# taz.de -- Vorkaufsrecht in Berlin: Mieter*innen sind verzweifelt | |
> Nach dem Urteil zum Vorkaufsrecht ist eine Neuregelung nötig. Bis dahin | |
> sind viele Mieter*innen dem Markt ausgeliefert. | |
Bild: Demonstration für eine Neuregelung des Vorkaufsrechts am 27. November in… | |
Alexander, ein Mieter aus der Naunynstraße, wirkt resigniert. „Wir sind | |
deprimiert“, sagt er. „Eigentlich können wir gerade nur Krach machen und | |
die Politiker nicht in Ruhe lassen.“ Man überlege verzweifelt, was man | |
sonst noch tun könnte: „Es ist total ungerecht, dass uns die Zeit abläuft. | |
Wir wollen vielleicht noch mal einen Anwalt fragen, ob wir einen | |
Fristaufschub bekommen können, aber …“ Dann bricht er seufzend ab. | |
Alexander ist einer von 24 Mieter*innen, die sich vor wenigen Tagen in | |
einem digitalen Treffen versammelt haben. Sie sind ein Querschnitt aus | |
Berlins Stadtgesellschaft: Junge Studierende, eine über 70-jährige | |
Pensionärin, ein Architekt. Sie eint, dass ihre Häuser von privaten | |
Investoren gekauft wurden oder werden sollen – und dass sie sich mit ihren | |
Hausgemeinschaften im Vorkaufsrat zusammengeschlossen haben, um sich | |
dagegen zu wehren, dass sie sich ihren Wohnraum nicht mehr leisten können. | |
In Alexanders Fall wurde das Mietshaus in der Naunynstraße vor ein paar | |
Wochen von einer GmbH der Jebsen Group mit Sitz in Hongkong erworben. Die | |
Frist für das kommunale Vorkaufsrecht läuft Mitte Januar ab. Die | |
Mieter*innen hatten sich aus Angst vor Verdrängung in kürzester Zeit | |
zusammengeschlossen und haben bundesweit 400 potenzielle gemeinnützige | |
Käufer*innen angeschrieben. Ein Vorkauf zeichnete sich bereits ab: | |
Sieben Genossenschaften zeigten Interesse an dem Haus. | |
Doch dann kippte [1][das Bundesverwaltungsgericht vor rund zwei Wochen] das | |
kommunale Vorkaufsrecht. Nach all dem Engagement klingt Alexander vor allem | |
bitter: Die Hausgemeinschaft habe Angst vor den neuen Besitzern und fürchte | |
nun Verdrängung. Gleich mehrfach nach dem Urteil, zuletzt am vergangenen | |
Samstag, demonstrierten Mieter*innen verschiedener, aber nicht nur | |
betroffener Häuser für die Reparatur des Vorkaufsrechts. | |
## Kaputtes Recht reparieren | |
Mit dem Vorkaufsrecht konnte der Bezirk in Milieuschutzgebieten Häuser | |
zugunsten eines öffentlichen Wohnungsunternehmens erwerben, wenn private | |
Investoren auf Betongold-Shopping-Tour Wohnraum kaufen wollten. Abwenden | |
konnten Käufer*innen diesen Eingriff des Bezirks nur, wenn sie sich für | |
einen bestimmten Zeitraum auf soziale Ziele wie den Verzicht auf | |
Luxusmodernisierungen oder Umwandlung in Eigentum verpflichten und eine | |
sogenannte Abwendungsvereinbarung unterzeichneten. Allein | |
Friedrichshain-Kreuzberg mit seinem umtriebigen grünen Stadtrat Florian | |
Schmidt hat so in den vergangenen Jahren 2.800 Wohnungen gerettet. | |
Mit dem Urteil ist das Vorkaufsrecht praktisch kaputt. Das | |
Bundesverwaltungsgericht schaffte die bisherige Praxis zugunsten der | |
Kapitalinteressen und wider soziale Realitäten ab und kassierte damit die | |
bisherige Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte ein, die das Baugesetzbuch | |
und das Vorkaufsrecht zugunsten von Mieter*innen interpretiert hatten. | |
Die genaue Urteilsbegründung steht noch aus, aber sicher ist: Die | |
Mieter*innen, deren Kämpfe andauern oder bei denen noch Widersprüche und | |
Klagen laufen, haben verloren. | |
Berlin versucht immerhin, das Vorkaufsrecht wiederzubeleben: Der | |
rot-rot-grüne Senat forderte umgehend, das Baulandgesetzbuch zu | |
überarbeiten, und hat am Freitag [2][eine Bundesratsinitiative | |
eingebracht], um das Gesetz nachzuschärfen. Aber weil die CDU in vielen | |
Ländern regiert und die FDP Teil der Ampelkoalition ist, bleibt bis auf | |
Weiteres unklar, inwiefern das tatsächlich auch geschehen wird. Laut einer | |
eher vagen Formulierung im [3][Koalitionsvertrag will Rot-Grün-Gelb] aber | |
zumindest „prüfen“, inwiefern sich aus dem Urteil „Handlungsbedarf ergib… | |
Deutlich besserer Stimmung sind nach dem Urteil hingegen Anwält*innen | |
der Immobilienwirtschaft. In einem Newsletter fordert etwa die [4][Kanzlei | |
Seldeneck und Partner] ihre Klient:innen bereits dazu auf, | |
„abgeschlossene Abwendungsvereinbarungen auf ihre Gültigkeit prüfen zu | |
lassen“. Zwischen den Zeilen lässt sich erahnen, dass man sich schon die | |
Hände reibt beim Gedanken daran, die von Mieter*innen und Bezirken | |
mühsam errungenen Sozialstandards wegzuklagen. | |
## Wenig Hoffnung für aktuelle Vorhaben | |
Michael Plöse, Verwaltungsrechtler mit Interessensschwerpunkt für kommunale | |
Selbstverwaltung, stimmt mit dieser Kanzlei nur in einem Punkt überein: | |
„Bestehende Vereinbarungen werden Gegenstand einer juristischen | |
Schlammschlacht, an der vor allem Juristen verdienen.“ Plöse ist Mitglied | |
beim Republikanischen Anwält*innenverein RAV, und auch aus seiner | |
Sicht könnte Mieter*innen in Milieuschutzgebieten vor allem eine | |
schnelle gesetzliche Regelung helfen. Für diejenigen, deren Verfahren wie | |
bei einigen im Vorkaufsrat in der Schwebe ist, hat er leider wenig | |
Hoffnung, letztlich hänge dies vom Einzelfall ab. | |
Hinsichtlich abgeschlossener Vorkäufe ist er aber zumindest der | |
Überzeugung, dass diese weiterhin Bestand haben werden, wenn keine | |
Widersprüche oder Klagen gegen deren Ausübung anhängig sind – die Berliner | |
Verwaltung sieht das ähnlich. Bei den Abwendungsvereinbarungen, die als | |
öffentlich-rechtliche Verträge geschlossen wurden, ist die Lage komplexer: | |
Da könne es laut Plöse sogar möglich sein, dass in Einzelfällen | |
langfristige Vereinbarungen zu Miethöhen und Umwandlungen in Eigentum | |
angreifbar sind. Von einer generellen Nichtigkeit der Vereinbarungen geht | |
Plöse allerdings nicht aus. Eine genaue Bewertung hänge letztlich von der | |
noch ausstehenden Urteilsbegründung ab. | |
Plöse sagt zum Urteil: „Hier wurde gefestigte Rechtsprechung umgekippt: Man | |
kann vor dem Entstehungshintergrund des Gesetzes eigentlich herauslesen, | |
dass der Gesetzgeber diese Auslegung nicht wollte“. Allerdings habe der | |
Gesetzgeber mit einem missverständlichen Wortlaut im Baugesetzbuch die | |
Steilvorlage für das Urteil gespielt, insofern sei der Beschluss | |
nachvollziehbar, wie Plöse auch einräumt. | |
Immerhin ließe sich die Ausübung des Vorkaufsrechts aber relativ leicht | |
wiederherstellen, so der Jurist. Man müsse im Gesetz verankern, dass es ein | |
Vorkaufsgrund ist, wenn abzusehen ist, dass Käufer*innen das Grundstück | |
aufwerten wollen. Den ersten Schritt dafür hat der Senat mit der | |
Bundesratsinitiative immerhin getan. | |
29 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Urteil-des-Bundesverwaltungsgericht/!5814508 | |
[2] https://twitter.com/wenkexin/status/1464173840020520982 | |
[3] https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_… | |
[4] https://seldeneckundpartner.de/aktuelles/meldung/kein-vorkaufsrecht-im-mili… | |
## AUTOREN | |
Gareth Joswig | |
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