| # taz.de -- Legalisierung von Cannabis: Sind bald alle dicht? | |
| > Die Ampelkoalition will Cannabis legalisieren. Während die einen vor | |
| > Gefahren warnen, wittern andere ein Milliardengeschäft. | |
| Bild: Hasch-Tütchen, wohin man blickt. Das könnten in Zukunft mehr werden | |
| Tobias Hellenschmidt friemelt einen Schlüssel in das Schloss an der Wand. | |
| „Waren Sie schon mal in der Psychiatrie?“, fragt er. „Ich meine, in der | |
| geschlossenen?“ Er entriegelt, drückt die schwere Tür auf. „Ich frage nur, | |
| weil Sie gleich sehen werden, wie kahl hier alles ist“, sagt er. „Lassen | |
| Sie sich davon nicht beirren. Das ist wirklich eine tolle Station.“ | |
| Hellenschmidt, Glatze, schwarzes Sakko, ist leitender Oberarzt der Kinder- | |
| und Jugendpsychiatriestation im Vivantes-Klinikum in Berlin-Friedrichshain. | |
| Wer hier landet, ist in der Regel zwischen 14 und 21 Jahre alt und schwer | |
| psychisch krank. In den allermeisten Fällen geht es um Psychosen, Manien, | |
| Persönlichkeitsstörungen und akute Selbstgefährdung. In einigen wenigen | |
| Fällen aber sind es „Entzugssymptomatiken bei Abhängigkeiten von | |
| psychotropen Substanzen“, die die jugendlichen Patient:innen in die | |
| Klinik führen. „Psychotrop“, der Begriff kommt aus dem Griechischen und | |
| bedeutet „auf die Seele wirkend“. Hellenschmidt verwendet ihn für harte | |
| Drogen, Cannabis, Alkohol und Nikotin. | |
| Um die 300 Suchtpatient:innen durchlaufen seine Abteilung pro Jahr, | |
| die meisten davon allerdings auf der offenen Station. Auf die Seele von | |
| einem Viertel dieser Jugendlichen hat laut dem Psychiater vor allem eine | |
| Substanz gewirkt: Cannabis. Zwar sei auch sonst alles dabei, betont | |
| Hellenschmidt. „Heroin, Kokain, Alkohol, Benzodiazepine“ – ein | |
| verschreibungspflichtiges Medikament, das dämpfend wirkt – „aber fast alle, | |
| die zu uns kommen, konsumieren zusätzlich auch Cannabis.“ | |
| Ausgerechnet diese Substanz will die künftige Bundesregierung nun | |
| legalisieren. „Wir führen die kontrollierte Abgabe von Cannabis an | |
| Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften ein“, heißt es | |
| [1][im Koalitionsvertrag], den SPD, Grüne und FDP vor wenigen Tagen | |
| vorgelegt haben. Viel mehr als das steht zu dem Thema nicht drin. Das ist | |
| eine Absichtserklärung, aber noch lange kein Gesetz. Es fehlt ein Zeitplan, | |
| und so gut wie jedes Detail zu der Frage, wie die Legalisierung genau | |
| aussehen soll. | |
| Sechzehn Jahre lang wirkte die Drogenpolitik der Bundesregierung wie | |
| betoniert. „Nur weil Alkohol gefährlich ist, ist Cannabis kein Brokkoli“ �… | |
| dieses Bonmot der Bundesdrogenbauftragten Daniela Ludwig (CSU) wurde zur | |
| Chiffre dafür, dass sich mit der Union in Sachen Legalisierung ganz sicher | |
| nichts bewegt. Selbst das 2017 verabschiedete Gesetz, das die Abgabe von | |
| Cannabis als [2][verschreibungspflichtiges Medikament] vereinfachen sollte, | |
| kam nur deshalb zustande, weil Patient:innen gegen die Blockade der | |
| Bundesregierung klagten. Und CBD-Shop-Betreiber:innen, die CBD-Gras mit | |
| einem THC-Gehalt in fast homöopathischer Dosis vertrieben, wurden bis | |
| zuletzt strafrechtlich verfolgt. | |
| Und jetzt, mit der neuen Regierung, soll plötzlich alles anders werden? | |
| Seit in der öffentlichen Debatte angekommen ist, dass Grüne, FDP und SPD | |
| eine Legalisierung favorisieren, wurde viel vor Cannabis gewarnt. Es ergebe | |
| keinen Sinn, neben dem legalen, aber gefährlichen Alkohol die Tür für eine | |
| weitere „gefährliche und oft verharmloste“ Droge zu öffnen, sagte etwa | |
| Oliver Malchow, der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei in einem | |
| Interview. Rainer Wendt von der Deutschen Polizeigewerkschaft pflichtete | |
| ihm bei. | |
| ## Psychiater warnt vor Hirnschäden bei Jugendlichen | |
| Cannabis sei nicht nur eine Einstiegsdroge, sondern wegen der | |
| Unkontrollierbarkeit der Zusammensetzung insbesondere für junge Menschen | |
| eine Gefahr. Auch einige Mediziner:innen stimmten zu. Regelmäßiger | |
| Cannabiskonsum sei gerade bei Jugendlichen und Heranwachsenden sehr | |
| gefährlich, erklärte etwa der Hamburger Kinder- und Jugendpsychiater und | |
| vehemente Legalisierungsgegner Rainer Thomasius. Die Gefahr an einer | |
| Psychose zu erkranken, erhöhe sich. Das habe eine 2019 in der | |
| Fachzeitschrift The Lancet Psychiatry veröffentlichte Studie gezeigt. | |
| „Das stimmt“, sagt Psychiater Tobias Hellenschmidt und marschiert schnellen | |
| Schrittes über den quietschenden Krankenhausflur der | |
| Jungendpsychiatriestation. „Aber es stimmt nur bedingt.“ Zwanzig Plätze | |
| gibt es im Friedrichshainer Vivantes-Klinikum für Jugendliche mit | |
| Abhängigkeitserkrankungen. Fünf sind in der geschlossenen Abteilung, die | |
| restlichen in der offenen Station. Die Zimmer sind karg, ein Bett, ein | |
| Regal, viel weiße Wand. Was sich hier beobachten lässt, ist das | |
| Worst-Case-Szenario jugendlichen Cannabiskonsums. | |
| In der Gemeinschaftsküche der offenen Station sind gerade ein paar | |
| Jugendliche zugange. Ein schlaksiger Junge, 14 Jahre alt, schwarzer Hoodie, | |
| ist bereit für ein kurzes Gespräch. Er sei wegen seines Cannabiskonsums | |
| hier, sagt er. „Auch wegen Opiaten, aber hauptsächlich wegen Cannabis.“ Mit | |
| 13 habe er begonnen zu kiffen. Von da an habe er immer so viel konsumiert, | |
| wie da gewesen sei. „Egal, ob das zwei Gramm oder 50 Gramm waren. Ich habe | |
| immer alles weggeraucht.“ Aus der Jugendhilfeeinrichtung, in der er sonst | |
| lebe, habe man ihn deshalb in die Klinik geschickt. | |
| „Die am stärksten gefährdete Gruppe, eine Abhängigkeit zu entwickeln, sind | |
| Jugendliche, die psychisch erkrankt sind“, erklärt Hellenschmidt wenig | |
| später in seinem Büro. Das bedinge sich oft gegenseitig. „Nach allem, was | |
| wir wissen, ist Cannabis zwar eine Substanz, die bei sehr hohem | |
| regelmäßigen Konsum über längere Zeit schwere psychische Störungen wie | |
| Schizophrenie begünstigt und mitunter dazu beitragen kann, dass eine | |
| Psychose früher im Leben stattfindet.“ Bevor das passiere, müsse aber | |
| einiges zusammenkommen. | |
| Hellenschmidt argumentiert sachlich, abwägend, wohl wissend, dass | |
| Wissenschaft selten einfache Antworten liefern kann, vor allem, wenn es um | |
| die menschliche Psyche geht. „Die Psychose betrifft immer nur einen kleinen | |
| Teil von Menschen, die wahrscheinlich familiär oder anderweitig vorbelastet | |
| sind“, sagt er. Schizophrene Patient:innen in einem Vorstadium der | |
| Erkrankung neigen oft zu hohem Cannabiskonsum. „Eine beginnende Psychose | |
| geht mit veränderter Selbst- und Fremdwahrnehmung einher“, sagt der | |
| Psychiater. „Da kann es sein, dass Patient:innen eine Substanz | |
| konsumieren, die sie beruhigt.“ Man könne nicht immer sagen, was zuerst da | |
| war – dafür seien die Zusammenhänge zu komplex. | |
| Eindeutigere Studien als zum Thema Psychose gebe es in Bezug auf | |
| Gedächtnis, Schulleistungen und Intelligenz. „In einer Phase, in der die | |
| Gehirnentwicklung voll im Gange ist, können sich extern zugefügte | |
| Cannabinoide negativ auf Gedächtnis- und Lernleistungen auswirken“, sagt | |
| der Psychiater. Man könne deshalb davon ausgehen, dass Cannabiskonsum im | |
| jugendlichen Gehirn eigentlich immer schädlich sei. | |
| Dennoch steigt der Cannabiskonsum von Jugendlichen seit Jahren | |
| kontinuierlich – auch trotz des bislang geltenden Verbots. Das zeigt die | |
| jährlich von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung | |
| veröffentlichte Drogenaffinitätsstudie. 2011 hatten nur 6,7 Prozent der | |
| Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren schon einmal Cannabis konsumiert. | |
| 2019 war es schon mehr als jeder zehnte. | |
| Ob diese Zahlen mit einer Legalisierung steigen? „Das weiß niemand“, sagt | |
| Hellenschmidt. | |
| Jedenfalls ist keine Substanz mit berauschender Wirkung in Deutschland seit | |
| Jahrzehnten so beliebt wie Cannabis – und das nicht nur bei Jugendlichen. | |
| Das Bundesgesundheitsministerium geht von insgesamt 3,11 Millionen | |
| Konsument:innen aus. Ob jemand dabei nur einmal an einem Joint gezogen | |
| hat oder täglich mehrere Gramm wegraucht, wird nicht erfasst. Klar ist | |
| aber: Der Anteil derjenigen, egal welchen Alters, die im selben Jahr | |
| irgendeine andere illegale Droge konsumierten, liegt deutlich darunter. | |
| Nicht jede Person, die kifft, greift automatisch zu Härterem. | |
| Hinzu kommt: Nur ein Bruchteil aller kiffenden Menschen muss in Behandlung. | |
| Lediglich zwei Prozent benötigen eine ambulante Therapie, nur etwa ein | |
| Prozent eine stationäre. Auffällig ist allerdings: Die überwiegende | |
| Mehrheit der Cannabisabhängigen ist unter 30 und männlich. „Grob | |
| vereinfacht kann man sagen: Je älter man ist, desto weniger schädlich | |
| scheint Cannabiskonsum zu sein“, sagt Hellenschmidt. | |
| Aber wie dafür sorgen, dass Jugendliche nicht kiffen? | |
| Sie wie Kriminelle zu behandeln, helfe jedenfalls nicht, sagt der | |
| Psychiater. Er ist trotz aller Risiken für eine Entkriminalisierung der | |
| Substanz. „Dass jemand, der auf einer Party einen Joint konsumiert, deshalb | |
| nicht gleich seinen Ausbildungsplatz verliert, weil er vorbestraft ist, | |
| scheint mir sehr sinnvoll zu sein.“ Auch eine strenge Altersbegrenzung | |
| helfe vermutlich nicht viel. Auch deshalb, weil die Legalisierung nicht | |
| zwingend zu einem Ende der illegalen Schattenwirtschaft führt. | |
| „Wenn bei einer Legalisierung ein bestimmter THC-Gehalt gesetzlich | |
| vorgeschrieben ist, dann wird es weiterhin illegale Produkte geben, die | |
| mehr THC enthalten“, gibt er zu bedenken. „Die werden wahrscheinlich auch | |
| billiger sein, weil die Besteuerung wegfällt.“ | |
| Im Koalitionsvertrag der Ampelparteien steht zu diesen Fragen nichts. Hier | |
| kommt es also auf die Ausgestaltung der Gesetze an. | |
| Wichtiger als Jugendschutz sei eine gezielte und auf bestimmte Gruppen | |
| zugeschnittene Prävention. „Warenkunde ohne Moral“, nennt Hellenschmidt | |
| das. „Man muss Jugendliche mit Wissen ausstatten, das ihnen im besten Fall | |
| zu einer aufgeklärten Entscheidung verhilft.“ Das sei im Grunde die einzige | |
| Chance. | |
| Denn wenn es um den Genussmittelmarkt geht, sind Lobbyismus und | |
| Wirtschaftsinteressen nicht weit. Immerhin hier hat die Koalition | |
| vorgebaut. „Wir verschärfen die Regelungen für Marketing und Sponsoring bei | |
| Alkohol, Nikotin und Cannabis“, lautet ein Satz im Koalitionsvertrag. | |
| Einer der wichtigsten Lobbyisten in Sachen Cannabislegalisierung kommt | |
| allerdings nicht aus der Wirtschaft, sondern aus der Justiz. Es ist der | |
| 60-jährige Jugendrichter Andreas Müller, der seit 1997 am Amtsgericht | |
| Bernau nahe Berlin wirkt und sich unter anderem einen Namen mit besonders | |
| harten Urteilen für jugendliche Neonazis gemacht hat. „Mein Lebensinhalt | |
| besteht darin, eine andere Drogenpolitik herbeizuführen“, sagt Müller. Es | |
| klingt wie ein Scherz, wie vieles, was er in seiner knorrig-jovialen Art | |
| sagt. Aber es ist keiner. | |
| Als die Grünen als Oppositionspartei schon 2015 und 2018 Versuche | |
| unternahmen, Cannabis zu legalisieren und einen Entwurf für ein | |
| Cannabiskontrollgesetz formulierten, schrieb der Richter daran mit. Anders | |
| als der Koalitionsvertrag regelt dieser Entwurf die Legalisierung bereits | |
| bis ins Detail. „Cannabis wird aus den strafrechtlichen Regelungen des | |
| Betäubungsmittelgesetzes herausgenommen“, heißt es darin. Stattdessen werde | |
| ein strikt kontrollierter legaler Markt für Cannabis eröffnet. | |
| „Um dieses Ziel zu erreichen, muss die gesamte Handelskette für Cannabis | |
| (Anbau, Großhandel, Import/Export, Einzelhandel) reguliert werden.“ Nach | |
| dem Gesetzentwurf der Grünen soll Volljährigen der Besitz von bis zu 30 | |
| Gramm Cannabis gestattet sein. Die Aufzucht von bis zu drei weiblichen, | |
| blühenden Cannabispflanzen wäre zudem im Eigenanbau erlaubt. Gekifft werden | |
| dürfte dort, wo auch geraucht werden darf. Für den Straßenverkehr würde | |
| analog der Promillegrenze ein Grenzwert für Cannabis eingeführt. | |
| Die FDP, die sich ebenfalls seit Jahren für eine liberale Drogenpolitik | |
| stark macht, enthielt sich 2020 bei der Abstimmung. Der Vorstoß der Grünen | |
| kam nicht durch. Der Gesetzentwurf habe „erhebliche Mängel“, twitterte | |
| Wieland Schinnenburg, damals der Drogenpolitische Sprecher der FDP. Seine | |
| Partei habe mehrere Änderungsanträge gestellt. Die hätten die Grünen jedoch | |
| abgelehnt. Nun werden die Regierungsparteien einen Kompromiss finden | |
| müssen, wollen sie ihre Legalisierungspläne realisieren. Dass es überhaupt | |
| so weit gekommen ist, hat auch mit Andreas Müller zu tun. | |
| „Das Thema Cannabis beschäftigt mich seit dem elften Lebensjahr“, sagt er | |
| ernst. „Mein Bruder hat gekifft, mein Vater hat gesoffen.“ Der Vater starb, | |
| der Bruder landete im Gefängnis. „Der war der Hascher, der Gammler, und ich | |
| konnte nicht verstehen, warum er stigmatisiert und kriminalisiert wird.“ | |
| Also habe er Jura studiert. Mitte der Neunziger wurde er Richter in | |
| Brandenburg. | |
| Seit 2019 setzte er mehrere Verfahren wegen des Besitzes von geringen | |
| Mengen Cannabis aus und erklärte, dass er alle Regelungen des | |
| Betäubungsmittelgesetzes in Bezug auf Cannabis für verfassungswidrig hält. | |
| Ein Befangenheitsantrag der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) gegen ihn | |
| wurde von zwei Instanzen abgelehnt. | |
| ## Jugendrichter kämpfte für Legalisierung | |
| Im April 2020 schickte er 140 Seiten Vorlage ans Bundesverfassungsgericht | |
| und forderte seine Kollegen auf, die Verfassungsmäßigkeit des | |
| Betäubungsmittelgesetzes in Bezug auf Cannabis zu prüfen. Eine Entscheidung | |
| steht aus. „Artikel 3 Grundgesetz: Gleichheitsgrundsatz“, sagt Müller. „… | |
| darf sich betrinken in diesem Staat, bis zum geht nicht mehr, aber wenn man | |
| einmal am Joint zieht, oder eine geringe Menge Haschisch besitzt, dann wird | |
| man bestraft.“ | |
| Müller wird lauter. Artikel 2, Grundgesetz: „Jeder hat das Recht auf die | |
| freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer | |
| verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das | |
| Sittengesetz verstößt“, heißt es dort. „Die Behörden verfolgen aber | |
| regelmäßig Leute, nur weil sie mit einem anderen Genussmittel umgehen als | |
| mit Alkohol und Nikotin“, ärgert er sich. | |
| Im März 2021 entdeckte er Twitter. Nach zwanzig Minuten habe er 700 | |
| Follower gehabt. Mittlerweile folgen ihm über 55.000 Menschen. „Ich habe | |
| gemerkt, dass man mit Twitter auch ein bisschen Politik machen kann“, sagt | |
| Müller. Kurz nach der Bundestagswahl startete er eine | |
| Social-Media-Kampagne. „Ich habe die Legalisierungsszene dazu aufgerufen, | |
| das Thema bei Twitter trenden zu lassen.“ Müller rief und der #weedmob | |
| folgte. Es erschienen unzählige Tweets mit Hashtags wie #richtermüller, | |
| #cannabislegalisierung und #LegalisierungJetzt. Zeitweise war die | |
| Legalisierung von Cannabis das bestimmende Thema in den sozialen Medien. | |
| Auch als die Ampelparteien den neuen Koalitionsvertrag präsentierten, | |
| setzte Müller einen Tweet ab. „Heute vor 7 Jahren ist mein Bruder infolge | |
| einer unsäglichen Drogenpolitik gestorben“, schrieb er. „Zuvor von einem | |
| Amtsrichter wegen 2 Gramm zu 7 Monate auf Bewährung verurteilt. Ich | |
| versprach ihm am Grab, weiter für die Legalisierung und Rehabilitierung zu | |
| kämpfen. Er wäre heute stolz.“ | |
| Bei der Mary Jane, [3][Deutschlands größter Hanfmesse], herrscht Ende | |
| Oktober Goldgräberstimmung. Ganze 220 Unternehmen stellen in einer | |
| Veranstaltungshalle an der Spree jede Menge Produkte rund um den Anbau und | |
| Konsum von Cannabis aus. Ein breites Sortiment, für das sich laut | |
| Veranstalter 25.000 Besucher:innen angekündigt haben. | |
| Auch am Samstagnachmittag drängen sich die Cannabisfans durch die Gänge der | |
| Halle und inspizieren Rauchutensilien sowie CBD-Produkte und begutachten | |
| verschiedenes Equipment, das ihnen den Anbau leichter machen soll: Lampen, | |
| Lüftungen, Dünger, Bewässerungsanlagen – und sogenannte „Growboxen“; | |
| duschkabinenartige Gestelle mit Plastikhülle, in denen man unter | |
| LED-Beleuchtung, quasi „indoor“ Pflanzen züchten kann. Dass der Eigenanbau | |
| von Cannabis nach wie vor illegal ist, scheint hier kaum jemanden zu | |
| interessieren. | |
| „Wir haben vor der Bundestagswahl auf unserer Homepage ein Tool angeboten, | |
| mit dem man sich über die Postleitzahl die jeweiligen Wahlkreiskandidaten | |
| der im Bundestag vertretenen Parteien auswerfen lassen konnte“, sagt | |
| Hanfverband-Geschäftsführer Georg Wurth an seinem Stand. „Wir haben die | |
| Leute aufgefordert, ihren Wahlkreiskandidaten zu schreiben, dass sie von | |
| ihnen erwarten, dass Cannabis legalisiert wird, wenn sie in den Bundestag | |
| kommen.“ Dem Aufruf seien so viele Menschen gefolgt, dass der Hanfverband | |
| Beschwerden von einzelnen Kandidat:innen bekommen habe. | |
| Wie es zu einem Verbot von Cannabis kam, wurde in der aktuellen Debatte | |
| hingegen kaum thematisiert. Einer, der sich mit dieser Frage beschäftigt | |
| hat, ist Sebastian Scheerer. Der 71-jährige Jurist und Soziologe war | |
| Professor für Kriminologie an der Uni Hamburg. Mittlerweile ist er | |
| emeritiert. Scheerer gehört dem „Schildower Kreis“ an, einem | |
| Expert:innennetzwerk, das sich seit Jahrzehnten für die Legalisierung von | |
| Drogen engagiert. | |
| „Heute tut man so, als wäre die Prohibition alternativlos gewesen und das | |
| Beste, was man für die Volksgesundheit tun konnte, aber das ist | |
| erwiesenermaßen falsch“, sagt Scheerer am Telefon. „Gesundheitsargumente | |
| waren historisch meist nur Fassaden, hinter denen sich weniger edle | |
| Strukturen und Motive verbargen.“ Dann setzt er zu einem ausschweifenden | |
| Exkurs in die Geschichte an. Er berichtet von religiösen Kräften, sowohl in | |
| den arabischen Ländern als auch in den USA, die weder Alkohol- noch | |
| Cannabiskonsum gerne sahen. Und er berichtet von Kolonialherren, die den | |
| Konsum bei „Fremden“ zu unterbinden versuchten, obwohl oft dieselben | |
| Substanzen in der weißen Bevölkerung legal im Umlauf waren. | |
| Auch die Alkoholprohibition in den 1920er Jahren habe in Bezug auf die | |
| Stigmatisierung von Cannabis eine Rolle gespielt. Während die besser | |
| verdienenden US-Amerikaner:innen begannen, illegal Schnaps zu brennen, | |
| griff die ärmere Bevölkerung auf das von karibischen Zuckerrohrplantagen | |
| und aus Mexiko eingeführte Marihuana zurück. Die ärmere Bevölkerung, das | |
| waren mehrheitlich Schwarze, Latinos und andere Minderheiten. Sie wurden | |
| von da an am stärksten mit Cannabiskonsum assoziiert. | |
| Ein nach dem Ende der Prohibition 1933 neu geschaffenes Drogendezernat | |
| verstärkte den Effekt. Dessen Leiter, Harry J. Anslinger, ein | |
| US-amerikanischer Diplomat deutsch-schweizerischer Herkunft, begann eine | |
| großangelegte Kampagne gegen Cannabis. Er war es auch, der den Konsum mit | |
| Gewaltkriminalität und Wahnsinn verknüpfte. Cannabis wurde zum Killer-Weed. | |
| In den USA hat jedoch längst eine gegenläufige Bewegung eingesetzt. In mehr | |
| als 15 US-Bundesstaaten ist Cannabis inzwischen legal. Wer mindestens 21 | |
| Jahre alt ist, darf es dort kaufen und konsumieren. Auch in Kanada ist der | |
| Konsum seit 2018 erlaubt. Bis zu 30 Gramm und vier Pflanzen darf ein | |
| Erwachsener dort besitzen. Ein Cannabisministerium regelt die Besteuerung | |
| und Anbaukontrolle. | |
| Während der letzten großen Debatte um die Freigabe von Cannabis in | |
| Deutschland im Jahr 2019 fertigte der wissenschaftliche Dienst des | |
| Bundestages einen Sachstand zu der Auswirkung von Legalisierung auf die | |
| Konsument:innenzahl in ausgewählten Ländern an. Die Autoren kamen zu | |
| dem Schluss, dass „Länder, die eine Liberalisierungspolitik verfolgen, | |
| einige der niedrigsten Prävalenzraten aufwiesen.“ Und selbst in Kanada, wo | |
| der Konsum drei Monate nach der Legalisierung um vier Prozent gestiegen | |
| war, habe die Freigabe kaum eine Auswirkung auf Jugendliche zwischen 15 und | |
| 25 Jahren gehabt. Ein Großteil der Erstkonsument:innen waren dort | |
| Männer zwischen 45 und 64 Jahren. | |
| ## Unternehmen erkennen riesigen Absatzmarkt | |
| Auch einige deutsche Unternehmen haben die hiesige Debatte mit Interesse | |
| verfolgt. Denn eine Legalisierung, so viel steht fest, bringt sowohl der | |
| Wirtschaft als auch dem Staat eine Menge Geld. Mehr als 4,7 Milliarden Euro | |
| pro Jahr könnten dadurch für den Bundeshaushalt zusammenkommen, hat der | |
| Hanfverband ausgerechnet. Zusammengesetzt ist diese Summe aus zusätzlichen | |
| Steuereinnahmen und Sozialversicherungsbeiträgen sowie Einsparungen bei der | |
| Strafverfolgung. Darüber hinaus entsteht jetzt schon ein komplett neuer | |
| Industriezweig in Deutschland, der auch die Anbautechnik und verschiedenste | |
| künftige Darreichungsformen wie THC-haltige Getränke und Lebensmittel, | |
| sogenannte „Edibles“, einschließt. | |
| Ein Unternehmen, das schon vor vier Jahren entsprechende Weichen gestellt | |
| hat, ist die 115 Jahre alte Beleuchtungsfirma Osram. Einer, der dort | |
| Innovationen vorantreiben soll, ist Timo Bongartz, 36 Jahre alt, Gelfrisur, | |
| Gründer-Enthusiast. Vor sechs Jahren wurde Bongartz als Innovationsmanager | |
| eingestellt. Als solcher hat er bei Osram eine neue Sparte etabliert. | |
| „Horticulture“ heißt sie, Gartenbau auf Deutsch. „Eigentlich ging es | |
| zunächst ausschließlich um Lebensmittelpflanzen“, sagt Bongartz in der | |
| „World of Light“, einem firmeneigenen Museum im ersten Stock der | |
| Konzernzentrale. Doch dann habe man erkannt, dass sich mit Zubehör für den | |
| Cannabisanbau zeitnah und gewinnbringend expandieren lässt. | |
| „Cannabispflanzen brauchen sehr viel Licht“, sagt Bongartz, während er vor | |
| einem hüfthohen Podest mit beleuchteten Plastikpflanzen steht. Und weil | |
| klassische Lampen einen hohen Stromverbrauch haben und darüber hinaus viel | |
| Wärme erzeugen, habe sich beim Cannabisanbau früher als anderswo die | |
| LED-Technologie durchgesetzt. Also habe der Vorstand vor vier Jahren | |
| entschieden, ein Unternehmen aufzukaufen, das beim Thema LED-Beleuchtung in | |
| Gewächshäusern Expertise hat: Die Wahl fiel auf Fluence Bioengineering, ein | |
| Startup mit Sitz in Austin, Texas. | |
| „Als ich das Thema intern zum ersten Mal gepitcht habe, war das natürlich | |
| erst mal nichts, von dem man die Leute leicht überzeugen kann“, sagt | |
| Bongartz. Die Stereotype mussten aus den Köpfen: Kein Bob Marley, kein | |
| Hip-Hop, kein Flower-Power, stattdessen nannte er wissenschaftliche Fakten. | |
| Zum Beispiel, dass Cannabis nachweislich bei Epilepsie entspannt und die | |
| Folgen von Multipler Sklerose mindert. „Wenn man versteht, dass Cannabis | |
| medizinisches Potenzial hat, auch im sogenannten Recreational Bereich, wird | |
| schnell klar, dass man gleichbleibende Anbaubedingungen braucht, um die | |
| erforderlichen Standards zu erfüllen.“ | |
| Inzwischen ist Bongartz zum General Manager für den Bereich Europa, Naher | |
| Osten und Afrika aufgestiegen. Cannabisproduzenten und Firmen, die in | |
| Gewächshäusern und Vertical Farms Gemüse unter LED-Beleuchtung anbauen, | |
| halten sich mittlerweile die Waage. | |
| Eine Legalisierung in Deutschland ist für die Osram-Tochterfirma vor allem | |
| als Absatzmarkt interessant. „Unsere Kunden sind Grower“, sagt Bongartz. | |
| Weil die Energiepreise in Deutschland hoch und Flächen rar seien, sei der | |
| Anbau anderswo profitabler. Auch hätten andere Länder aufgrund von | |
| Lockerungen und weniger restriktiven Bestimmungen einen Wissensvorsprung | |
| aufgebaut. Portugal, zählt er auf. „Dort herrscht ein ähnliches Klima wie | |
| in Kalifornien.“ Die Schweiz, Israel und Südafrika, aber auch Holland und | |
| Dänemark, die seit Jahrzehnten Blumen in Gewächshäusern ziehen, seien für | |
| sein Unternehmen bedeutsam. Griechenland und Nordmazedonien kämen derzeit | |
| als neue Länder dazu. | |
| „Wenn der Bedarf an Cannabis steigt, werden auch mehr LED-Leuchten | |
| gebraucht. Und wer weiß“, sagt der Manager, „wenn sich der Trend fortsetzt, | |
| dass Konsument:innen verstärkt regionale Produkte nachfragen, um den | |
| ökologischen Fußabdruck zu reduzieren, dann ist irgendwann vielleicht auch | |
| Brandenburger Kush gefragt.“ | |
| Die Frage, wer die „lizenzierten Geschäfte“ sind, die laut | |
| Koalitionsvertrag künftig Cannabis verkaufen dürfen, ist bislang nicht | |
| geklärt. Die Apotheken haben bereits ihr vorsichtiges Einverständnis | |
| signalisiert. | |
| „Wir reißen uns nicht darum, künftig in unseren Apotheken Cannabis zu | |
| verkaufen“, sagte die Präsidentin der Bundesvereinigung Deutscher | |
| Apothekerverbände (ABDA) Gabriele Regina Overwiening dem Redaktionsnetzwerk | |
| Deutschland. „Im Fall einer Legalisierung sind wir aber davon überzeugt, | |
| dass es nur die Apotheken ein Höchstmaß an Sicherheit für die Konsumenten | |
| gewährleisten können.“ Experten wie Jugendrichter Müller hoffen eher auf | |
| lizenzierte Fachgeschäfte mit geschultem Personal, das fachgerecht zu | |
| verschiedenen Sorten und Wirkungsweisen beraten kann. | |
| Müller hat noch drei Wünsche. Erstens: „Macht schnell.“ Dass Cannabis aus | |
| dem Betäubungsmittelgesetz genommen und damit entkriminalisiert werde, | |
| wolle er in den ersten hundert Tagen der Regierung sehen. Zweitens: „Die | |
| Abgabe von Cannabis von Erwachsenen über 21 Jahren an Kinder und | |
| Jugendliche soll weiterhin unter Strafe stehen – aber nicht so rigoros, wie | |
| das jetzt der Fall ist.“ Und drittens: „Die Rehabilitierung von Menschen, | |
| die durch deutsche Richter und die strafrechtliche Verfolgung kaputtgemacht | |
| worden sind.“ Dass die Legalisierung im Koalitionsvertrag stehe, sei ein | |
| Erfolg. „Aber das muss alles noch weitergehen.“ | |
| 27 Nov 2021 | |
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