# taz.de -- Erste Nacht des Zirkus in Deutschland: Akrobatische Geschichten | |
> Das Zusammenspiel von Menschen und Objekten neu zu bestimmen, ist ein | |
> Merkmal des Neuen Zirkus. Das konnte man bei der „Nuit du Cirque“ | |
> entdecken. | |
Bild: Szene aus der australischen Bodenakrobatik-Show „Humans 2.0“ im Berli… | |
Der Neue Zirkus macht mobil. Weltweit war das vergangene Wochenende dieser | |
noch jungen Spielform gewidmet. In mehr als 220 Städten fand die „Nuit du | |
Cirque“ statt. Die Initiative geht von Frankreich aus, [1][dem Herzland des | |
Cirque Nouveau]. Die „Nuit du Cirque“ soll ähnlich Furore machen wie die | |
Fête de la Musique. Auch deren Ursprungsidee kommt aus Frankreich. | |
Hierzulande firmierte die Zirkusnacht unter dem Label „Zeit für Zirkus“ und | |
19 Spielstätten in 13 Städten nahmen daran teil. Die Zirkusnacht begann | |
dabei am Tag. | |
In der Bremer Schaulust etwa, Teil eines Kunstquartiers in einem ehemaligen | |
Güterbahnhof, installierte der Jonglagekünstler Benjamin Richter ein Labor | |
zur Erforschung der „Language of Objekts“. Richter jongliert mit | |
Weingläsern und weißen Stelen. Ihm geht es nicht darum, so viel Objekte wie | |
möglich in der Luft zu halten, sondern im Zusammenspiel von Körper und | |
Objekten Metaphern im Raum zu erzeugen, erzählt er. | |
Richter betreibt die Jonglagekunst praktisch und wissenschaftlich. Er lehrt | |
und forscht am Artistikbereich der University of the Arts in Stockholm und | |
ist mit seiner Performance „Taktil“ unterwegs. Bei ihm fällt auf, wie Form | |
und Bewegungsqualität der Objekte auf die Bewegungen des Körpers abfärben. | |
„Der Körper ist das Objekt, das du bewohnst“, erklärt Richter er. | |
Ein Merkmal des Neuen Zirkus ist, das Zusammenspiel von Menschen und | |
Objekten neu zu entdecken. Ein anderes, über dieses Zusammenspiel | |
Geschichten zu erzählen. „Der Neue Zirkus ist auch sehr interdisziplinär, | |
mit Tanzelementen, Sprechtheater, Musik und den Zirkusdisziplinen. Es geht | |
dabei aber nicht darum, einen Trick zu zeigen und sich dafür feiern zu | |
lassen. Es ist vielmehr so: Ich habe eine Geschichte, ich möchte etwas | |
erzählen. Und dann frage ich mich: Was brauche ich dafür?“, beschreibt | |
Leonie Grützmacher den Ansatz. | |
Grützmacher hat selbst viele Jahre bei einem Kinder- und Jugendzirkus in | |
Heidelberg mitgespielt und organisiert jetzt gemeinsam mit Alice Greenhill | |
„Zeit für Zirkus“. | |
## Weg von „immer höher, immer mehr“ | |
Dass Greenhill, eine gebürtige Französin, bei „Zeit für Zirkus“ dabei is… | |
hat eine historische Logik. Denn der zeitgenössische Zirkus ist ein Kind | |
des Mai 1968 in Paris. „Die jungen Kreativen zu der Zeit stammten nicht aus | |
Zirkusfamilien, sie waren gegen Normen und Konventionen, und gegen die | |
kapitalistische Gesellschaft. Im Zeitgenössischen Zirkus geht es auch | |
deshalb nicht um immer mehr und immer höher“, erzählt sie. | |
In Frankreich hat sich die Kunstform mittlerweile durchgesetzt, mit | |
Förderprogrammen, Spielstätten, Ausbildungseinrichtungen und vielen | |
Künstlerinnen und Künstlern. „Zeit für Zirkus“ möchte eine solche | |
Entwicklung auch für Deutschland initiieren. „Wir wollen eine bundesweite | |
Plattform schaffen und für mehr Sichtbarkeit für den zeitgenössischen | |
Zirkus in Deutschland sorgen“, meint Greenhill. | |
Zu den sichtbar gemachten Orten gehört auch [2][der „Openspace“ in Bochum], | |
eine ehemalige Industriehalle, die zur Trainingsstätte für Artisten | |
umgebaut wurde, vor allem für die in den Straßen erprobten Bewegungskünsten | |
wie Parkour, Tricking und Biken. Hier versammelten sich am Tag vor der | |
Zirkusnacht Interessierte für Akrobatik am Vertikaltuch und am chinesischen | |
Mast. Nach kurzem Aufwärmtraining vollführten sie erste Übungen. Sie | |
schlangen ihre Beine in die von der Decke herabfallenden Tücher oder ließen | |
die Oberkörper im rechten Winkel von der vertikal aufragenden Eisenstange | |
des chinesischen Masts abstehen. | |
## Verbindung mit der Straßenkunst | |
Der „Openspace“ ist ein rasant wachsendes Zentrum des zeitgenössischen | |
Zirkus. „Idee von ‚Openspace‘ ist es, jugendliche [3][Protagonisten der | |
Straßenkunst] mit Profis aus Artistik, Tanz und Bewegungskunst | |
zusammenzubringen“, erzählt Axel Hupertz. Aus diesem Grunde sind | |
Hindernisse fürs Parkour-Training und Rampen für Fahrradartisten in die | |
Halle gebaut. Von den gewaltigen Lastenkränen, die vom Industriezeitalter | |
übrig geblieben sind, hängen Seile herunter. Auch Tanzboden ist verlegt. | |
Viele Disziplinen können hier gleichzeitig betrieben werden. | |
Hupertz hat aber noch viel mehr vor. Er und seine Mitstreiter*innen | |
wollen eine Artistenschule aufbauen, mit dreijähriger Ausbildung und | |
staatlich anerkanntem Abschluss. „Erste Gespräche mit dem | |
Bildungsministerium hat es bereits gegeben. Wir arbeiten jetzt an | |
Konzepten. Und wenn alles gut geht, kann der erste Jahrgang im Jahr 2024 | |
anfangen“, sagt Hupertz. Gemeinsam mit der Folkwang-Schule soll zudem ein | |
Studiengang Artistik eingerichtet werden. | |
Bedarf dafür besteht. „Wer zeitgenössischen Zirkus als Beruf erlernen will, | |
muss gegenwärtig vor allem ins Ausland gehen. Viele der gut ausgebildeten | |
Künstler bleiben dann leider auch im Ausland“, erzählt Alice Greenhill. Die | |
Bochumer wollen dieses Manko beseitigen. | |
## Alte Industriehallen nutzen | |
Schulinitiator Hupertz denkt sogar noch weiter, ans ganze Ökosystem | |
zeitgenössischer Zirkus. „Wir haben hier im Ruhrgebiet viele ehemalige | |
Industriehallen. Einige von ihnen können gut als Spielstätten für den | |
zeitgenössischen Zirkus genutzt werden“, meint er. | |
Die Betreiber der klassischen Theaterhäuser, die für dieses junge Genre | |
theoretisch auch gut nutzbar wären, halten sich bislang noch vornehm | |
zurück. „Technisch wäre es für die großen Häuser kein Problem. Wir haben | |
hier einen denkmalgeschützten Ballsaal im zweiten Stock eines Gebäudes und | |
präsentieren seit Jahren schon Neuen Zirkus“, sagt trocken Anke Politz vom | |
Berliner Chamäleon. | |
Das Chamäleon ist Vorreiter des Neuen Zirkus in Deutschland, hat sich vom | |
Varieté vor mehr als zehn Jahren schon zur Spielstätte des Neuen Zirkus | |
gewandelt. Im Rahmen von „Zeit für Zirkus“ zeigt das Chamäleon die | |
australische Bodenakrobatik-Show „Humans 2.0“. | |
In Köln, einer weiteren Bastion des Neuen Zirkus, fand während des | |
Festivals in einem echten Zirkuszelt unter anderem die Premiere von „3 x | |
Eva“ statt. Das ist ein autobiografisch geprägtes Stück dreier | |
Performerinnen über ihre Erfahrungen in Ballett, Turnen und Kinderzirkus. | |
In eindrucksvollen Bildern ging es um Klischees von Weiblichkeit in der | |
Artistik, um sexuelle Aufladung und um Missbrauchserfahrungen. Der Neue | |
Zirkus war hier so politisch, dass sogar der Bogen zurück zu den Anfängen | |
im Pariser Mai 1968 geschlagen wurde. | |
16 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Archiv-Suche/!1224849&s=Nouveau+Cirque&SuchRahmen=Print/ | |
[2] https://openspace.ruhr/ | |
[3] /Berliner-Strassenmusikerin-im-Interview/!5577477 | |
## AUTOREN | |
Tom Mustroph | |
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