Männer, die Frauen angeblich | |
nur belächeln oder nicht nach oben kommen lassen, Leute, die neben | |
intellektuellen Kreisen am ehesten dafür infrage kämen, Giffey Naivität zu | |
unterstellen. | |
An jenem Tag sind es sogar ein paar mehr, weil ein Kabinettsmitglied auch | |
bei Deutschlands größter IHK nicht jede Woche vorbeischaut, einschließlich | |
ein paar Jüngerer und einiger Frauen. Doch es sind eben nicht nur die | |
Letztgenannten, die nach Giffeys eineinhalbstündigen Auftritt so ausdauernd | |
applaudieren, dass die IHK selbst den Beifall „in den Top 3“ der | |
vorangehenden 15 Jahre verortet. Sie rockt den Saal, wie es neuerdings | |
heißt, vor allem mit ihrem Ansatz, Politik verständlicher zu machen, der | |
sich in prägnanten Überschriften wie „Gute-Kita-Gesetz“ oder | |
„Starke-Familien-Gesetz“ niederschlägt. Das passiert alles zu einem | |
Zeitpunkt, da längst nicht sicher ist, dass nicht ab 2021 doch wieder die | |
CDU wieder Berlin regiert. | |
Es gibt Menschen, die behaupten, außer solch viel zitierter Überschriften | |
hätte Giffey nichts zu jenen Gesetzen beigetragen. Selbst wenn das so wäre: | |
Kaum eine andere Ministerin – und es waren seit 1985 nur Frauen – hat dem | |
Familienressort mehr Öffentlichkeit und damit mehr Rückhalt für seine | |
Arbeit beschert als sie. | |
Für die Unternehmer in der IHK birgt ihr pragmatischer, bürgernaher Ansatz | |
die Hoffnung darauf, dass eine Regierende Giffey dieses Prinzip auf die | |
komplette Verwaltung überträgt, Antrags- und Genehmigungsverfahren | |
entschlackt und damit verkürzt. Für Berlin als Ganzes bleibt zu hoffen, | |
dass sich ihre „überbordende Fröhlichkeit“ – um abschließend noch mal … | |
Spiegel-Kollegen zu zitieren – in gleicher Weise niederschlägt. | |
22 Dec 2021 | |
## AUTOREN | |
Stefan Alberti | |
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