| # taz.de -- Sozialer Aufstieg: Zu Besuch in der Mittelschicht | |
| > Aus kurzen Stippvisiten in der Mittelschicht wurde ein permanenter | |
| > Besuch. Doch seine Klasse kann man nicht wechseln, wie es einem beliebt. | |
| Bild: Mittelschicht ist, wenn es Salate zum Grillfleisch gibt | |
| Ich bin heute Mittelschicht und [1][Mittelschicht sind immer noch die | |
| anderen.] | |
| Mittelschicht war als Kind der Besuch bei Schulfreunden: das matte | |
| Wildledersofa, die Plattensammlung des Vaters, mächtige Massivholztische. | |
| Als Teenager waren es die Besuche bei meiner Freundin: das Grillen mit | |
| vielen verschiedenen Salaten, der Tatort, den man sonntags zusammen | |
| geschaut hat. | |
| Bei uns zu Hause stand ein Couchtisch, den jemand zur Sperrmüllzeit vor den | |
| Toren seines wohl gepflegten Gartens entsorgt hatte. Weil er noch vier | |
| Beine und eine Platte hatte, qualifizierte er sich für unser Wohnzimmer. | |
| Wenn wir grillten, gab es keine Salate, sondern ein paar Kilo | |
| Hähnchenflügel mit Fladenbrot. Meine Mutter, die das Fleisch marinierte, | |
| und mein Vater, der es grillte, hatten eine Priorität: Hauptsache, die | |
| Kinder werden satt. | |
| Gemeinsam aßen wir selten. Vielleicht gab es keine Zeit für schönes | |
| Beisammensein. Vielleicht deshalb, weil alle permanent für ein besseres | |
| Leben gearbeitet haben – für den Aufstieg [2][in die Mittelschicht.] Ohne | |
| Fleiß kein Preis. Schaffe, schaffe, Häusle baue: Was die Arbeitsethik | |
| anging, waren wir Anatolier schwäbischer als die Schwaben, die uns umgaben. | |
| Es gibt kein Zurück | |
| Nach dem Abitur wurde der Besuch in der Mittelschicht permanent. Ich | |
| studierte mit Kindern von Anwälten und Lehrern. Ich zog mit ihnen zusammen | |
| und sie stellten stilvolle Kommoden auf und bestellten Fairtrade-Kaffee von | |
| einem anarchistischen Kollektiv in Mexiko. Wir lasen Bücher, diskutierten, | |
| demonstrierten gegen den Kapitalismus. Über dessen Resultat, unsere | |
| unterschiedliche Herkunft, sprachen wir kaum. | |
| Das hat mich damals nicht gestört. Es hat vieles sogar einfacher gemacht. | |
| Heute kann ich darüber schreiben, dass ich aus der Arbeiterklasse mit | |
| funktionalen Möbeln und funktionalem Grillen komme. | |
| In der Mittelschicht bin ich gelandet, weil ich viel Glück hatte. Aber es | |
| ist auch die Belohnung [3][für die harte Arbeit meiner Eltern.] Das | |
| Ergebnis familiärer Anstrengung, Disziplin, Anpassung. Trotzdem ist mir | |
| diese Mittelschicht noch kein Zuhause, ökonomisch und kulturell. Mal | |
| abgesehen davon, dass ich ihre moralische Erhabenheit oft abstoßend finde. | |
| Während manche hier beschäftigt, wie viel Geld sie noch von ihren Eltern | |
| bekommen, beschäftigt mich, wie viel Geld ich meinen Eltern zurückgeben | |
| kann. | |
| Vor zwei Jahren bin ich aus meiner Kreuzberger WG in den Wedding gezogen. | |
| Die Frauen hier mit den Einkaufstüten und Sonnenblumenkernen sehen aus wie | |
| meine Mutter früher; die Männer mit den Kaffeebechern und Arbeitskleidung | |
| wie mein Vater früher; die Jungs, die nach der Schule auf der Straße | |
| Fußball spielen, wie meine Brüder und ich früher. Aber es gibt kein Zurück | |
| in dieses Früher. Der Wedding ist keine schwäbische Kleinstadt und seine | |
| Klasse kann man nicht wechseln, wie es einem beliebt. | |
| Ich bin immer noch nicht Mittelschicht, aber Mittelschicht sind nicht mehr | |
| nur die anderen. | |
| 3 Dec 2021 | |
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| Volkan Ağar | |
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