# taz.de -- Bewegung in Berlin: Eine Woche ohne Polizei | |
> Wie sähe die politische Woche in Berlin aus, wäre die Polizei jedesmal so | |
> zurückhaltend wie auf Corona-Demos? Ein Gedankenexperiment. | |
Bild: Müsste man dann wieder selber von der Straße jagen: Maßnahmengegner:in… | |
Vergangenen Samstag in Berlin. Am Rande der eigentlich verbotenen | |
„Großdemonstration“ der Querdenker:innen versucht eine Gruppe Neonazis | |
einem Tagesspiegel-Reporter das Handy zu entreißen. Ein Tumult entsteht, | |
und schließlich können die Nazis durch den beherzten Einsatz von anderen | |
Journalist:innen und Antifa-Aktivist:innen vertrieben werden. Durch | |
Abwesenheit glänzte hingegen die Polizei, die den Täter zwar später fassen, | |
aber den Angriff nicht verhindern konnte. | |
Wenig später kommt es zu weiteren Angriffen von organisierten Neonazis auf | |
Journalist:innen, auch diesmal keine Polizei in Sicht. | |
Die Vorfälle reihen sich nahtlos ein in die Erfahrungen von anderthalb | |
Jahren Coronaprotesten. Schwurbler:innen werden so sehr mit | |
Samthandschuhen angefasst, dass Neonazis sich mittlerweile sicher genug | |
fühlen, auf ihren Demos Jagd auf Journalist:innen zu machen. Dass der | |
Grund nicht Personalmangel oder „Überforderung“ sein kann, wird klar, | |
sobald mal wieder für eine Brandschutzbegehung in einem Hausprojekt | |
[1][tausende Beamte mitsamt Räumpanzer] mobilisiert werden. | |
Ein häufiger Reflex bei vielen Linken ist der Wunsch, die Polizei möge doch | |
die Schwurbler:innen einmal genauso engagiert verprügeln wie sie selbst | |
auf linken Demos. Der Gedanke ist verständlich, aber nicht konsequent zu | |
Ende gedacht. Zum einen legitimiert man damit indirekt sein eigenes | |
Verprügeltwerden. Zum anderen bejaht man damit eine | |
Gesellschaftsvorstellung, in der es richtig und wichtig ist, dass der Staat | |
ab und an seine Bürger:innen verprügelt, damit alles seine Ordnung hat | |
(natürlich in der Hoffnung, nicht selbst zu den Verprügelten zu gehören). | |
Das bringt uns zurück zur altbekannten, viel grundlegenderen Frage: Braucht | |
es eine Institution wie die Polizei überhaupt noch, wenn sie sowieso nie da | |
ist, wenn man sie eigentlich bräuchte? | |
## Eine Welt ohne Polizei? | |
Doch eine Gesellschaft ohne Polizei ist für viele schwer vorstellbar. | |
Veranstaltungen wie die [2][Interkiezionale Antirepressions- | |
Vollversammlung] wären dann überflüssig. Schließlich gäbe es dann auch | |
niemanden, der Menschen auf Demos verhaften würde, weil sie*er zum | |
Beispiel Mund-Nasen-Bedeckungen als Vermummung auslegt. Oder niemand | |
Aktivist:innen anzeigen würde, bei denen der Versuch, bei ebenjener | |
Verhaftung den Kopf gegen Schläge zu schützen, als „Widerstand gegen | |
Vollstreckungsbeamte“ gewertet wird. Oder, oder, oder. Da die Gesellschaft | |
ohne Polizei noch nicht Realität ist, findet die Veranstaltung weiter | |
statt. Ziel ist es, solidarische Netzwerke aufzubauen, um dem staatlichen | |
Repressionsdruck gemeinsam zu begegnen (Mittwoch, 08. 12., Kiezanker 36 | |
Cuvrystraße 13/14, 18:30 Uhr). | |
Machen wir doch etwas weiter. Ohne Polizei könnten sich profitfreudige | |
Vermieter:innen auch nicht mehr darauf verlassen, dass die | |
Beamt:innen unliebsame Mieter:innen im Zweifelsfall für sie aus den | |
Wohnungen schmeißen. So wie im Fall der 71-jährigen Brigitte aus | |
Reinickendorf, der wegen Eigenbedarf gekündigt wurde und der [3][am Freitag | |
die Zwangsräumung droht]. Der chronisch kranken Frau drohe im Falle einer | |
Räumung die Obdachlosigkeit, schreibt das Bündnis Zwangsräumungen | |
verhindern. Um die Räumung doch noch abzuwenden, hält das Bündnis am | |
Mittwoch eine Kundgebung vor der BVV in Reinickendorf ab (Mittwoch, 8. 12, | |
Eichborndamm 215, 13437 Berlin, 16:30–17:30 Uhr). | |
Gerade für marginalisierte Menschen wie People of Color, obdachlose | |
Menschen und Sexarbeiter:innen stellt die Polizei seit jeher eine | |
Bedrohung da. Die Gründe dafür sind nicht etwa individuelles Fehlverhalten | |
einzelner Beamter, sondern historisch in die Funktionsweise der Institution | |
eingeschrieben. Fraglich ist daher, ob die Polizei überhaupt reformierbar | |
ist. Ein [4][Workshop zur Polizeikritik] von den Kollektiven Staub zu | |
Glitzer und Ignite will verschiedene kritische Perspektiven auf die | |
Institution Polizei vermitteln und die Frage beantworten, wie eine | |
Gesellschaft ohne Polizei möglich sein kann (Freitag, 10. 12., Linie 206, | |
Linienstraße 206, 18 Uhr). | |
Also einfach Polizei abschaffen und alles wird geil? Ganz so einfach ist es | |
dann doch nicht. Die zunehmende Verdrängung durch die kapitalgetriebene | |
Stadtentwicklung ließe sich damit wohl nicht aufhalten. Denn wenn sich | |
Investor:innen wie die Padovicz Immobiliengruppe nicht mehr auf die | |
Staatsmacht verlassen können, [5][heuern sie halt private Security an.] Und | |
die sind noch viel weniger zimperlich als ihre verbeamteten Kolleg:innen. | |
Enteignung oder zumindest eine gemeinwohlorientierte | |
Stadtentwicklungspolitik sind da wohl die probateren Mittel. Bis dahin | |
braucht es aber noch eine Menge Druck. Zu dem Zweck gibt es am Samstag | |
einen [6][Kiezspaziergang zu Orten von Verdrängung und Widerstand im | |
Südkiez von Friedrichshain] unter dem Motto: „Keine Zukunft für | |
Bürohochhäuser in unseren Kiezen, Padovicz, Pandion, Trockland und Co. | |
Grenzen setzen“ (Samstag, 11. 12., Hauptstraße 1G-H, Nähe Ostkreuz, 13 | |
Uhr). | |
Gedankenexperiment hin oder her, Wunder dürfen wir in keinem Fall erwarten. | |
Bis dahin heißt es vorbereitet sein und sich besser nicht auf die Polizei | |
verlassen. Die Angreifer:innen von Samstag konnten mittlerweile | |
identifiziert werden – dank solider [7][Antifa-Recherche]. | |
7 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Rummel-um-die-Rigaer/!5777185 | |
[2] https://de.indymedia.org/node/161505 | |
[3] https://zwangsraeumungverhindern.nostate.net/ | |
[4] https://glitzerkatapult.noblogs.org/post/2021/12/01/workshop-zu-polizeikrit… | |
[5] /Einsatz-in-der-Rigaer-Strasse-94/!5694737 | |
[6] https://stressfaktor.squat.net/node/210975 | |
[7] https://antifainfo.blackblogs.org/ | |
## AUTOREN | |
Jonas Wahmkow | |
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