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# taz.de -- Phänomen der verlorenen Handwärmer: Einsamer Handschuh
> Einen Handschuh zu verlieren ist schlimmer, als wenn eine Mütze fehlt.
> Denn es bleibt mit dem anderen etwas zurück, was noch funktionieren
> könnte.
Bild: Ein Handschuh geht gerne mal verloren
Handschuhe funktionieren nur als Paar. Wenn einer fehlt, sind sie sinnlos.
Sie erfüllen zumindest ihren Zweck nicht mehr, beide Hände zu wärmen.
Seitdem ich einmal einen Handschuh verloren habe, ist in mir ein ratloses
Gefühl, was ich mit dem Übriggebliebenen mache. Ich bringe es nicht übers
Herz und durch meinen Verstand ihn wegzuwerfen. Denn er funktioniert ja
noch gut. Theoretisch. Praktisch fehlt ihm der andere.
Mich berührt es, wenn ich auf Zaunspitzen aufgesteckt einzelne Handschuhe
sehe: Kinderhandschuhe, große Handschuhe. Als Kind wurden einem die
Handschuhe an Kordeln befestigt und durch die Ärmel der Jacke gezogen.
Erwachsen werden bedeutet das Zutrauen, groß genug zu sein, auf beide
Handschuhe aufzupassen.
Der Handschuh, den ich verloren habe, war grau, aus weichem Leder. Meine
engste Freundin hatte mir die Handschuhe zum Geburtstag geschenkt. Doch sie
waren zu groß. Sie hatte sie gegen eine kleinere Größe umgetauscht. Es
hatte sich gelohnt. Sie passten perfekt, waren warm und schön. Ich habe sie
geliebt.
Und dann vor einigen Jahren in einer Nacht in einer Bar in Hamburg habe ich
einen verloren. Am nächsten Morgen, einem kalten Sonntag, bin ich in die
Bar zurückgefahren. Sie war dunkel, der Boden klebte. Ich fragte eine
Reinigungskraft, ob sie einen Handschuh gefunden hätte. Sie schüttelte
stumm den Kopf.
Ich suchte den Boden ab und ging schließlich deprimiert nach Hause. Einen
Handschuh zu verlieren ist schlimmer, als wenn ein Schal oder eine Mütze
fehlt. Denn es bleibt mit dem anderen etwas zurück, was noch funktionieren
könnte, aber es einzeln nicht mehr richtig schafft. Das Gefühl des
Verlorenen geht mit dem des Alleingelassenen einher. Können einen Dinge
verlassen? Was macht man mit dem übriggebliebenen Stück eines Paars?
Vielleicht schmeißt man es am besten gleich weg.
## Eine Erinnerung und ein Zeugnis
Den Handschuh von meiner Freundin kann ich nicht wegwerfen. Er erinnert
mich zu sehr an meine Freude über das Geschenk, ihre Mühe damit. Noch heute
liegt er in der Kommode. Eine Erinnerung. Und ein Zeugnis.
Seitdem passe ich auf Handschuhe auf. Zu Beginn der kalten Jahreszeit bin
ich darin sehr erfolgreich: Letztens stand eine Frau in der Bäckerei an.
Als sie an der Reihe war, wuchtete sie ihre Tasche auf die Ablage vor der
Glasauslage. Als sie gehen wollte, sah ich unter der Ablage einen Handschuh
liegen: Schwarze Wolle, weiß gemustert, robust. Eigentlich passte er nicht
zu ihr. Doch ich konnte die Möglichkeit nicht verstreichen lassen: „Ist das
ihr Handschuh?“. „Ja.“ Sie bückte sich schnell, als würde er gleich wie…
verschwinden. Sie verstaute ihn, bedankte sich und drehte sich dann wieder
um: „Danke“, sagte sie nochmal. Ich verstand das zweite Danke. Etwas zu
gewinnen, was man fast schon verloren hat, macht es besonders kostbar. Der
Moment des „es ist gerade nochmal gut gegangen“ ist auf besondere Weise
erleichternd. Beschützend.
Nur zwei Tage später trat ich im Dunkeln auf die Straße. Ein neongelber
Mann räumte sein Fahrrad vom Bürgersteig eine steile Treppe hinunter in den
Keller. Da sah ich einen Handschuh oben am Treppenabsatz liegen. Er musste
ihm gehören: „Entschuldigen Sie“, rief ich. „Ihr Handschuh“. „Oh!“…
aus dem Keller und blickte gleichzeitig erleichtert und erschrocken.
Er streckte seine Hand zu mir nach oben aus: „Wirf einfach!“ Schade, dass
Handschuhe keine Geräusche machen. Es hätte beim Fangen ein perfektes Klick
ergeben. Oder ein Klong. Wir lächelten. Ein Moment, der geklappt hat. In
dem etwas einzelnes zusammen kam. Nichts war verloren. Wir schauten dem
wunderbaren Phänomen des nur knapp Verlorenen, des Behaltenen zu.
27 Nov 2021
## AUTOREN
Christa Pfafferott
## TAGS
Kolumne Zwischen Menschen
Auf die Mütze
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