# taz.de -- Die Wahrheit: Beleidigtes Gruselkabinett | |
> Mit 17 knetete sie einst ihre erste Wachsfigur – Madame Tussauds | |
> Marketing-Idee begann. Eigentlich war die Dame eine Straßburger | |
> Henkerstochter… | |
Sie wäre jetzt im Dezember 260 Jahre alt geworden, aber Maria Grosholtz, | |
die Henkerstochter aus Straßburg, ist nur 88 Jahre alt geworden. Bekannt | |
geworden ist sie unter dem Namen Madame Tussaud. Mit 17 hat sie ihre erste | |
Wachsfigur geknetet – ein lebensgroßes Modell von Voltaire. Doch mit dem | |
Ausbruch der Napoleonischen Kriege im Jahr 1800 blieb die Kundschaft aus. | |
Marie Tussaud – sie hatte inzwischen den Ingenieur François Tussaud | |
geheiratet, zwei Söhne bekommen und sich von ihrem trunksüchtigen Ehemann | |
wieder scheiden lassen – zog deshalb 33 Jahre lang mit ihren Figuren durch | |
England und Irland. Sie kehrte nie mehr nach Frankreich zurück, sondern | |
eröffnete 1835 in London ein Wachsfigurenkabinett. Heute gibt es weltweit | |
21 Niederlassungen. Mit 81 Jahren fertigte sie ihre letzte Wachsfigur an – | |
ein Selbstporträt. 1850 starb Marie Tussaud in London. | |
Einmal musste das Wachsfigurenkabinett Schadensersatz zahlen, aber das war | |
lange, lange nach Marie Tussauds Tod. Ein Alfred John Monson war 1893 des | |
Mordes angeklagt worden. Er hatte für die wohlhabende Hambrough-Familie als | |
Hauslehrer gearbeitet. 1893 pachtete er das Ardlamont-Gut in der | |
schottischen Grafschaft Argyll für die Jagdsaison. Am 10. August 1893 nahm | |
er seinen 20-jährigen Schüler Dudley Cecil Hambrough mit auf die Jagd. Dann | |
fiel ein Schuss. Monson behauptete, Hambrough habe sich versehentlich | |
selbst erschossen: Als er über einen Zaun geklettert sei, habe sich der | |
Schuss gelöst. Die Polizei glaubte Monson zunächst. | |
Doch zwei Wochen später versuchte der Trottel, zwei Lebensversicherungen | |
über 20.000 Pfund, die Hambrough angeblich sechs Tage vor seinem Tod | |
zugunsten von Monsons Frau abgeschlossen hatte, einzulösen. Da wurde sogar | |
die Polizei misstrauisch und erhob Mordanklage. | |
## Ein Viertelpenny als Schmerzensgeld | |
Joseph Bell war Zeuge dieser Anklage. Als forensischer Detektiv war er das | |
Vorbild für Arthur Conan Doyles Kunstfigur Sherlock Holmes, der in der | |
Londoner Baker Street wohnte, wo auch Madame Tussauds erstes | |
Wachsfigurenkabinett lag. Bell sagte aus, dass er davon überzeugt sei, | |
Monson habe Hambrough ermordet. Doch John Comrie Thomson, dem damals | |
berühmtesten Anwalt Schottlands, gelang es, genügend Zweifel bei den | |
Geschworenen zu säen, dass sie das Urteil „nicht bewiesen“ fällten. | |
Die Erben von Madame Tussaud scherte das nicht. Sie platzierten eine | |
Wachsfigur von Monson mit einem Gewehr am Eingang zum Gruselkabinett, wo | |
Mörder und andere unappetitliche Figuren versammelt waren. Dieses Kabinett | |
wurde vor fünf Jahren geschlossen und durch das „Sherlock Holmes | |
Experience“ ersetzt. | |
Monson klagte damals und gewann. Es war ein Präzedenzfall. Fortan musste | |
eine Beleidigung nicht schriftlich erfolgen, sondern jemand durfte sich | |
auch durch eine versteckte Anspielung verunglimpft fühlen. Monson konnte | |
seinen Erfolg aber nicht genießen. Er bekam lediglich ein Farthing, also | |
ein Viertelpenny, Schmerzensgeld. | |
15 Nov 2021 | |
## AUTOREN | |
Ralf Sotscheck | |
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