| # taz.de -- Die Wahrheit: Ich bin ein Schlafschaf | |
| > So eine kleine Pandemie lässt sich im Stellungskrieg zwischen | |
| > Präsenzbestand und Fernleihe lesend aufreiben? Leider nein, aber lesen | |
| > Sie weiter … | |
| Die verdammten Querdenker haben recht. In der Pandemie sind wir alle zu | |
| Schlafschafen geworden. Vor allem ich. Acht Stunden Minimum, Mittagsschlaf | |
| nicht mitgerechnet. Im Lockdown fing es an: Wie alle Welt stand ich vor | |
| verschlossener Kneipe und mutierte vom Salon-Panda zum Bettvorwärmer. | |
| Untertags war ich im Heimoffiz beschäftigt, aber die Abende wurden müßig | |
| und lang. | |
| Netflixen als Lebensaufgabe führte unweigerlich in die Depression | |
| (Merksatz), Alkoholzufuhr ohne Gesellschaft schien zwar praktikabel, aber | |
| heikel. Immerhin musste die Gesundheit gepampert werden. Ein feste Burg | |
| sollte mein Immunsystem sein, jedenfalls bis zur Impfung. Ich rauchte nur | |
| mehr lückenhaft und trank wie ein Vögelchen (Großtrappe). | |
| Stattdessen las ich. Damit hatte ich gute Erfahrungen gemacht. Egal, ob | |
| tagelanges Busgeruckel abgefedert oder Beziehungs-Aua bepflastert werden | |
| musste, mit Buch war ich durch viele seelische Brandungszonen geflutscht. | |
| Deswegen machte ich mir wenig Sorgen. So eine kleine Pandemie ließ sich im | |
| Stellungskrieg zwischen Präsenzbestand und Fernleihe aufreiben. Ich wollte | |
| den Virus in die Flucht lesen und hatte mir entsprechend Großkopfertes | |
| vorgenommen. Die Russen. Ulysses im Original überfliegen. Mehr Autorinnen | |
| lesen! Den globalen Süden! Nobelbepreistes, obskure Iren, Clever & Smart. | |
| ## Der immermüde Begleiter | |
| Doch ich hatte die Rechnung ohne den schläfrigen Höllenhund Neurasthenie | |
| gemacht, den immermüden Begleiter dieser Scheißpandemie. Kaum las ich mich | |
| mal fest, verschwammen die Buchstaben. Manchmal nickerte ich schon zur | |
| Dämmerstunde aus der Belletristik heraus. Mit dem Befund stehe ich nicht | |
| allein: Nachteulen werden in der Covid-Ära zu Schlafschafen, | |
| Sperrstundenrebellen zu Systempennern. Im Lockdown zählten Wachstunden wie | |
| Hundejahre, also siebenfach. | |
| Natürlich kämpfte ich. Mit Kaffee, Kippen und Ohrfeigen. Danach Stoßlüften | |
| und Stoßgebete, nichts half. Es war immer dasselbe: Lider zu, Buch runter, | |
| Beginn der Schnarchtätigkeiten. | |
| Im Sommer normalisierten sich Leben und Literaturliste. Beides erlangte | |
| Unbefangenheit zurück. Die Seuche ging in Deckung, Bäder und Biere lockten, | |
| und ich las mühelos wie ehedem. Doch nun steigen „die Zahlen“ wieder und | |
| mein Schlafbedürfnis explodiert. Ich reagiere exponentiell empathisch: Je | |
| apokalyptischer RKI-Chef Wieler morgens formuliert, umso schneller schlafe | |
| ich abends beim Lesen ein. Das scheint mein bevorzugter Schutz gegen die | |
| Hiobszahlen, womöglich bin ich eher fainting goat als Schlafschaf. | |
| Den Schaden nimmt das Literaturpensum, hochtrabende Schwarten, die schon im | |
| ersten Einschluss ungelesen blieben (Ulysses! Die Russen!) nehme ich gar | |
| nicht mehr zur Hand. Mittlerweile keulen mich schon die Überschriften beim | |
| Handybrowsen: „Inzidenz 2.000!“, „Omikron!“, „FDP-Verkehrsminister!�… | |
| Nacht! Weckt mich, wenn es vorbei ist. | |
| 2 Dec 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Bartel | |
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