# taz.de -- Erster Roman von Edgar Selge: Kerben und Narben | |
> Edgar Selge erzählt in seinem ersten Roman von strengen Eltern, Schlägen | |
> in der Kindheit, vom Verdrängen und Verzeihen. Buchvorstellung in Berlin. | |
Bild: Edgar Selge ist mit seinem ersten Roman auf Lesetour | |
Wer mal Dieter Tauber gesehen hat, wird ihn vermissen. [1][Edgar Selge hat | |
diesen knarzigen, schmallippigen Fernsehkommissar] gespielt, dem ein Arm | |
fehlte. Nach zehn Jahren im Sonntagskrimi hatte Selge keine Lust mehr auf | |
Tauber, er wollte nicht mit ihm in Rente gehen. [2][Auf der Bühne] spielte | |
er damals den Dorfrichter Adam in „Der zerbrochene Krug“, auch am Berliner | |
Gorki, eindrucksvoll von der ersten Minute an. Selge stand splitternackt | |
auf dem Garderobentresen im Eingang und zeigte mit jeder Faser, dass seine | |
Figur anders aussieht als die vieler berühmter Vorgänger. Und jetzt ein | |
Buch, sein erstes. | |
Selge erzählt aus der Perspektive des 12-jährigen Edgar von einer Kindheit | |
in den fünfziger, sechziger Jahren. Edgar und seine vier Brüder wachsen im | |
westfälischen Herford auf, direkt neben dem Jugendknast. Der Vater ist | |
Gefängnisdirektor und außerdem ein begeisterter Pianist. Stundenlang sitzt | |
er am Klavier, und wenn er schon nicht spielen kann, dann hört er | |
wenigstens zusammen mit Frau und Kindern Schallplatten: Brahms, Schumann, | |
Beethoven. Am Wochenende liest er vor, Dostojewski zum Beispiel. | |
Edgar mag dieses familiäre Miteinander. Aber er soll sich benehmen, wenn er | |
nicht spurt, fliegt er raus. Wenn er zudem die lateinischen Verbformen | |
nicht runterschnurren kann wie verlangt, klatschen die Ohrfeigen. | |
Regelmäßig muss er sich über die Bettkante beugen, damit der Vater mit dem | |
Rohrstock zuschlagen kann. Er tobt sich an Edgar aus, die größeren Brüder | |
rührt er nicht mehr an. | |
Edgar Selge hat jahrelang an diesem Buch gearbeitet, er hat sich in diesen | |
Jungen hineinversetzt, der ihm so ähnlich ist – selbst wenn die ein oder | |
andere Szene literarisiert ist. Das ist ein großer Gewinn – man liest sich | |
mitten ins Geschehen, weil das Erleben des Jungen so hautnah und bildhaft | |
beschrieben ist. | |
## Er beobachtet, wie sich die Wut des Vaters entwickelt | |
Edgar entwickelt eine Strategie: er studiert seinen Vater eingehend, er | |
beobachtet, wie dessen Wut sich entwickelt, steigert und entlädt. Er | |
fantasiert sich gedanklich heraus aus der Opferrolle und gewinnt an Stärke. | |
Gegen den hohen moralischen Anspruch der Eltern wehrt er sich, indem er das | |
Kinogeld klaut und lügt. Er wird ein Regelbrecher, der sogar die | |
angehimmelte Mitschülerin mit Kakao überschüttet. Man versteht diesen Edgar | |
und wird an längst vergessene Fiesheiten aus der eigenen Kindheit erinnert. | |
Einmal im Jahr werden ausgewählte Gefangene zur Hausmusik eingeladen. Sehr | |
witzig beschreibt Edgar Selge, wie sie die Einrichtung begutachten. Einer | |
hat das Buffet gezimmert, sein Gesellenstück, ein anderer die Noten | |
gebunden, und der Dritte hat den Tisch gebaut. Das wird eine Zitterpartie | |
für Edgar. Denn er hat mit seinem neuen Fahrtenmesser an der Tischplatte | |
eine Kerbe hinterlassen, nicht unabsichtlich, und der Gefangene fragt ihn | |
drohend, wer das war. | |
## Es darf doch nicht alles schlecht gewesen sein | |
Die Eltern verfolgen ein strammes Erziehungsprogramm, sie wollen, dass die | |
Kinder übernehmen, was ihnen selbst heilig ist. Nach und nach wird | |
deutlich, wie sehr sie der Vergangenheit verhaftet sind. Es darf doch nicht | |
alles schlecht gewesen sein, was ihnen mal als großartige Zukunft vor Augen | |
stand. | |
Sie sehen, wohin ihre nationalsozialistische Ideologie geführt hat, und | |
wollen es doch nicht wahrhaben. Rigoros bestrafen sie, wenn Edgar sich in | |
Ausreden flüchtet, aber die eigenen Lügen und Irrtümer kaschieren sie | |
verbissen. Die älteren Söhne fordern die Eltern heraus – ein Fest für | |
Edgar, er liebt die explosive Stimmung beim Sonntagsbraten und genießt das | |
Türenknallen, wenn den Eltern die Argumente ausgehen. | |
Immer wieder reflektiert Edgar Selge in wenigen Sätzen, was ihm jetzt mit | |
Anfang 70 beim Schreiben wieder hochkommt, was er körperlich spürt. „Ich | |
will nicht zugeben, von jemandem geschlagen zu werden, den ich liebe. Und | |
noch weniger will ich zugeben, dass seine Schläge meine Liebe nicht | |
ausgelöscht haben. Ich will nicht einer sein, der den liebt, der ihn | |
schlägt.“ | |
Selge schont sich nicht und auch nicht den Vater. Wie er sich den eigenen | |
Gefühlen stellt, offen, unaufdringlich, manchmal komisch, das macht dieses | |
Buch so lesenswert. Beim Blick in den Spiegel sieht er seinen Vater und | |
nimmt hin, dass er selbst einen Teil von ihm in sich trägt. | |
In einem Interview mit dem SZ-Magazin antwortet Selge auf die Frage, ob er | |
dem Vater verziehen habe, dass er von ihm auch sexuell bedrängt wurde. | |
„Nicht verzeihen zu können finde ich ein trauriges Schicksal. Das passt | |
weder zu dem Kind im Buch noch zu mir.“ Hoffentlich erzählt er bei seinem | |
Auftritt in Berlin, wie er zu diesem Vermögen gekommen ist. Die Lesung | |
könnte ein Erlebnis werden. | |
11 Nov 2021 | |
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## AUTOREN | |
Claudia Ingenhoven | |
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