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# taz.de -- Kleinparteien in den Bezirken: Vom Hühnerhof in die BVV
> In vier Bezirksverordnetenversammlungen sitzt seit der Wahl die
> Tierschutzpartei – in Marzahn-Hellersdorf erstmals in Fraktionsstärke.
Bild: Erst Grüne, jetzt erste Fraktionsvorsitzende der Tierschutzpartei: Inka …
„Komm zurück, Bommelchen“, sagt Inka Seidel-Grothe und zeigt auf ihren
Hühnerhof. Bommel ist ein Huhn und hat sich beim Füttern in den Garten
geschlichen. Die 58-jährige Biesdorferin Seidel-Grothe macht mit ihren
Hühnern pädagogische Projekte in Kitas und Grundschulen. Und sie hat seit
Kurzem einen weiteren Job: als Fraktionsvorsitzende der Tierschutzpartei in
der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Marzahn-Hellersdorf.
Am 26. September wurde die Partei, die eigentlich „Mensch Umwelt
Tierschutz“ heißt, in Lichtenberg, Treptow-Köpenick, Spandau und
Marzahn-Hellersdorf in die BVV gewählt. Das wurde möglich, weil in den
Bezirksparlamenten eine Dreiprozenthürde gilt. Einzig in
Marzahn-Hellersdorf kletterte die 1993 gegründete [1][Tierschutzpartei über
die Fünfprozenthürde] und hat damit dort Fraktionsstatus. Inka
Seidel-Grothe ist damit die erste Fraktionsvorsitzende der Tierschutzpartei
– bundesweit.
„Das fühlt sich ein bisschen an wie die Gründung einer Firma“, sagt die
Politikerin der taz. „Ich führe gerade Bewerbungsgespräche für
Fraktionsmitarbeiter.“ Bei der Gestaltung der Arbeitsverträge kann sie
nicht auf Erfahrungen ihrer eigenen Partei zurückgreifen und muss sich von
anderen Parteien Tipps holen.
Doch diese Zusammenarbeit läuft ziemlich gut. Denn in Marzahn-Hellersdorf
sind SPD, Linke und Grüne für die Bildung einer Zählgemeinschaft auf die
Tierschützer angewiesen. Gemeinsam wollen sie den SPD-Politiker Gordon Lemm
zum Bürgermeister machen – statt [2][der Kandidatin der eigentlich
stärkeren CDU.]
## „Wir sind die Dunkelgrünen“
Es sind vor allem ökologische Inhalte, die die Tierschutzpartei in die
Zählgemeinschaft einbringt: Bäume sollen nicht für Straßenerweiterungen
gefällt werden, Wohnbebauung nicht weiter zulasten der Umwelt verdichtet
werden. „Wir sind die Dunkelgrünen“, sagt Seidel-Grothe.
Vor vier Jahren hatte Seidel-Grothe für die Grünen für den Bundestag
kandidiert. Anfang 2021 wechselte sie die Partei, weil die Grünen dem
Klimaschutz nicht die Priorität einräumen, die sie sich gewünscht hatte,
sagt sie. Damit gehört die 58-Jährige innerhalb der Tierschutzpartei zu den
wenigen Mitgliedern mit parteipolitischen Erfahrungen und wurde auch gleich
in den Landesvorstand gewählt.
„Die meisten Mitglieder sind sehr jung, sie kommen aus der Straßenarbeit
zum Thema Tierschutz und Tierrechte“, sagt sie. 150 Mitglieder hat die
Tierschutzpartei mittlerweile in Berlin. Vor einem Jahr waren es erst 100.
Im Wahlkampf war die Partei über Plakate sehr präsent, in einigen
Stadtteilen dominierten die Plakate der Tierschutzpartei sogar.
Seidel-Grothe: „Wir haben bewusst auf Plakate gesetzt. Wir wollten zeigen:
Uns gibt es auch. Medienarbeit und Infostände hätten unsere Kapazitäten
überfordert.“ Die Plakate seien von Mitgliedern selbst geklebt worden, es
wurde keine Firma beauftragt. Den Druck haben die Bundespartei und
Sponsoren unterstützt.
Warum haben gerade Menschen am Stadtrand die Tierschutzpartei gewählt? Die
Fraktionsvorsitzende hat darauf eine Antwort: Man sei da stark, „wo die
Grünen schwach sind. Den Menschen am Stadtrand ist die Umwelt wichtig, aber
einige können mit den anderen Themen der Grünen nicht viel anfangen. Da
halten sie vieles für versponnen.“ Gendersprache werde gerade im Osten eher
abgelehnt. „Den Leuten hier ist ihr Kleingarten und die grüne Brache vor
dem Haus wichtiger als ein Club. Als ich noch bei den Grünen war, habe ich
gesagt, wir müssen am Stadtrand anderen Wahlkampf machen. Aber das konnten
die Kreuzberger nicht nachvollziehen.“
Viele Wähler der Tierschutzpartei seien aber auch frustrierte Nichtwähler,
sagt Seidel-Grothe. Die Erfahrung hätten sie und ihre Mitstreiter gemacht,
als sie um Unterstützerunterschriften warben und dabei mit Leuten ins
Gespräch kamen. „Da wurde oft gesagt, bei Tieren könne man nichts falsch
machen.“ Dazu kämen Tierhalter und Tierschützer.
Aber vielleicht ist der Einzug der Tierschutzpartei in vier
Bezirksparlamente auch nur eine Modeerscheinung? Seit 2001 die Hürde für
den Einzug in eine BVV von 5 auf 3 Prozent gesenkt wurde, ziehen immer
wieder neue Parteien dort ein, bisher nur für jeweils eine oder zwei
Wahlperioden. Und das sind durchaus nicht nur Parteien vom rechten Rand.
Den Anfang machte 2001 die Stattpartei. Weil sich viele WählerInnennahe dem
künftigen BER beim Thema Fluglärm nicht im Parteienspektrum vertreten
fühlten, zogen die Flughafengegner von der Stattpartei in die BVV von
Treptow-Köpenick. Fünf Jahre später, 2006, zog die Seniorenpartei Die
Grauen in acht, die Linken-Vorgängerpartei WASG in sieben Bezirksparlamente
ein. Davon sprach aber damals niemand, denn auch die rechtsextreme NPD war
in vier Bezirksparlamente gewählt worden, die Republikaner in eine weitere.
2011 war dann das Jahr der Piratenpartei. Sie errang nicht nur im
Abgeordnetenhaus, sondern auch in allen BVVen Mandate. Die NPD zog
wiederholt in vier Bezirksvertretungen, allerdings mit weniger Verordneten.
2016 bedeutete das Aus für die NPD, die Piraten waren nur noch in Mitte und
Friedrichshain-Kreuzberg vertreten, da außerdem auch die Satirepartei Die
Partei. In allen Bezirken zog aber 2016 die AfD in Fraktionsstärke in die
Parlamente, [3][in mehreren Bezirken stellte sie Stadträte]. 2021
schrumpften die AfD-Vertretungen.
Oliver Igel, Bürgermeister in dem von Kleinparteien besonders geliebten
Bezirk Treptow-Köpenick, sagt der taz, die Präsenz kleiner Parteien könne
die stabile Mehrheitsfindung in der BVV erschweren. „Bei uns war das noch
nicht der Fall. Für die Zukunft ist das aber nicht auszuschließen.“
Zusammenarbeit würde es aber geben, ausgenommen mit Rechtsextremisten.
Laut Igel würden die „kleinen Parteien die in sie gesteckten Erwartungen
häufig nicht erfüllen. Auch die Bezirksverordneten kleinerer Parteien
hätten festgestellt, dass für die Kommunalpolitik Erfahrungen von Vorteil
seien. Allerdings hätten, so Igel, neue Bezirksverordnete kleiner Parteien
mitunter viel Engagement gezeigt. „Genau die haben sich dann den größeren
Parteien angeschlossen.“ So hätten ehemalige Piraten in verschiedenen
Parteien ihr Engagement fortgesetzt, und VertreterInnen der Stattpartei und
der Grauen aus Treptow-Köpenick bei den Linken.
5 Nov 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Marina Mai
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