| # taz.de -- Der Begriff Normalität: Wer sind die normalen Leute? | |
| > Scholz spricht in seiner Regierungserklärung von normalen Leuten. Das ist | |
| > manipulativ und lenkt von entscheidenden Geld- und Machtfragen ab. | |
| Bild: Auf der Seite der „normalen Leute“: Olaf Scholz | |
| Es gibt diese Erzählung vom Nichtnormalsein, die man aus autobiografischen | |
| Texten kennt: ‚Das erste Mal habe ich gemerkt, dass ich nicht normal bin, | |
| als die Klassenlehrerin meinen Namen nicht richtig aussprechen konnte.‘ | |
| Oder: ‚…als die anderen Kinder mir zu verstehen gaben, dass ich anders | |
| aussehe.‘ Oder: ‚…als ich bei einem Freund war und gesehen habe, dass sei… | |
| Familie Dinge besitzt, die meine Familie nicht hat.‘ | |
| Das sind Erzählungen, in denen sich die Gewalt von Normalität, der Norm | |
| zeigt. Manchmal ist diese Norm so stark, dass sich die Nichtnorm für Norm | |
| halten möchte, sich ihr unterwirft und sich mit ihr gegen andere in | |
| ähnlicher Lage verbündet, statt sich zu solidarisieren. Das ist der Fall, | |
| wenn Menschen Steuererhöhungen ablehnen, die sie selbst gar nicht betreffen | |
| würden, oder wenn sie ihr Elend auf Menschen anderer Herkunft projizieren | |
| und dann deren Häuser anzünden. Normalität ist hier kein Idealzustand, | |
| sondern ein Problem. Der Begriff ist ein analytischer, weil er die Gewalt | |
| begreifbar und angreifbar macht. Er ist deshalb politisch. | |
| Und dann gibt es eine Normalität, die in Köpfen von Politikern und | |
| Journalisten herumschwirrt und immer wieder aufploppt: Wenn Olaf Scholz im | |
| Mai twittert, dass er [1][„auf der Seite der normalen Leute“] stehe. Oder | |
| wenn er beim SPD-Parteitag verlautbart, dass man in Zeiten der | |
| Digitalisierung auch gute Arbeitsplätze für „normale Leute“ schaffen werd… | |
| Oder wenn er bei seiner Regierungserklärung von den Fragen jener „normalen | |
| Menschen“ berichtet: „Geht das alles gut aus? Für meine Familie? Für meine | |
| Kinder? Für ganz normale Leute wie mich? Meine Antwort, die Antwort der | |
| Bundesregierung ist sehr klar: Ja, das kann gut ausgehen.“ Und wenn dann in | |
| Zeitungen darüber diskutiert wird, ob dieser Scholz’sche Normalitätsbegriff | |
| nun [2][Ressentiments gegen Eliten schürt] oder eher ein rhetorisches | |
| Hilfsmittel ist, um an gute, alte [3][sozialdemokratische Vergangenheit] | |
| anzuknüpfen. | |
| Werkzeug für Machterhalt | |
| Ob affirmativ oder ablehnend verwendet: Dieser Begriff von Normalität ist | |
| unpolitisch, weil er allein Werkzeug für parteipolitischen Machterhalt ist. | |
| Er ist nicht kritisch, sondern manipulativ, löst bei vielen verschiedenen | |
| Menschen Gefühle aus, denn jeder kann sich mit ihm identifizieren, weil | |
| nicht klar ist, wer damit gemeint ist. Aber spricht der neue Bundeskanzler | |
| zum Beispiel auch meine Eltern an, die in diesem Land oft vermittelt | |
| bekamen, dass sie nicht normal seien? Und wenn er sie mitmeint, was ändert | |
| das an der mickrigen Rente meines Vaters? | |
| Die Scholz’sche Rede von normalen Leuten stellt deshalb einerseits | |
| demokratische Errungenschaften für Menschen in Frage, die immer noch als | |
| nicht normal markiert werden. Dafür verspricht sie, soziale Ungleichheit zu | |
| bekämpfen, was aber reine Rhetorik bleibt. Am Ende ist sie eine Nebelkerze, | |
| die von entscheidenden Geld- und Machtfragen ablenkt. Niemand sollte sich | |
| von dieser Normalität benebeln lassen. | |
| 16 Dec 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://twitter.com/olafscholz/status/1391393208161251330 | |
| [2] /Scholz-eroeffnet-naechsten-Wahlkampf/!5818663 | |
| [3] /Normalitaetsbegriff-von-Olaf-Scholz/!5818980 | |
| ## AUTOREN | |
| Volkan Ağar | |
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