# taz.de -- Negative Emissionen: Heil oder Hybris | |
> Mit Geoengineering gegen die Erderwärmung? Je weniger wir jetzt tun, | |
> desto unabwendbarer wird der Einsatz von Hochrisikotechnologien. | |
Im nächsten Jahrzehnt wird sich entscheiden, ob wir für das 21. Jahrhundert | |
eine Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 oder 2 Grad erreichen werden. So | |
spielt die Frage des Klimaschutzes eine besondere Rolle bei den laufenden | |
Koalitionsverhandlungen. Dabei fällt ein entscheidender Punkt unter den | |
Tisch: | |
Entweder sind wirklich radikale Klimamaßnahmen nötig oder aber | |
technologische Eingriffe in das Erdsystem oder zumindest extrem teure | |
Maßnahmen zur [1][CO2-Speicherung], die bisher niemand wirklich will – mit | |
Ausnahme der großen Global Players der fossilen Energieerzeugungsbranche | |
und ihrer liberalkonservativen Partner in der Politik. | |
Technologien wie [2][Geoengineering] kommen mangels radikaler | |
Klimaschutzprogramme durch die Hintertür in die politische Debatte und | |
werden bald als absolute Notwendigkeit erscheinen. Beim Geoengineering oder | |
auch Climate Engineering handelt es sich um großskalige technologische | |
Eingriffe, die von natürlichen Formen der Aufforstung bis hin zu | |
Science-Fiction-artigen Vorstellungen von Spiegeln im Weltall oder der | |
Simulation von Vulkanausbrüchen reichen. | |
Grundsätzlich lassen sich Methoden zur Reduzierung der Sonneneinstrahlung | |
von Methoden zur Reduzierung der CO2 Konzentration und marinen Formen des | |
Geoengineerings unterscheiden. Die meisten dieser Technologien existieren | |
bis dato nur in sehr kleinem Maßstab oder als Computer-Simulationen. Sie | |
stehen also nur als Wette auf zukünftige technologische Innovationen zur | |
Verfügung. | |
## Paris ist ohne Technologie illusorisch | |
Zudem ist seit 2010 ein zwischenstaatliches De-facto-Moratorium für große | |
Geoengineering-Experimente in Kraft. Die 193 Vertragsstaaten einigten sich | |
damals im Rahmen der Biodiversitätskonvention auf das Vorsorgeprinzip, und | |
demnach ist heute bereits die Erforschung von Geoengineering strengen | |
globalen Regularien unterworfen. Die Debatte wird noch komplexer, wenn man | |
sich die Modellrechnungen des Weltklimarats (Intergovernmental Panel on | |
Climate Change) von 2018 genauer ansieht. | |
Um die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, wird in nahezu allen | |
Szenarien der internationalen Klimaforscher:innen eine zusätzliche | |
Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre vorausgesetzt, da eine Reduzierung des | |
Ausstoßes alleine nicht ausreichen würde, um die [3][Pariser Klimaziele] zu | |
erreichen, wenn denn der nötige soziale Wandel weiterhin schleppend | |
verläuft. Übersetzt bedeutet das: | |
Es ist schon fünf nach zwölf. Ohne technologische Eingriffe werden wir es | |
nicht schaffen, die katastrophalen Folgen des Klimawandels zu bekämpfen. | |
Während weitgehend Konsens darüber besteht, dass [4][die Manipulation der | |
Sonneneinstrahlung keine gute Idee] ist, stützen sich Wissenschaft und | |
Politik vermehrt auf Technologien der unterirdischen CO2-Speicherung (CCS) | |
oder der Bioenergiegewinnung mit CO2-Speicherung (BECCS). | |
Bioenergiegewinnung und CO2-Speicherung bedeutet, dass Pflanzen CO2 | |
aufnehmen, diese dann zur Energiegewinnung verbrannt werden und das bei | |
diesem Prozess entstehende Kohlenstoffdioxid eingefangen und gespeichert | |
wird, bevor es wieder in die Atmosphäre gelangt. Die Parteien vertreten | |
unterschiedliche Positionen zu möglichen großen technologischen Eingriffen | |
in das Klima. | |
## FPD setzt auf deutsche Innovation | |
Während [5][die Linke] Carbon-Capture- und Storage-Technologien dezidiert | |
verbieten will, liebäugeln CDU und FDP mit „technologischem Fortschritt und | |
Innovation“ zur Lösung der Klimakrise. Der Wahlkampf der Liberalen | |
arbeitete sich dezidiert an dem Stichwort des,,[6][German Engineered | |
Klimaschutz]“ ab. Die Hoffnung ist, dass die deutschen Ingenieure es schon | |
richten werden mit dem Klimawandel. Die Grünen sind wiederum merkwürdig | |
unklar in ihren Äußerungen. | |
Ob nun Jamaika oder Ampel, die FDP wird mitregieren und die Erforschung und | |
den Einsatz der Technologien mit Nachdruck auf die politische Agenda | |
bringen. Am 18. Mai diesen Jahres haben Abgeordnete und die | |
Bundestagsfraktion der FDP im Bundestag den Antrag,,Für echten Klimaschutz | |
durch technologischen Fortschritt – CO2-Speicherung als Voraussetzung für | |
Klimaneutralität ermöglichen“ eingebracht, der fünf Wochen später abgeleh… | |
wurde. | |
Der Vorstoß der FDP deckt sich mit den Forderungen des Weltklimarats von | |
2018 nach negativen Emissionen. Was auf den ersten Blick wie eine | |
vielversprechende Antwort oder sogar Rettung aus der Klimakrise erscheint, | |
hält bei näherem Hinsehen kaum den Anforderungen an eine schnelle | |
Interventionsmaßnahme stand. So weisen zivilgesellschaftliche Akteure wie | |
die Heinrich-Böll-Stiftung, der Naturschutzbund (Nabu), Greenpeace – um nur | |
einige wenige zu nennen – seit Jahren auf die mit Geoengineering | |
verbundenen Risiken und Kosten hin. | |
Ganz abgesehen von der extremen Form des Solar Radiation Managements, die | |
auch in wissenschaftlichen Fachkreisen nur mit Vorsicht formuliert wird, | |
sind auch mit der Abscheidung und Speicherung von CO2 extreme Kosten und | |
Risiken verbunden. Prominente Argumente gegen Carbon Capture and Storage | |
zielen auf den gesteigerten Verbrauch an fossiler Energie ab, da die | |
riesigen Anlagen Berechnungen zufolge zu einem Anstieg des fossilen | |
Energiebedarfs um circa 40 Prozent beitragen würden. | |
## CO2-Speicherung braucht Energie | |
Solange die Energieversorgung noch nicht komplett auf regenerative Energien | |
umgestellt ist, würde der Einsatz von Carbon-Capture-Technologien den | |
Bedarf an fossilen Ressourcen sogar erhöhen, da die riesigen Anlagen einen | |
enormen Energiebedarf haben. Es muss also mehr Kohle abgebaut werden, um | |
CO2 zu reduzieren. Das klingt paradox und sollte uns wirklich zum | |
Nachdenken anregen, ob der Weg, den wir gerade gehen, nicht doch in eine | |
absolut falsche Richtung führt. | |
Die Kostenfrage (circa 10 Milliarden Euro Anschubfinanzierung in der EU, | |
laut einem Bericht von McKinsey aus dem Jahr 2008), aber auch die Frage | |
nach geeigneten Endlagerstätten stellen ein weiteres Problem dar. | |
Greenpeace kommt zu dem Schluss, dass die Gefahr eines Austritts an CO2 | |
durch mangelnde Überwachung der Endlagerstätten oder ungeeignete | |
Lagermöglichkeiten, eine ernstzunehmende Gefahr für die Bevölkerung | |
darstelle. | |
In einer Evaluation des Weltklimarats von 2018 stellt das Umweltbundesamt | |
fest, dass für Bioenergiegewinnung und CO2-Speicherung eine Fläche, die | |
17-mal so groß wie Deutschland ist, benötigt würde. Zu den Kosten und der | |
Unplanbarkeit der Umsetzung tritt also der Konflikt um Flächennutzung für | |
die Nahrungsmittelproduktion hinzu. | |
Wer will sich gerne mit der Frage konfrontiert sehen, ob in Zukunft weniger | |
Nahrungsmittel produziert werden können, damit man die CO2-Altlasten der | |
2020er Jahre loswird? Wollen wir weitermachen wie bisher und dann in nicht | |
allzu ferner Zukunft extreme Einschränkungen in Kauf nehmen? | |
## Kein Grund zur Entwarnung | |
Bei all den Verbotspolemiken, die nicht nur die Grünen über sich ergehen | |
lassen mussten, bleibt die realistische Einsicht, dass wir entweder jetzt | |
einen Teil unserer individuellen Konsum- und Lebensrealität ändern müssen | |
oder eben in ein paar Jahren drastische autoritative staatliche Maßnahmen | |
auf uns zukommen, wie jüngst auch das Verfassungsgericht herausstellte. | |
Viele der beteiligten Forscher:innen weisen auf ein Dilemma hin: | |
Einerseits müssen Geoengineering-Technologien frühzeitig erforscht werden, | |
um als Notfallmaßnahmen zukünftig einsatzbereit zu sein. Auf der anderen | |
Seite wird gewarnt, dass bereits die vage Möglichkeit einer technologischen | |
Lösung die globalen Anstrengungen der CO2-Reduzierung erheblich bremsen | |
könnte. Dass diese Befürchtung nicht unrealistisch ist, zeigt der Blick auf | |
die FDP. | |
Ein „Weiter so“ in der Klimapolitik sollte aus unserer Sicht dennoch in | |
jedem Fall vermieden werden. Denn so hart und unangenehm es auch klingen | |
mag, es wird keine einfache technologische Wunderheilung der Klimakrise | |
geben. Und doch arbeitet die Zeit für Geoengineering. Mit jedem Jahr, in | |
dem der globale Ausstoß an Treibhausgasen nicht massiv verringert wird, | |
wird es notwendiger, in der Zukunft negative Emissionen zu generieren. Es | |
läge nicht zuletzt an den Grünen, schlaue Gegenentwürfe zu präsentieren. | |
Geoengineering sollte als Chance und Risiko offen und unvoreingenommen in | |
Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft diskutiert werden. Andernfalls | |
wird es als nichtintendierte Folge der bisherigen gescheiterten | |
Klimapolitik Realität werden. Die Skepsis gegenüber großen technologischen | |
Eingriffen wird von den meisten Parteien als links-grüne und | |
rückwärtsgewandte Technikverdrossenheit gewertet. | |
## Offene Debatte über Chancen und Risiken | |
Wenn wir aber die Lektion beispielsweise aus Fukushima verinnerlicht haben, | |
dann müssen wir bei der Einführung von auf den ersten Blick | |
vielversprechend erscheinenden Innovationen immer die wirtschaftlichen und | |
gesellschaftlichen Kosten sowie die potenziellen Nebenfolgen bedenken. | |
Vor gut 40 Jahren formulierte der deutsch-amerikanische Philosoph Hans | |
Jonas das „Prinzip Verantwortung“ und entwickelte damals das | |
ethisch-politische Prinzip, dass Unheilsprophezeiungen mehr Gehör zu | |
schenken sei als Heilsversprechen. Vielleicht ist das nicht die | |
schlechteste ethische Maxime für die kommenden Jahre. Die einseitige | |
Debatte über eine vermeintliche Verbotskultur verstellt den Blick auf | |
gesellschaftliche Lernprozesse. | |
So halten wir es heute zum Beispiel für selbstverständlich, dass wir uns im | |
Auto anschnallen. Diese Entwicklung beruht auf der Einsicht, dass die | |
Gurtpflicht Leben rettet. Es gibt bis heute keine dauerhaften | |
Endlagerstätten für atomaren Müll. Wollen wir den Technologien der | |
unterirdischen Verpressung von CO2 Vertrauensvorschub leisten? Oder wird es | |
noch ein weiterer Stoff sein, den wir nicht ausreichend sicher lagern | |
können? | |
Wir sollten aus unseren Fehlern der Vergangenheit lernen und die logischen | |
Schlüsse aus den Erfahrungen ziehen. Wenn Geoengineering-Technologien | |
eingesetzt werden sollen – was gerade unausweichlich erscheint –, muss eine | |
ehrliche öffentliche Debatte über Chancen und Risiken, Kosten und Nutzen | |
erfolgen, die über vermeintliche Verbots-Polemiken weit hinausgeht. | |
14 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Speicherung-von-Kohlendioxid/!5139041 | |
[2] /Buch-ueber-Geo-Engineering/!5135615 | |
[3] /5-Jahre-Pariser-Klimaschutzabkommen/!5734348 | |
[4] https://twitter.com/GretaThunberg/status/1360564476819501056 | |
[5] https://www.dielinke-europa.eu/de/topic/1099.ccs-carbon-capture-storage.html | |
[6] https://www.fdp.de/german-engineered-klimaschutz | |
## AUTOREN | |
Iris Hilbrich | |
Frank Adloff | |
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