# taz.de -- US-Jazzmusikerin Esperanza Spalding: Im Labor wird gesummt | |
> Esperanza Spalding nutzt die Wissenschaft, um über die heilende Wirkung | |
> von Musik zu forschen. Sie ist aber auch eine spielfreudige | |
> Jazzmusikerin. | |
Bild: Die Musikwissenschaftlerin und Jazzmusikerin Esperanza Spalding | |
Am Anfang ist Summen. Erst nach einer halben Minute begegnet dem | |
„Hmm-mmmh-mmh“ eine helle Stimme, ein Pianomotiv, darauf folgen die | |
gesungenen Zeilen: „I know it’s all thick with thunder in your throat.“ | |
Dazu grollt tatsächlich ein Donnerblech im Hintergrund. Auf diese Weise | |
überführt Esperanza Spalding die dicke Luft eines Familienstreits in Musik | |
beziehungsweise zielt die US-amerikanische Jazzsängerin auf den Moment | |
danach: „Das Summen entspringt der Idee, mit dem Gegenüber wieder in | |
Kontakt zu treten, gesehen zu werden“, meint die 37-Jährige. „Es sind noch | |
keine Worte nötig, erst mal nur die Anerkennung von Schmerz.“ | |
„Formwela 3“ heißt dieses Stück, das sich auf dem neuen Album der Bassist… | |
aus Portland befindet. „Songwrights Apothecary Lab“ genannt, soll es dabei | |
mehr sein als nur ein gewöhnliches Album: Es ist als Versuchslabor | |
angelegt. | |
Spalding selbst lehrt in Harvard Musikwissenschaften und hat 2018 die | |
Ehrendoktorwürde bekommen, sie nennt zudem mehrere Grammy-Auszeichnungen | |
ihr Eigen. Zusammen mit Expert:innen aus Neurowissenschaften und | |
Musiktherapie setzt sie sich nun intensiv mit der heilenden Wirkung von | |
Musik auseinander. | |
Wozu genau wird die lindernde Wirkung eines Songs gebraucht? Das hat sie | |
sich und ihre Mitmusiker:innen vor jeder Komposition gefragt und dann, | |
mit wissenschaftlichem Beistand, konkrete Bedürfnisse in Musik übersetzt. | |
„Die gesamte Menschheitsgeschichte über nutzen wir klangliche | |
Beschwörungen, um gewünschte körperliche Zustände zu erzeugen oder nach | |
erlittenen Krankheiten wiederherzustellen“, erklärt die Künstlerin. | |
## Mit Musik Corona-Leid heilen | |
„Mit Beschwörungen arbeite ich als Musikerin schon länger, ich will damit | |
noch weiterkommen. Angesichts der Coronapandemie und ihrer sozialen Folgen, | |
bei der es auf so vielen Ebenen menschlicher Erfahrung so viel Leid gibt, | |
streben wir an, dass musikalische Arbeit noch heilsamer, noch nützlicher | |
wird. Und zwar für ganz bestimmte Dinge, die andere durchmachen. Dinge, die | |
ich selbst durchmache.“ | |
Das Stück „Formwela 3“ ist während des Lockdowns entstanden, einer Zeit, … | |
der viele zu Hause aufeinanderhockten. Der Song setzt an, nachdem in einer | |
Familie „some intense shit“ abgelaufen sei – eine Erfahrung, die die | |
Künstlerin selbst gut kennt. Zusammengearbeitet hat Spalding bei der | |
Konzeption ihrer Musik nicht nur mit medizinischem Fachpersonal, sondern | |
auch mit Kolleg:innen, darunter etwa mit dem 88-jährigen Saxofonisten Wayne | |
Shorter, der Ende der 1960er mit Miles Davis und der Band Weather Report zu | |
den Erneuerern des Jazz zählte. | |
Shorter hatte sich aus Krankheitsgründen bereits aus dem aktiven Musikleben | |
zurückgezogen. Bei „Formwela 3“ ist es sein Saxofonspiel, das den zunächst | |
summend begegneten Familienkonflikt gegen Ende des Songs kanalisiert. | |
Fast etwas aufsässig setzt das Blasinstrument ein, während die Band ein | |
Crescendo aus Bass, Piano, Synthesizer und Schlagzeug erzeugt. „Wayne holt | |
uns aus dem Stillstand heraus“, kommentiert Spalding seinen Einsatz. „Sein | |
Sound verströmt so viel Freude und Freiheit, dass man die Anstrengung fast | |
genießt und am Ende das spielerische Abenteuer des Lebens wieder aufnehmen | |
will.“ | |
## Ruhe, Energie und Innehalten vereint | |
Auch wenn die meisten Songs auf „Songwrights Apothecary Lab“ immer wieder | |
zu einem Moment der Ruhe und des Innehaltens zurückkehren, sind sie doch | |
von großer Energie geprägt. Das liegt nicht zuletzt am Kontrabass von | |
Esperanza Spalding, der ihre Musik stets leicht klingen lässt. Aber es ist | |
auch ihr Gesang, der mal in Schleifen übereinander liegt, mal wie ihr Bass | |
munter durch die Instrumentierung hüpft. | |
Das Album wurde in drei Zyklen aufgenommen: im ländlichen Oregon, in | |
Portland und in New York. An jedem Ort begleiteten Spalding jeweils andere | |
Kollaborateur:innen und Fragestellungen. | |
Im ersten Drittel thematisiert sie die Belastungen häuslicher Enge. Dabei | |
wird sie unterstützt von Ganavya Doraiswamy, einer tamilisch-amerikanischen | |
Musikethnologin und Sängerin; im Mittelteil geht es unter anderem um die | |
Angst, verletzt zu werden, im Strudel einer Liebesbeziehung. Hier wirkt der | |
Posaunist und Komponist Corey King mit. Dass dieses Versuchslabor nun in | |
Form eines Albums gebündelt wird und nicht als Workshop oder Vortragsreihe, | |
erklärt Spalding mit ihrer Karriere als Jazzmusikerin. Es gehe ihr jedoch | |
um den interdisziplinären Austausch. | |
## Schlagzeug, Saxofon und Bass | |
Deshalb hat sie auch keine Songs versammelt, sondern zwölf „Formwelas“. | |
Dieses Wortgebilde steht für „formula“, Formel oder Rezept, nur wird das | |
„u“ zum „we“, das „Du“ zum „Wir“. Der Reigen endet mit dem chao… | |
„Formwela 13“: Spaldings Stimme wird darin übereinander geschichtet, | |
Schlagzeug, Saxofon und Bass kreieren ein Durcheinander, aus dem sich immer | |
wieder einzelne Instrumente herausarbeiten. Die Kakofonie ist beabsichtigt, | |
geht es doch um einen Schmerz, der so bestimmend werden kann, dass man | |
nicht mehr herausfindet. | |
Spalding vergleicht das mit einem Sturm, in dem man sich verliert: „Die | |
innere Stimme konzentriert sich nur mehr auf das Leiden, man schämt sich. | |
Aber man kann diese graue Wolke zum Platzen bringen. Wenn man in sie | |
hineinsticht, erkennt man sie an und lässt sie zu Regen werden. Dieser | |
liebevolle Stich aktiviert die Kernumwandlung, von einer schlammigen und | |
verwirrenden, stresserzeugenden und isolierenden Wolke in seine natürlichen | |
Bestandteile, das Wasser, den nährenden Regen.“ | |
Und so erhebt sich in „Formwela 13“ schließlich auch Spaldings Stimme über | |
alle Instrumente: „Give up the rain, we will be rain“, singt Spalding sanft | |
im Dialog mit sich selbst. Die chaotische Instrumentierung löst sich auf | |
und lässt ihre Stimme schwingen. Die Musik verkörpert den erlösenden Regen, | |
der aus der inneren Unruhe erwachsen ist. | |
Nein, Esperanza Spaldings Musik ist keine Medizin, die wie eine | |
Schmerztablette universell eingesetzt werden kann. Die Ausgangskonflikte, | |
die sie ihren „Formwelas“ zugrunde legt, sind schließlich auch höchst | |
spezifisch. Was eine Person in zwischenmenschlichen Grenzsituationen | |
erlebt, unterscheidet sich möglicherweise signifikant von den Erfahrungen | |
einer anderen. | |
## Schmerz, Trauer und Wut | |
Aber Spaldings Musik entsteht eben durch das Zusammenspiel | |
unterschiedlicher menschlicher Erfahrungen, hervorgerufen durch Schmerz, | |
Trauer und Wut. Durch die Musik, die Spalding und ihr Team im gegenseitigen | |
Austausch und auch mit Publikum komponiert haben, werden aus individuellen | |
Problemen gemeinsame Erfahrungen, Emotionen gemeinsam verarbeitet – in | |
Komposition und Rezeption. | |
Spaldings Musik schafft einen Spagat: Sie ist durchdacht und mit | |
wissenschaftlichen Theorien unterfüttert, in höchstem Maße zweckgerichtet | |
entstanden. Doch die Musik wird bei Spalding nie zum Tool. Sie behält ihren | |
Zauber, von dem auch Spalding weiß: „Wir lassen diese Lieder in unsere | |
Psyche, in das Fleisch unserer Körper. Der Klang dringt buchstäblich durch | |
Schwingungen in den Körper ein und wird im Gehirn in Elektrizität | |
übersetzt. Und das beeinflusst unseren Geist, es beeinflusst uns. Die Frage | |
ist: Was wollen wir wirklich mit dieser Magie machen, die wir erzeugen?“ | |
Und so klingt das „Songwrights Apothecary Lab“ weder sonderlich technisch | |
noch so spiritualisiert, wie die Musikerin von ihrer Kunst erzählt. Das | |
liegt daran, dass zwar die wissenschaftlichen Erkenntnisse Teil der | |
Recherche zu den Songs sind. Wenn es aber um ihre musikalische Umsetzung | |
geht, lassen Spalding und ihre Band reine Spielfreude walten. | |
Jeder Song kanalisiert ein Gefühl, das diejenigen, die die Musik machen, | |
erlebt haben. Esperanza Spalding begibt sich mit ihrer Band auf einen | |
wissenschaftlichem Weg, doch die Musiker:innen lassen ihren eigenen | |
Erfahrungen freien Lauf und erforschen sich dabei selbst. „Songwrights | |
Apothecary Lab“ ist nicht bloß ein Album mit Jazz, es ist ein | |
Experimentierfeld – mit den Beschwörungen, die wir Musik nennen. | |
27 Nov 2021 | |
## AUTOREN | |
Diviam Hoffmann | |
## TAGS | |
Musik | |
Musikrezeption | |
Jazz | |
Wissenschaft | |
wochentaz | |
Jazz | |
Musik | |
Singer-Songwriter | |
Free Jazz | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Buch über Pianistin Jutta Hipp: Wagnisse im Jazzkeller | |
Die deutsche Jazzerin Jutta Hipp ging nach New York, war eine Sensation und | |
wurde vergessen. Eine Biografie erinnert an sie. | |
Nachruf US-Jazzsaxofonist Wayne Shorter: Weird wie Wayne | |
Der US-Jazzsaxofonist und Gründer der Fusionband Weather Report, Wayne | |
Shorter, ist 89-jährig in Los Angeles gestorben. Nachruf auf einen | |
Visionär. | |
Negro Leo auf dem Jazzfest Berlin: Atlantische Diaspora | |
Brasilianische Künstler kommen zum diesjährigen Jazzfest in Berlin. Zu | |
ihnen gehört Negro Leo. Porträt eines umtriebigen Künstlers. | |
Neues Album von Geoff Muldaur: Dem Erbe verpflichtet | |
„His Last Letter“ von US-Künstler Geoff Muldaur führt tief hinein in die | |
Geschichte von Jazz, Blues und Folk. Zudem bringt es Vergessenes ans Licht. | |
Album von US-Drummer Gerald Cleaver: Groove und wildes Denken | |
Jazzdrummer Gerald Cleaver weicht ab von der Norm. Auf „Griots“ mischt er | |
analoge Polyrhythmik mit elektronischer Klangerzeugung. |