# taz.de -- Fußballkarriere der anderen Art: Große Kunst in der Provinz | |
> Die Laufbahn von Marc Schnatterer ist einzigartig. Aus Heidenheim und der | |
> Zweiten Liga war er nicht wegzudenken. Nun spielt er drittklassig groß | |
> auf. | |
Bild: Marc Schnatterer bereichert gerade das Offensivspiel von Waldhof Mannheim | |
Vierzehn Spiele hat Marc Schnatterer jetzt schon für den Waldhof gemacht, | |
aber trotzdem zucke ich jedes Mal kurz zusammen, wenn in der | |
Drittligakonferenz sein Name fällt. Es ist nicht dramatisch, eher so, als | |
wenn ein Regentropfen direkt auf dem Nasenrücken landet. | |
Er tut ja eigentlich auch alles dafür, dass man sich gut daran gewöhnen | |
kann: vier Tore hat er gemacht in der Liga bisher, drei aufgelegt, und vor | |
allem: mit ihm und Adrien Lebeau sind eine gewisse Zielstrebigkeit und | |
Entschlossenheit in die Mannheimer Offensive eingekehrt, die letztes Jahr | |
doch bisweilen etwas unkoordiniert gewirkt hatte. Marc Schnatterer hält das | |
jetzt alles sehr ordentlich zusammen, und der Waldhof steht auf Platz fünf | |
aktuell. | |
Marc Schnatterer hat gefühlt seit Inbetriebnahme des Atomkraftwerks | |
Philippsburg [1][für den FC Heidenheim] gespielt, dabei mehrere hundert | |
Freistöße fachgerecht in irgendwelche Winkel und Flanken auf die Scheitel | |
seiner Mitspieler gezirkelt. Die Mitspieler kamen und gingen, Schnatterer | |
blieb. Angebote gab es sicher zuhauf, aber das hat ihn nicht sonderlich | |
interessiert. Manchmal wären sie fast in die Bundesliga aufgestiegen, es | |
hat dann immer knapp nicht geklappt, naja. Muss ja auch nicht sein. | |
Wie kann das sein? Und dann auch noch ausgerechnet Heidenheim; eine Stadt, | |
der ein ganzer Abschnitt in ihrem Wikipedia-Artikel gewidmet ist zu der | |
Frage, ob die „86“ in ihrem Wappen nun 1386 bedeutet oder 1486. Wie macht | |
man das, jahrzehntelang am nördlichen Ende der schwäbischen Alb | |
auszuharren, in einer Stadt, die heute noch ein Rommel-Denkmal duldet? Und | |
dann, wenn man sich mal verändert, zieht man einfach 220 Kilometer weiter, | |
in eine Stadt, die über einen Ort verfügt, den man „Hauptbahnhof“ nennt. | |
## Nazi-Geschichten und Dorf-Komödien | |
Wo werden solche Lebensläufe noch erzählt? Vielleicht gibt es einen | |
provinicial turn in der aktuellen Literatur, aber Charaktere wie Marc | |
Schnatterer sind dann häufig die Nebenfiguren. Die zahllosen | |
Protagonist*innen der Coming of Age-Romane ziehen alle irgendwann | |
hinaus in die Welt, und diese Welt endet selten in Mannheim. Es gibt auch | |
jene Romane von den Stadtflüchtigen, die hinaus in die beruhigend reizarme | |
Provinz flüchten, und wenn diese Provinz [2][das Zehsche Brandenburg ist], | |
lernen sie schnell, dass sie ja doch ganz gut zurechtkommen mit Nazis. | |
Es gibt die Dorf-Komödien wie Rita Falks Eberhofer-Krimis, die aber nur | |
deswegen funktionieren, weil der Protagonist es in München halt eben nicht | |
geschafft hat; sein Träume und Ambitionen eben doch zerplatzt sind, und er | |
sich jetzt grimmig und bockig in seine Rolle als Dorfsheriff fügt, mit | |
bitterem Witz und robustem Magen. Es gibt die zahllosen Krimis, die das | |
Düstere, Geheimnisvolle, Bedrohliche der Provinz zelebriert; ständig wird | |
eine Leiche im Wald gefunden, den das Dorf umgibt: der Wald als rechtloser | |
Raum, in dem die schiere, unkontrollierbare Gewalt haust, wie schon in den | |
mittelhochdeutschen Versromanen. | |
Sicher, diese Aufzählung über Provinzerzählungen ist nur ein kleiner | |
Ausschnitt; nichtsdestotrotz scheint mir, ist eine Biografie wie jene von | |
Marc Schnatterer nur im Sport ein eigener Stoff. Gäbe es Romane über | |
Fußballspieler, dann vermutlich eher über jemanden wie Jeremy Dudziak, | |
ausgebildet unter anderem bei Schalke 04, Profidebüt bei Borussia Dortmund, | |
danach vier Jahre St. Pauli und anschließend der Wechsel zum Hamburger SV. | |
Inzwischen spielt auch er in der Provinz, bei Greuther Fürth; und natürlich | |
könnte es weiß Gott besser laufen. Das klingt eher nach einem Plot für eine | |
Miniserie. | |
Aber bei Marc Schnatterer? In dem Fall ist der Fußball keine erzählende, | |
sondern eine bildende Kunst; die Ausstellung konzipiert sich ganz von | |
selbst. Ein paar Schuhe und Trikots, eine Videoinstallation, die – | |
kunstvoll zusammengeschnitten – all seine Freistöße zeigt, und so weiter. | |
Ganz zum Schluss ein Gemälde: Marc Schnatterer, wie er Pfeife rauchend | |
seine akkurat geschnittene Hecke betrachtet, in der ein Igel döst. | |
18 Nov 2021 | |
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## AUTOREN | |
Frédéric Valin | |
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