# taz.de -- Die Wahrheit: Holzfäller und Feinmechaniker | |
> Die Kanadawoche der Wahrheit: So klingt Kanada – ein Streifzug durch | |
> linksliberale Mucke am Lagerfeuer. | |
Bild: Per Anhalter durch die Prärie: Die Wahrheit-Themen-Woche zu Kanada | |
Diese Woche widmet sich die Wahrheit in all seinen großen und kleinen | |
Aspekten Kanada. Denn Kanada ist ob der Coronapandemie erneut Gastland der | |
am Mittwoch beginnenden Frankfurter Buchmesse. | |
Über Kanada, das riesengroße Land auf dem nordamerikanischen Kontinent | |
zwischen dem Kerngebiet der Vereinigten Staaten im Süden und dem | |
US-Bundesstaat Alaska im Norden wissen wir Auswärtigen oft gar nicht so | |
viel, es sei denn, wir hätten die Taschen voller Geld und würden dort | |
demnächst mal Urlaub machen wollen. Über Kanadas Musik wissen wir | |
allerdings oft noch viel weniger, manchmal sogar nichts. | |
Gespräche über die kanadische Musikszene werden deshalb schnell | |
landestypisch still und lieber auf die landschaftlichen Schönheiten des | |
menschenleeren Gebiets zwischen Pazifik und Atlantik umgelenkt, auf die | |
endlosen Wälder, Seen, Berge, Ströme und Wasserfälle, die dort seit | |
Jahrtausenden zu Hause sind. Anschließend bringen diejenigen | |
Individualisten, die dort demnächst mal Urlaub machen wollen, ihr | |
gesammeltes Reiseführerwissen zum Vortrag – weil sie feuchte, menschenleere | |
und teure Destinationen wie Irland, Schottland oder Norwegen stärker | |
schätzen als die überlaufenen Sonnenstrände des globalen Massentourismus. | |
Das ist natürlich vollkommen unfair. Über die US-amerikanische Populärmusik | |
wissen wir so gut wie alles, können aus dem Stegreif stundenlange Referate | |
über den Chicago-Blues, Elvis, den Westcoast-Sound und den frühen | |
Grandmaster Flash halten. Über Kanadas Rock- und Poptraditionen fehlt uns | |
dagegen jedwedes Wissen. | |
## Verbindendes Fast Food | |
Dabei gibt es gerade im Augenblick Hinweise darauf, dass wenigstens ein | |
kulinarischer Zweig der kanadischen Massenkultur im Begriff ist, die Welt | |
zu erobern. „Poutine“ heißt das Fast Food, das dort als Nationalgericht | |
gilt. Es besteht aus Pommes mit Mozzarellakügelchen und Bratensoße, in | |
deutschen Großstädten ist es samstagabends bereits der Lieblingssnack der | |
trinkenden Jugend. So wie sich die amerikanische Popmusik im Gefolge von | |
Hamburger und Milkshake weltweit verbreitete, kann die fettige Poutine in | |
der Folge dem Interesse an kanadischer Musik auf die Sprünge helfen. Das | |
wollen wir uns genauer angucken. Wir setzen uns in den nächsten | |
unökologischen Flieger und sausen rüber nach Kanada. | |
Kanada erscheint uns Auswärtigen oft wie eine zivilisiertere und | |
gleichzeitig ursprünglichere, naturwüchsigere Version der USA. Ja, ja, das | |
stimme so ungefähr, nickt Abigail Li-Bouchard, die wir in Vancouver | |
besuchen, damit sie uns durch die kanadische Musikszene führt. Li-Bouchard | |
ist Ende zwanzig und betreibt einen altmodischen Plattenladen in Vancouver, | |
der einwohnermäßig drittgrößten Stadt des flächenmäßig zweitgrößten La… | |
der Erde. | |
„Den Laden habe ich nur noch aus Steuerspargründen, der ist völlig | |
verstaubt“, lacht sie. „Mein Geld verdiene ich mit dem Vertrieb von | |
Streaming-Abos – Tradition und Moderne eben, typisch Kanada.“ Wir sitzen in | |
ihrer gemütlichen Küche in einem kleinen Blockhaus im Szeneviertel | |
Granville Island, das sich unterhalb der Granville Bridge südlich von | |
Downtown Vancouver befindet. Li-Bouchards Vermieter hatte das uralte | |
Blockhaus aus den Nordwest-Territorien des 18. Jahrhunderts nach Vancouver | |
verschiffen und originalgetreu wieder aufbauen lassen. Die pompösen | |
Stuckdecken wurden allerdings nachträglich von ihr angebracht. „Ich kann | |
nicht leben ohne Stuckdecken“, grinst Li-Bouchard verschämt. „Ich weiß, es | |
ist verrückt, aber das ist wie meine Vorliebe für ausländische Bands, z. B. | |
die Ramones.“ | |
Während uns die spindeldürre Frau in den nachtschwarzen Designerklamotten | |
Canadian Pancakes mit reichlich klebrig-süßherbem Ahornsirup serviert, | |
breitet sie eine voluminöse Landkarte auf dem Kaffeetisch aus und erzählt | |
ganz unvermittelt drauflos: „Die besten Bands stammen von hier. Vancouver | |
ist sowieso viel cooler, multikultureller und schöner als Toronto, die | |
größte Stadt Kanadas. Und in der zweitgrößten Stadt Montreal, der klassisch | |
französischen Metropole, wird fast nur französischer Classic Rock gemacht. | |
Kann man also echt komplett vergessen.“ | |
## Linksliberaler Holzfällerrock | |
Li-Bouchard nippt von ihrem Kaffee, tippt euphorisch auf verschiedene Orte | |
auf der Karte und erklärt: „In Kanada gibt es diese große alte Tradition | |
des Linksliberalismus. Dementsprechend finden wir in den Großstädten | |
überwiegend linksliberalen Radiorock, in den Mittelstädten linksliberalen | |
Progressivrock und in den Wäldern linksliberalen Holzfällerrock. Ausnahme | |
freilich: Ottawa, der Regierungssitz.“ | |
In der Hauptstadt gebe es nämlich wegen der ganzen deprimierenden | |
Bundesbehörden und apathischen Regierungsangestellten keine nennenswerte | |
Musikszene – das sei wie bei uns in Deutschland mit Berlin. Allerdings | |
benötige Ottawa auch keine ausgeflippte Musikszene, da man durch | |
Premierminister Justin Trudeau bereits mit allem popkulturellen Glanz | |
dieser Welt ausgestattet sei. Der ultragutaussehende linksliberale | |
Schöngeist, so wissen wir, kommt väterlicherseits aus einer alten Familie | |
von Premierministern, mütterlicherseits indes direkt aus dem Tross bunter | |
Vögel um angloamerikanische Boomer-Weltstars wie die Rolling Stones, die | |
Grateful Dead und die Manson Family. | |
„Historisch“, fährt Li-Bouchard fort, „gehen alle kanadischen Bands auf | |
Bachman-Turner Overdrive und Rush zurück, Arbeiter die einen, | |
Feinmechaniker die anderen. Die einen eröffnen einen Strang von stumpfem | |
Partyrock, liebenswert und stets eingängig, weil das Land einfach zu wenige | |
Einwohner hat, um sich mit uneingängigen Popsongs herumzuschlagen. Die | |
anderen begründen die berühmte kanadische Progrocktradition, welche | |
hauptsächlich von Rush mit gewiss 100 Tonträgern gefüllt wird. In den | |
Achtzigern kommt noch Bryan Adams hinzu, auch er eher ein eingängiger | |
Partyrocker. Das ist so, weil sich die Bands hier anders kennenlernen als | |
woanders: beim Holzfällen, bei der Elchjagd, auf Fähren über die Buchten, | |
bei gemeinsamen Säge- und Schnitzarbeiten. Danach will man einfach nur noch | |
Party.“ | |
Und was ist, fragen wir vorsichtig, mit einer der am schlechtesten | |
beleumundeten und meistverspotteten Rockbands nicht nur Kanadas, sondern | |
der Welt – mit Nickelback? | |
Aber da endet die vielgepriesene linksliberale Toleranz. Als typisch | |
aufrichtige Kanadierin setzt uns Li-Bouchard ohne viel Federlesens vor die | |
Tür. Jetzt müssen wir wohl erst mal saufen gehen und zwischendurch eine | |
fettige Poutine essen. | |
18 Oct 2021 | |
## AUTOREN | |
Mark-Stefan Tietze | |
## TAGS | |
Die Wahrheit | |
Kanada | |
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2023 | |
Rockmusik | |
Schwerpunkt Angela Merkel | |
Kolumne Die Wahrheit | |
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2023 | |
Kanzlerkandidatur | |
Die Wahrheit | |
Kolumne Die Wahrheit | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: Alträcherin im Regierungsviertel | |
Was macht Angela Merkel jetzt eigentlich? Und wer ist diese maskierte | |
Ninja-Kämpferin aus der Uckermark, die nachts in Berlin unterwegs ist? | |
Die Wahrheit: Voll cringy! | |
In den vergangen Tagen wurde allerorten massiv über Erwachsene gespottet, | |
die Jugendwörter benutzen. Jetzt drehen wir den Spieß mal um. | |
Frankfurter Buchmesse vor Eröffnung: Messe will Virus aussperren | |
Die Frankfurter Buchmesse wird diesmal verändert stattfinden – nur 25.000 | |
Besucher sind täglich erlaubt. Karten gibt es nur im Vorverkauf. | |
Die Wahrheit: Im politischen Auge des Orkans | |
Wahlkampf-Endspurt mit Superkräften: Was treiben die Kandidaten drei Wochen | |
vor der Bundestagswahl? Ein wahrer Realitätscheck. | |
Die Wahrheit: Kehrtwende mit Kreuz und Kugel | |
Die Dämonen, sie sind zurück – und das dank der fahrlässigen Coronapolitik | |
der Regierungen der Oberwelt. | |
Die Wahrheit: Ich, der Konsumidiot | |
Diese heißen Treter aus dem Discounter sind der allerletzte Scheiß. Doof | |
nur, wenn schon andere auf den Trichter gekommen sind. |