# taz.de -- US-Blick auf deutsche Politik: Müssen Kanzler Langweiler sein? | |
> Dass ein Kandidat wie Olaf Scholz Regierungschef wird, wäre in den USA | |
> undenkbar. Unsere Autorin wundert sich über die Systemunterschiede. | |
Bild: Der Scholzomat: Olaf Scholz feiert am 27. September mit Blumenstrauß den… | |
BERLIN taz | Eines hat mich als amerikanische Journalistin, die die Wahlen | |
in Deutschland beobachtet hat, schockiert: Wie … nun ja … öde die | |
Kandidatinnen waren. Kein Wunder, dass Olaf Scholz hier auch „der | |
Scholzomat“ genannt wird. Erstaunlich, wie beherrscht er und die anderen | |
Gäste sogar in der TV-Elefantenrunde am Wahlabend geblieben sind – während | |
die Hochrechnungen gleichzeitig immer dramatischer wurden. | |
Image, Charakter und Persönlichkeit der Kandidaten scheinen in Deutschland | |
nicht so sehr im Mittelpunkt zu stehen wie in den USA, wo die Wähler ihren | |
Präsidenten direkt wählen. Dort können eine mitreißende Rhetorik und | |
Charisma die Wahlen entscheiden. Politisches Spitzenpersonal in Deutschland | |
müsse zwar „nicht zwangsläufig langweilig sein“, sagt Jeff Rathke, Leiter | |
des American Institute for Contemporary German Studies an der Johns Hopkins | |
University in Baltimore. Eine Tendenz dahin sei allerdings durch das | |
politische System bedingt. | |
Deutsche Wahlkampagnen, so Rathke, sind „nicht so sehr um die | |
Persönlichkeit der Spitzenkandidaten herum“ aufgebaut. Die Parteien | |
bestimmten ihre Kandidaten schließlich durch interne Verfahren, nicht durch | |
Vorwahlen wie in den USA. Grundlage der Kampagnen seien daher eher „die | |
kollektiven Interessen und Ziele der Parteimitglieder und erst an zweiter | |
Stelle die ihrer Wähler“. | |
Verglichen dazu werden die Parteien in den USA sehr viel häufiger durch | |
ihre Kandidaten geprägt – so sehr, dass beispielsweise die Republikanische | |
Partei heute Probleme damit hat, zu definieren, wofür sie nach dem [1][Ende | |
der Amtszeit Donald Trumps überhaupt noch steht]. | |
Allerdings: Dieses Jahr hat sich auch in Deutschland etwas in Richtung des | |
amerikanischen Systems verschoben, wenn auch noch sehr langsam. „Das war | |
die erste Persönlichkeitswahl“, sagt Barbara Donovan, Professorin für | |
Politikwissenschaft am Wesleyan College in Connecticut. Ihr | |
Forschungsschwerpunkt ist das deutsche Parteiensystem. | |
## Das Ende des Stammwählers | |
Jeff Rathke stimmt ihr zu: Es gebe in der deutschen Politik tatsächlich | |
einen Trend hin zu „einer größeren Bedeutung der Spitzenkandidaten“, sogar | |
bei Landtagswahlen. Ein Grund dafür, so Donovan, ist die Fragmentierung des | |
Parteiensystems, die sich auch im Ergebnis der Bundestagswahl | |
widergespiegelt hat. „Die Auswahl an Parteien ist mittlerweile größer. | |
Früher gab es mehr Stammwähler, die entsprechend ihrer Familientradition | |
oder ihres sozioökonomischen Status gewählt haben. Heute neigen | |
Wechselwähler dazu, sich stärker mit den Programmen und den Kandidaten zu | |
beschäftigen. Die Wahlentscheidung wird unverbindlicher.“ | |
Der Fokus auf die Spitzenkandidaten sei dieses Jahr aber auch dadurch | |
bedingt gewesen, dass die Amtsinhaberin nicht wieder angetreten ist. So sei | |
die Frage wichtiger geworden, wer [2][geeignet sei, in ihre Fußstapfen zu | |
treten]. „Viele, die für Scholz als Kanzler sind, haben früher Merkel | |
gewählt. Sie waren nicht unbedingt CDU-Anhänger, sondern mochten einfach | |
die Kanzlerin“, sagt Donovan. | |
Trotz der Bedeutungsverschiebung hin zu den Kandidaten blieb der Ton des | |
Wahlkampfs allerdings unverändert langweilig – und das könnte ebenfalls mit | |
Merkel zu tun haben. Ihr Prinzip der „asymmetrischen Demobilisierung“ und | |
ihre typische nüchterne Art waren „16 Jahre lang das Erfolgsrezept für | |
politische Leadership in Deutschland“, sagt Rathke. „Dass jetzt sogar ihre | |
politischen Gegner dieses Rezept übernehmen, beweist nur, wie erfolgreich | |
es war.“ | |
Stellt sich nur die Frage: Wird es dabei bleiben – oder wird sich das | |
deutsche Modell in den nächsten Jahren erneut wandeln? | |
Emma Hurt ist Journalistin aus Atlanta. Als Stipendiatin des Arthur F. | |
Burns Fellowship hat sie die vergangenen Wochen in der taz-Redaktion | |
verbracht und auch für US-Medien über die Bundestagswahl berichtet. | |
10 Oct 2021 | |
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